19
Es war ein Uhr nachts, als Bosch in seinem Caprice auf den Woodrow Wilson Drive abbog und die lange, kurvenreiche Straße zu seinem Haus hinauffuhr. Von hier oben sah er, wie kreisende Scheinwerfer Doppelschleifen auf die niedrigen Wolken über Universal City zeichneten. Vor Häusern, in denen Parties stattfanden, zwängte er sich an Autos vorbei, die in der zweiten Reihe geparkt waren. An einer Stelle mußte er einem weggeworfenen Weihnachtsbaum mit etwas Lametta ausweichen, den der Wind ihm in den Weg wehte. Auf dem Beifahrersitz lag die letzte Budweiser-Dose aus Cal Moores Kühlschrank und Lucius Porters Waffe.
Sein ganzes Leben hatte er sich abgerackert, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Im Heim, bei den Pflegefamilien, in der Armee, in Vietnam – und jetzt bei der Polizei. Immer hatte er gekämpft, etwas aus seinem Leben zu machen, zu wissen, worauf es ankam. Zu wissen, daß etwas Gutes in ihm steckte. Das Warten war das Schwierigste. Das Warten hatte seine Seele ausgehöhlt. Und er glaubte, daß andere Menschen die Leere in ihm sehen konnten. Mit der Zeit hatte er gelernt, diese Leere mit Zurückgezogenheit und Arbeit zu füllen. Manchmal mit Alkohol und den Klängen eines Jazz-Saxophons. Aber nie mit Menschen. Er ließ niemanden in sein Innerstes eindringen.
Und jetzt hatte er Sylvia Moores Augen gesehen, ihre wahren Augen, und er fragte sich, ob sie es war, die seine Leere ausfüllen konnte.
»Ich will dich sehen«, hatte er gesagt, als sie sich vor dem Fountains trennten.
»Ja«, war alles, was sie gesagt hatte. Sie berührte seine Wange mit ihrer Hand und stieg in den Wagen.
Jetzt versuchte er zu verstehen, was das eine Wort und die Berührung bedeuten könnten. Er war glücklich. Und das war etwas Neues.
Als er um die letzte Kurve bog und langsamer fuhr, um einen Wagen mit aufgeblendetem Fernlicht vorbeizulassen, dachte er daran, wie sie den Bilderrahmen lange betrachtet hatte, bevor sie erklärte, ihn nicht zu kennen. Hatte sie gelogen? Wie wahrscheinlich war es, daß Cal Moore einen so teuren Rahmen gekauft hatte, nachdem er in diese Bruchbude gezogen war? Nicht sehr, lautete die Antwort.
Als er seinen Wagen geparkt hatte, schossen ihm bereits widerstreitende Fragen und Gefühle durch den Kopf. Was war auf dem Bild gewesen? Spielte es eine Rolle, daß sie etwas verschwiegen hatte? Falls sie das getan hatte. Er nahm die Bierdose vom Nebensitz und trank sie hastig aus. Ein paar Tropfen rannen ihm am Hals hinunter. In dieser Nacht würde er bestimmt schlafen.
Im Haus ging er zuerst in die Küche und legte Porters Pistole in ein Schränkchen. Sein Anrufbeantworter zeigte keine Nachrichten an. Keine Nachricht von Porter, warum er weggerannt war. Kein Anruf von Pounds, um zu fragen, ob er vorankam. Irvin hatte sich auch nicht gemeldet, um ihm zu sagen, daß er ihm auf die Schliche gekommen sei.
Nachdem er zwei Nächte kaum geschlafen hatte, freute sich Bosch aufs Bett wie selten zuvor. Er hatte sich an eine gewisse Abfolge gewöhnt. Nach Nächten mit flüchtigem Schlaf und Alpträumen fiel er schließlich aus Erschöpfung in einen tiefen, schwarzen Schlummer.
Als er im Bett lag, merkte er, daß die Laken und Kissen noch den leichten Geruch von Teresa Corazóns Parfum ausströmten. Er schloß die Augen und dachte an sie. Ihr Bild wurde jedoch schnell vom Gesicht Sylvia Moores verdrängt. Nicht von ihrem Foto aus der Papiertüte oder auf dem Nachttisch, sondern von ihrem wirklichen Gesicht. Desillusioniert, aber intensiv richteten sich ihre Augen direkt auf seine.
