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Willkommen stand auf der Fußmatte vor der Haustür, aber sie war abgetreten, und es war schon lange her, daß jemand den Staub aus ihr geklopft hatte. Bosch nahm dies alles wahr, da er den Kopf gesenkt hielt, nachdem er angeklopft hatte. Ihm war bewußt, daß er es vorzog, irgendeinen Gegenstand zu betrachten, als dieser Frau ins Gesicht zu sehen. Ihre Stimme antwortete nach dem zweiten Klopfen.
»Gehen Sie weg! Kein Kommentar.«
Bosch mußte lächeln; heute abend hatte er die gleiche Phrase gebraucht.
»Hallo, Mrs. Moore? Ich bin kein Reporter. Ich bin von der Polizei in Los Angeles, LAPD.«
Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ihr Gesicht zeigte sich. Das Licht kam von hinten, und Schatten verbargen ihre Züge. Bosch sah die Vorhängekette, die sich über die Öffnung spannte. Das Etui mit der Dienstmarke hatte er schon parat und geöffnet.
»Ja?«
»Mrs. Moore?«
»Ja?«
»Mein Name ist Harry Bosch. Hm, ich bin Detective, LAPD, und man hat mich geschickt … Könnte ich reinkommen? Ich muß … Ihnen ein paar Fragen stellen und Sie über – hm – gewisse Entwicklungen …«
»Sie sind zu spät. Ich hatte schon Kanal 4 und 5 und 9 hier. Als Sie klopften, dachte ich, Sie sind jemand anders. Zwei oder sieben. Sonst fällt mir niemand mehr ein.«
»Darf ich reinkommen, Mrs. Moore?«
Er steckte die Dienstmarke weg. Sie drehte den Schlüssel, und er hörte, wie die Kette herausgezogen wurde. Die Tür öffnete sich, und mit einer Armbewegung bat sie ihn hereinzukommen. Er betrat einen Eingangsflur mit rostfarbenen mexikanischen Fliesen. In einem runden Wandspiegel sah er, wie sie die Tür wieder abschloß. In der Hand hielt sie ein Papiertaschentuch.
»Wird es lange dauern?« fragte sie.
Er verneinte, und sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo sie sich auf einem großen, braunen Ledersessel niederließ. Er sah sehr bequem aus und stand neben einem offenen Kamin. Sie deutete auf eine Couch gegenüber dem Kamin. Das war der Platz für Gäste. Im Kamin glühte noch der letzte Rest eines erloschenen Feuers. Auf dem Tisch neben ihrem Sessel stand eine Schachtel mit Taschentüchern und ein Stapel Papiere. Sie sahen aus wie Hausarbeiten oder Manuskripte, einige steckten in Plastikhüllen.
»Lektüreberichte.« Sie hatte seinen Blick bemerkt. »Meine Schüler mußten Bücher beschreiben, die Hausarbeit war vor den Weihnachtsferien abzugeben. Es war meine erste Weihnacht alleine, und ich wollte sicher sein, daß ich etwas zu tun hatte.«
Bosch nickte. Er erinnerte sich, daß er irgendwo gelesen oder gehört hatte, daß sie Lehrerin war. Er sah sich im Zimmer um. In seinem Beruf erfuhr er viel über Menschen von den Räumen, in denen sie lebten. Oft konnten die Personen ihm selbst nichts mehr erzählen. Also ließ er die Zimmer sprechen und hörte zu. Er war der Ansicht, daß er ein Talent dafür hatte.
Der Raum, in dem sie saßen, war spärlich eingerichtet. Wenig Möbel. Es sah nicht aus, als ob oft Freunde oder Verwandte zu Besuch hier wären. An einem Ende des Raums befand sich ein großes Regal mit Hard-cover-Büchern und großformatigen Kunstbänden. Kein Fernseher. Nichts deutete auf Kinder hin. Ein Ort, um in Ruhe zu arbeiten oder sich am Kaminfeuer zu unterhalten.
Nicht mehr.
In der Ecke gegenüber dem Kamin stand ein anderthalb Meter großer Weihnachtsbaum mit weißen Kerzen, roten Kugeln und selbstgebasteltem Schmuck, der aussah, als wäre er über Generationen vererbt worden. Es gefiel ihm, daß sie den Baum alleine aufgestellt hatte. Sie führte ihr Leben und ihre Gewohnheiten inmitten der Trümmer ihrer Ehe fort. Den Baum hatte sie allein für sich aufgestellt. Ihm wurde bewußt, wie stark sie war. Schmerz und vielleicht Einsamkeit bildeten für sie einen Schutzpanzer, aber er empfand auch ihre Stärke. Der Baum zeigte, daß sie dies überleben würde, daß sie da durchkommen würde. Alleine. Er wünschte, er könnte sich an ihren Namen erinnern.