Der Traum war wie viele andere, die Harry gehabt hatte. Er befand sich an einem dunklen Ort. Eine schwarze Höhle umgab ihn, und sein Atem hallte in der Dunkelheit wider. Er fühlte wie immer in seinen Träumen, daß die Dunkelheit irgendwo vor ihm endete und daß er die Stelle erreichen mußte. Aber diesmal war er nicht allein, und das war etwas Neues. Er war mit Sylvia zusammen. Sie hielten sich in der Dunkelheit umschlungen, und Schweiß brannte in ihren Augen. Harry hielt sie, sie hielt ihn, und sie sprachen nicht.
Sie lösten ihre Umarmung und begannen sich durch die Dunkelheit zu bewegen. Vor ihnen war ein schwaches Licht zu sehen, auf das Harry zuhielt. Seine linke Hand mit der Smith & Wesson hatte er nach vorne ausgestreckt, an der rechten Hand führte er sie hinter sich her. Als sie sich dem Licht näherten, stand Calexico Moore dort mit dem Schrotgewehr. Er versteckte sich nicht. Das Licht, das hinter ihm in den Gang strömte, zeichnete seine Silhouette. Seine grünen Augen wurden vom Schatten verborgen. Er lächelte und legte dann die Schrotflinte an.
»Wer hat Scheiße gebaut?« sagte er.
Der Knall war ohrenbetäubend in der Dunkelheit. Bosch sah, wie Moores Hände vom Gewehr in die Luft geschleudert wurden, wie angekettete Vögel, die wegzufliegen versuchten. Er stolperte unkontrolliert rückwärts in die Dunkelheit und war weg. Nicht gefallen, sondern verschwunden. Nur das Licht am Ende des Ganges blieb zurück. Mit der einen Hand hielt Harry immer noch Sylvias Hand, mit der anderen den rauchenden Revolver.
Bosch öffnete die Augen. Er saß aufrecht im Bett. Graues Licht drang durch die Lücken der Vorhänge an den Ostfenstern. Der Traum schien kurz gewesen zu sein, am Licht merkte er jedoch, daß er bis zum Morgen geschlafen hatte. Er hielt sein Handgelenk hoch und schaute auf die Uhr. Einen Wecker besaß er nicht, weil er nie einen brauchte. Es war sechs Uhr. Er rieb sich das Gesicht mit den Händen und versuchte, den Traum zu rekonstruieren. Das war ungewöhnlich für ihn. Eine Therapeutin von der Schlafstörungsberatung im Veteranenhospital hatte ihm einmal empfohlen, seine Träume aufzuschreiben. Es sei eine Übung, mit der man dem Bewußtsein mitteile, was das Unterbewußtsein sagen wolle. Monatelang legte er ein Notizheft und einen Stift neben das Bett und schrieb pflichtschuldig auf, woran er sich morgens erinnern konnte. Aber er stellte fest, daß es ihm nicht half. Ganz egal, wie gut er die Ursachen seiner Alpträume verstand, er konnte sie nicht aus seinem Schlaf verdrängen. Er war schon seit Jahren nicht mehr zur Schlaftherapie gegangen.
Jetzt konnte er die Traumbilder nicht wieder herstellen. Sylvias Gesicht verschwamm. Harry merkte, daß er stark geschwitzt hatte. Er stand auf, zog die Laken ab und warf sie in den Wäschekorb. Dann ging er in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und begab sich ins Badezimmer, um zu duschen und sich zu rasieren. Nachdem er seine Reisekleidung, Bluejeans, ein grünes Kordhemd und ein schwarzes Jackett, angezogen hatte, ging er in die Küche und goß den schwarzen Kaffee in seine Thermosflasche.
Das erste, was er im Wagen verstaute, war seine Waffe. Er entfernte die Matte, mit der der Kofferraum ausgelegt war, und nahm den Ersatzreifen sowie den Wagenheber heraus. Dann legte er seine Smith & Wesson, die er aus dem Halfter gezogen und in ein Öltuch gewickelt hatte, in die Vertiefung und schob das Rad darüber. Nachdem er die Matte wieder eingepaßt und den Wagenheber nach hinten gelegt hatte, lud er noch eine Reisetasche mit Kleidung zum Wechseln und seine Aktentasche in den Kofferraum. Es sah unverdächtig aus; allerdings bezweifelte er, daß überhaupt jemand nachsehen würde.
Er ging wieder ins Haus und holte seinen anderen Revolver aus dem Wandschrank im Flur. Es war ein Vierundvierziger mit Griff und Sicherungshebel für einen Rechtshänder. Der Zylinder öffnete sich nach links. Bosch war Linkshänder und konnte ihn nicht benutzen, aber er hatte ihn seit sechs Jahren behalten, weil er das Geschenk eines Mannes war, dessen Tochter vergewaltigt und ermordet worden war. Bosch hatte den Mörder während eines kurzen Schußwechsels bei der Verhaftung am Sepulveda-Damm in Van Nuys angeschossen. Der Mörder überlebte und saß nun ohne Möglichkeit, auf Bewährung entlassen zu werden, lebenslänglich im Gefängnis. Aber für den Vater war das nicht genug. Nach dem Prozeß hatte er Bosch die Waffe überreicht, und Bosch hatte sie nicht ablehnen können, weil er dann den Schmerz des Mannes nicht anerkannt hätte. Was er Harry damit hatte sagen wollen, war klar: Mach es das nächste Mal richtig. Schieße, um zu töten. Harry nahm den Revolver und hätte ihn für sich umändern lassen können. Allerdings hätte er damit dem Vater recht gegeben. Harry war sich nicht sicher, ob es mit ihm schon so weit war.
Die Waffe hatte sechs Jahre auf dem Regal im Wandschrank gelegen. Jetzt nahm er sie in die Hand und prüfte, ob sie noch in Ordnung war. Dann lud er sie und steckte sie in sein Halfter. Er war bereit zu fahren.
In der Küche griff er nach der Thermosflasche und beugte sich über den Anrufbeantworter, um eine neue Meldung aufzunehmen.
»Bosch hier. Ich werde übers Wochenende in Mexiko sein. Falls Sie eine Nachricht hinterlassen wollen, warten Sie einen Moment. Falls es dringend ist, können Sie mich im De Anza Hotel in Calexico erreichen.«
Es war noch nicht sieben, als er nach Süden fuhr. Er nahm den Hollywood Freeway, bis er Downtown mit den Bürotürmen, die von Frühnebel und Smog umhüllt waren, passiert hatte. Über die Zubringerstraße kam er auf den San Bernadino Freeway und fuhr jetzt Richtung Osten aus der Stadt heraus. Es waren 250 Meilen bis zur Grenze und den Schwesterstädten Calexico und Mexicali. Er würde vor Mittag dort sein. Er goß sich Kaffee in einen Becher, ohne etwas zu verschütten, und genoß die Fahrt.
Der Smog klärte sich nicht bis zur Abfahrt nach Yucaipa in Riverside County. Danach färbte sich der Himmel so blau wie der Ozean auf den Karten, die neben ihm lagen. Es war ein windstiller Tag. Als er an der Windmühlenfarm in der Nähe von Palm Springs vorbeifuhr, sah er Hunderte von Rotoren, die starr im Morgendunst der Wüste standen. Es sah unheimlich aus, wie ein Friedhof, und er wandte seinen Blick ab.
Bosch fuhr, ohne zu halten, durch die noblen Wüstenorte Palm Springs und Rancho Mirage. Vorbei an Straßen, die nach golfspielenden Präsidenten und Stars benannt waren. Als er am Bob Hope Drive vorbeifuhr, erinnerte er sich an einen Auftritt des Komikers in Vietnam. Bosch war gerade von einer Säuberungsaktion der Vietkong-Tunnels in der Provinz Cu Chi zurückgekehrt und fand Hope wahnsinnig witzig. Jahre später sah er einen Ausschnitt der gleichen Show in einer Fernsehretrospektive, und Traurigkeit überkam ihn. Nach Rancho Mirage bog er auf die Route 86 ab und fuhr geradeaus nach Süden.
Auf einer Landstraße irgendwohin zu fahren, erfüllte ihn immer wieder mit Begeisterung, dem Gefühl, etwas Neues und Unbekanntes zu sehen. Er glaubte auch, daß er auf solchen Fahrten am besten nachdenken konnte. In Gedanken wiederholte er seine Durchsuchung von Moores Apartment und achtete auf versteckte Hinweise. Die ramponierten Möbel, der leere Koffer, das einzelne Pornoheft, der leere Rahmen. Moore hatte eine rätselhafte Geschichte zurückgelassen. Ihm fiel wieder die Tüte mit den Fotos ein. Sylvia hatte ihren Entschluß geändert und sie mitgenommen. Bosch wünschte, er hätte sich das Foto der zwei Jungen und das von Vater und Sohn ausgeliehen.
Bosch besaß keine Fotos von seinem eigenen Vater. Sylvia gegenüber hatte er gesagt, daß er ihn nicht gekannt hatte, aber das war nur teilweise wahr. Er wuchs auf, ohne ihn zu kennen und ohne sich, zumindest äußerlich, für ihn zu interessieren. Aber als er vom Krieg zurückkam, hatte er ein dringendes Bedürfnis, etwas über seine Herkunft zu erfahren, und er begann nach seinem Vater zu suchen, von dem er zwanzig Jahre lang nicht einmal den Namen gekannt hatte.
Harry war in einer Reihe von Heimen und bei Pflegefamilien aufgewachsen, nachdem die Behörden seiner Mutter die Erziehungsberechtigung entzogen hatten. Im McClaren, im San Fernando oder in den anderen Heimen trösteten ihn die Besuche seiner Mutter, die nur ausfielen, wenn sie im Gefängnis war. Sie versicherte ihm, daß er nicht ohne ihre Zustimmung zu einer Pflegefamilie kommen konnte. Sie habe einen guten Anwalt, hatte sie gesagt, und werde versuchen, ihn zurückzubekommen.
An dem Tag, als ihm die Hausmutter im McClaren mitteilte, daß es keine Besuche mehr gebe, weil seine Mutter tot sei, nahm er die Nachricht anders als die meisten Zwölfjährigen auf. Nach außen ließ er sich nichts anmerken. Er nickte, daß er verstanden habe, und ging. Aber während der Schwimmstunde an diesem Tag tauchte er am tiefen Ende auf den Boden und schrie so laut und lange, daß er glaubte, der Lärm würde zur Oberfläche dringen und vom Bademeister gehört werden. Er tauchte so lange auf, um Luft zu holen, und wieder unter, um zu schreien, bis er sich total erschöpft an der Leiter am Beckenrand festhalten mußte. Die kalten Stahlrohre hielten ihn wie liebende Arme. Irgendwie wünschte er sich, er hätte bei ihr sein können. Das war alles. Er wollte nur, daß er sie hätte beschützen können.
Danach wurde er als FzA eingestuft. Freigegeben zur Adoption. Er durchlief eine Reihe von Pflegefamilien, bei denen er sich vorkam, als hätte man ihn für eine Probefahrt ausgeliehen. Wenn sich die Erwartungen nicht erfüllten, wurde er zur nächsten Familie und zur nächsten Jury weitergereicht. Einmal wurde er ins McClaren zurückgeschickt, weil er die Angewohnheit hatte, mit offenem Mund zu essen. Ein anderes Mal wurde er mit einer Gruppe von Dreizehnjährigen zu einer Familie ins San Fernando Valley geschickt. Harry und die anderen mußten auf den Sportplatz und einen Baseball hin und her werfen. Die Auswähler, so nannten die FzAs potentielle Pflegeeltern, entschieden sich für Harry. Bald stellte er fest, daß sie ihn nicht etwa genommen hatten, weil er dem Klischeebild eines richtigen Jungen entsprach, sondern weil sein Pflegevater einen Linkshänder wollte. Er hatte den Plan, einen Profi-Baseballspieler aus ihm zu machen, und Linkshänder waren gesucht und teuer. Nach zwei Monaten täglichen Trainings, Wurflektionen und theoretischen Unterrichts lief Harry weg. Es dauerte sechs Wochen, bis er von der Polizei auf dem Hollywood Boulevard aufgegriffen und zurück ins McClaren geschickt wurde, wo er auf die nächsten Auswähler wartete. Man mußte immer gerade stehen und lächeln, wenn sie durchs Heim gingen.
Die Suche nach seinem Vater begann er auf dem County-Standesamt. Auf der Geburtsurkunde von Hieronymus Bosch, geboren 1950 im Queen of Angels Hospital, stand unter dem Namen der Mutter Margerie Philips Lowe und unter dem des Vaters sein eigener: Hieronymus Bosch. Harry wußte natürlich, daß das nicht stimmte. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, daß sie ihn nach einem Künstler benannt habe, dessen Werk sie bewundere. Die fünfhundert Jahre alten Gemälde des Malers seien mit ihren Alptraumlandschaften, den Bösewichtern und Opfern ein genaues Abbild des gegenwärtigen Los Angeles. Den wahren Namen seines Vaters würde sie ihm zur geeigneten Zeit sagen. Bevor die Zeit dafür kam, wurde sie in einer Gasse hinter dem Hollywood Boulevard tot aufgefunden.
Harry nahm sich einen Anwalt und bat beim Vorsitzenden Richter des Vormundschaftsgerichts um Einsicht in seine Akten. Seinem Antrag wurde stattgegeben, und Bosch verbrachte mehrere Tage im Archiv des Standesamts. Die umfangreiche Akte dokumentierte den vergeblichen Kampf seiner Mutter, das Sorgerecht zu behalten. Es war ein tröstender Beweis ihrer Liebe, aber den Namen seines Vaters fand er nirgends. Bosch war in eine Sackgasse geraten, notierte sich jedoch den Namen des Anwalts, der für seine Mutter gearbeitet hatte: J. Michael Haller. Beim Aufschreiben wurde ihm bewußt, daß er den Namen kannte. Mickey Haller war einer der bekanntesten Strafverteidiger in L. A. gewesen. Er hatte eines der Manson-Mädchen verteidigt. Ende der fünfziger Jahre hatte er einen Freispruch herausgeschlagen für den Highway-Mann, einen Polizisten, der angeklagt war, sieben Frauen vergewaltigt zu haben, nachdem er sie wegen zu schnellen Fahrens auf abgelegenen Abschnitten der Golden State Highway gestoppt hatte. Was machte J. Michael Haller in einem Sorgerechtsfall?
Wegen nichts mehr als einer vagen Ahnung begab sich Bosch ins Gebäude des Strafgerichts und ließ sich alle Prozeßakten seiner Mutter aus dem Archiv holen. Bei der Durchsicht stellte er fest, daß Haller seine Mutter außer vor dem Vormundschaftsgericht zwischen 1948 und 1961 sechsmal nach Festnahmen wegen Herumlungerns – ein Gummiparagraph, der meistens gegen Prostituierte angewandt wurde – vertreten hatte. Also bis in eine Zeit, wo er auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand.
Intuitiv begriff Harry.
Die Empfangsdame in der Anwaltskanzlei auf der obersten Etage eines Hochhauses am Pershing Square teilte ihm mit, daß Haller vor kurzem aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand getreten sei. Hallers Adresse stand nicht im Telefonbuch, aber auf der Wählerliste. Er war als Demokrat eingetragen und wohnte am Canon Drive in Beverly Hills. Die Rosenbüsche, die den Gehweg zur Villa seines Vaters säumten, würde Harry nie vergessen. Sie waren perfekt.
Das Dienstmädchen, das die Tür öffnete, erklärte ihm, daß Mr. Haller keine Besucher empfange. Bosch bat sie, ihm auszurichten, daß Margerie Lowes Sohn sich gerne vorstellen würde. Zehn Minuten später wurde er an Familienmitgliedern vorbeigeführt, die im Hausflur herumstanden und eigenartige Gesichter zogen. Der alte Mann hatte sie aus seinem Zimmer geschickt und angewiesen, daß man ihn alleine hereinschicken solle. Als Harry vor dem Bett stand, sah er, daß der Rechtsanwalt kaum noch achtzig Pfund wog. Es war nicht nötig zu fragen, was ihm fehle. Der Krebs hatte ihn fast völlig ausgezehrt.
»Ich denke, ich weiß, warum du gekommen bist«, krächzte er.
»Ich wollte nur … Ich weiß nicht.« Für eine Weile stand er da und schwieg. Er sah, welche Anstrengung es dem Mann allein kostete, die Augen aufzuhalten. Ein Schlauch ging von einem Kasten neben dem Bett unter die Decke. Ab und zu piepte er, wenn schmerzstillendes Morphium in die Blutbahn des sterbenden Mannes gepumpt wurde. Der alte Mann betrachtete ihn schweigend.
»Ich will nichts von dir«, sagte Bosch endlich. »Ich weiß nicht … Ich glaube, ich wollte dir zeigen, daß ich mich durchgeboxt hatte. Mir geht es okay. Falls du dir darüber mal Sorgen gemacht hast.«
»Warst du im Krieg?«
»Ja, das habe ich hinter mir.«
»Mein Sohn, mein anderer Sohn, er … Ich habe ihn davor bewahrt. Was wirst du jetzt tun?«
»Ich weiß nicht.«
Nach einer Pause schien der alte Mann zu nicken. Er sagte: »Du heißt Harry. Deine Mutter hat es mir erzählt. Sie hat viel von dir geredet … Aber ich konnte nie … Verstehst du? Es war eine andere Zeit. Und nachdem es so lange so gegangen war, konnte ich nicht … Ich konnte es nicht mehr in Ordnung bringen.«
Bosch nickte. Er war nicht gekommen, um dem Mann noch mehr Schmerzen zu bereiten. Sie schwiegen wieder, und er hörte das angestrengte Atmen.
»Harry Haller«, flüsterte der alte Mann, ein trauriges Lächeln auf den dünnen Lippen, die sich von der Chemotherapie häuteten. »Das hättest du sein können. Hast du mal Hesse gelesen?«
Bosch verstand nicht, nickte aber. Es piepte wieder. Er wartete eine Minute, bis die Dosis zu wirken schien. Der alte Mann schloß die Augen und seufzte.
»Ich geh’ jetzt besser«, sagte Harry. »Alles Gute.«
Er berührte die zerbrechliche, bläuliche Hand des Mannes. Sie drückte seine Finger, fast verzweifelt, und ließ dann los. Als er zur Tür ging, hörte er den alten Mann krächzen.
»Entschuldigung, was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, ich habe … ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
Eine Träne lief dem alten Mann an der Seite in sein weißes Haar. Bosch nickte noch einmal. Zwei Wochen später stand er auf einem kleinen Hügel auf dem Forest Lawn Friedhof und schaute zu, wie sie seinen Vater beerdigten. Am Grab stand eine Gruppe von Leuten, von denen er annahm, daß es sein Halbbruder und seine drei Halbschwestern waren. Sein Halbbruder, wahrscheinlich ein paar Jahre älter als er, beobachtete ihn während der Zeremonie. Am Ende drehte sich Bosch um und ging.
Kurz vor zehn hielt Bosch an einem Rasthaus, das sich El Oasis Verde nannte, und aß Huevos Rancheros, mexikanische Spiegeleier mit Tomatensalsa. Sein Tisch war an einem Fenster, von dem man die blau-weiße Fläche der Salton Sea sehen konnte und weiter im Osten die Chocolate Mountains. Bosch versank schweigend in die Betrachtung der Weite und Schönheit der Landschaft. Nachdem er mit dem Frühstück fertig war und die Kellnerin Kaffee in seine Thermosflasche gefüllt hatte, lehnte er sich draußen gegen den Kotflügel seines Caprice und genoß noch einmal für einige Momente die kühle, saubere Luft und das Panorama.
Sein Halbbruder war jetzt ein erfolgreicher Strafverteidiger, und er war Cop. Es gab eine Art Symmetrie ihrer Lebensläufe, die ihm gefiel. Sie hatten nie miteinander gesprochen und würden es wohl auch nie tun.
Auf der 86, die die Ebene zwischen der Salton Sea und den Santa Rosa Mountains überquerte, fuhr er weiter südlich durchs Imperial Valley, das allmählich unter Meeresspiegelhöhe fiel. Links und rechts befanden sich Felder, die von Bewässerungsgräben in riesige Rechtecke unterteilt waren, und der Geruch von Dünger und frischem Gemüse drang in den Wagen. Lkws, beladen mit Salat, Spinat oder Cilantro, fuhren von den Feldwegen vor ihm auf die Landstraße, so daß er immer wieder abbremsen mußte. Es machte ihm jedoch nichts aus, und er wartete geduldig, bis er überholen konnte.
In der Nähe der Stadt Vallecito parkte Bosch am Straßenrand, um eine Düsenjägerstaffel zu beobachten, die über einen Berg im Südwesten herübergedonnert kam. Sie überquerten die 86 und flogen über die Salton Sea. Bosch hatte keinerlei Ahnung von modernen Militärjets. Sie waren jetzt schneller und aerodynamischer als die Maschinen, die er aus Vietnam kannte. Aber sie waren niedrig geflogen, so daß er unter den Flügeln ihre tödliche Ladung erkennen konnte. Er sah, wie die drei Flugzeuge sich seitlich drehten und in einem engen Wendemanöver wieder Kurs auf den Berg nahmen. Nachdem sie über ihn hinweggeflogen waren, nahm er seine Karten und sah eingezeichnete Vierecke im Südwesten, die als Sperrgebiet gekennzeichnet waren. Es war das Übungsgelände der Marineflieger am Superstition Mountain. Auf der Karte stand, daß auf dem Gebiet scharfe Bomben abgeworfen wurden. Betreten verboten.
Bosch fühlte, wie eine dumpfe Vibration den Wagen leicht wiegte, dann folgte ein Donner. Er sah auf und glaubte, eine Rauchwolke aufsteigen zu sehen. Dann fühlte und hörte er, wie noch eine Bombe aufschlug. Und noch eine.
Als die Jets, deren silberne Körper wie Diamanten in der Sonne funkelten, wieder über ihn hinwegflogen, um einen neuen Bombenangriff zu starten, fuhr Bosch hinter einem Lkw wieder auf die Landstraße. Auf der Ladefläche saßen zwei Teenager, mexikanische Feldarbeiter, die Bosch teilnahmslos ansahen. Ihre ermüdeten Augen schienen anzuzeigen, daß sie wußten, was für ein langes, schweres Leben vor ihnen lag. Sie waren ungefähr so alt wie die zwei Jungen auf dem Foto am Picknicktisch.
Ein paar Augenblicke später konnte er den Lkw überholen und beschleunigte. Noch eine Weile hört er Explosionen vom Superstition Mountain. Er kam an Farmen vorbei, kleinen Restaurants, die von Familien betrieben wurden, und an einem gigantischen Silo einer Zuckerraffinerie, an dem oben mit einer gemalten Linie die Höhe des Meeresspiegels markiert war.
Im Sommer nach dem Gespräch mit seinem Vater besorgte sich Bosch Hesses Romane. Er wollte wissen, was der alte Mann gemeint hatte. Er fand es im zweiten Buch, das er las. Harry Haller war eine Figur darin. Ein desillusionierter Einzelgänger, ein Mann ohne wirkliche Identität. Harry Haller war der Steppenwolf.
Im August fing Bosch bei der Polizei an.
Er glaubte zu fühlen, wie das Gelände anstieg. Die Felder verschwanden, statt dessen war jetzt braunes Strauchwerk zu sehen, und auf der weiten Ebene stiegen Staubsäulen auf. Seine Ohren knackten, als er immer höher hinauf fuhr. Und er wußte, daß er sich der Grenze näherte, lange bevor er das grüne Schild mit dem Hinweis sah, daß es nur noch zwanzig Meilen bis Calexico waren.