»Bevor Sie anfangen«, sagte sie, »darf ich Sie etwas fragen?«
»Sicher.«
»War das Absicht? Zuerst die Reporter kommen lassen, damit Sie nicht die Dreckarbeit tun müssen? Mein Mann hat das so genannt. Die Familie benachrichtigen. Er nannte es die Dreckarbeit – meinte, Detectives versuchten immer, sich davor zu drücken.«
Bosch fühlte, wie ihm heiß wurde. Über dem Kaminsims hing eine Uhr, die jetzt in der Stille sehr laut zu ticken schien. Endlich brachte er etwas heraus: »Ich bekam den Auftrag erst vor kurzem. Ihr Haus war schwer zu finden. Ich …«
Er brach ab. Sie wußte.
»Es tut mir leid. Sie haben recht. Ich habe mir Zeit gelassen.«
»Ist okay. Ich hätte Sie nicht in Verlegenheit bringen sollen. Es muß schrecklich sein, so etwas tun zu müssen.« Bosch hätte gern einen Fedora gehabt, wie die Detectives in den alten Filmen. Er könnte ihn in der Hand halten, nervös damit rumspielen, über die Krempe streichen – er hätte etwas zu tun. Beim näheren Hinsehen bemerkte er, daß sie schon ein bißchen von ihrer Schönheit eingebüßt hatte. Mitte dreißig, dachte er, braunes Haar und blonde Strähnchen, gelenkig wie eine Läuferin. Ein kräftiges Kinn über straffen Halsmuskeln. Sie benutzte kein Make-up, um die kleinen Fältchen unter den Augen zu verbergen. Sie trug Bluejeans und ein weites, weißes Sweatshirt, das vielleicht einmal ihrem Mann gehört hatte. Bosch fragte sich, wieviel sie noch von Calexico Moore in ihrem Herzen trug.
Tatsächlich bewunderte Harry sie, wie sie sich mit ihm wegen der »Dreckarbeit« angelegt hatte. Er hatte es verdient.
In den drei Minuten, die er sie kannte, war ihm durch den Kopf gegangen, daß sie ihn an jemand erinnerte. Vielleicht jemand aus seiner Vergangenheit. Neben ihrer Stärke ging eine ruhige Empfindsamkeit von ihr aus. Seine Augen wurden immer wieder magnetisch von ihren angezogen.
»Also, ich bin Detective Harry Bosch«, begann er noch einmal, darauf hoffend, daß sie ihm ihren Namen sagen würde.
»Ja, ich habe von Ihnen gehört. Ich erinnere mich an die Zeitungsartikel. Und ich bin sicher, mein Mann hat Sie erwähnt – wahrscheinlich, als Sie zum Hollywood-Bezirk versetzt wurden. Vor einigen Jahren. Er sagte, daß eines der Studios Ihnen viel Geld für die Filmrechte Ihres Falls gezahlt habe und daß Sie sich davon eines der Häuser in den Hügeln gekauft hätten.«
Bosch nickte widerwillig und wechselte das Thema.
»Ich weiß nicht, was die Reporter Ihnen erzählt haben, Mrs. Moore. Man hat mich geschickt, um Sie zu informieren, daß man anscheinend Ihren Mann gefunden hat und daß er tot ist. Es tut mir leid, es Ihnen so mitteilen zu müssen. Ich …«
»Ich habe es gewußt, genau wie Sie und jeder Polizist in L. A., daß es so enden würde. Ich habe nicht mit den Reportern gesprochen. Es war nicht nötig. ›Kein Kommentar‹, das war alles. Wenn so viele von denen am Heiligabend vor der Tür erscheinen, können es nur schlechte Nachrichten sein.«
Er nickte und schaute auf den imaginären Hut in seinen Händen.
»Also sagen Sie es mir? War es offiziell Selbstmord? Hat er ein Gewehr benutzt?«
Bosch nickte und sagte dann: »Es sieht so aus, aber es steht noch nicht fest, bis …«
»Bis zur Autopsie. Ich weiß, ich bin mit einem Polizisten verheiratet. Das heißt, war. Mir ist klar, was Sie sagen können und was nicht. Nicht einmal mir können Sie die volle Wahrheit sagen. Bis dahin gibt es Sachen, die Sie geheimhalten müssen.«
Zorn stieg ihr in die Augen; ihr Ausdruck verhärtete sich. »Das ist nicht wahr, Mrs. Moore. Ich versuche bloß, es Ihnen so schonend …«
»Detective Bosch, wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann tun Sie’s!«
»Ja, Mrs. Moore, es war ein Gewehr. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen alle Details schildern. Ihr Mann – falls es Ihr Mann war – hat sich mit einer Schrotflinte das Gesicht weggeschossen. Es wurde ganz zerfetzt. Also müssen wir uns vergewissern, daß er es war und daß er sich selbst erschossen hat, bevor wir irgend etwas mit Sicherheit sagen können. Wir versuchen nichts geheimzuhalten. Es ist nur so, daß wir noch nicht alle Antworten haben.«
Sie lehnte sich im Sessel zurück, weg vom Licht. Im Schleier der Schatten nahm Bosch ihren Blick wahr. Die Härte und der Zorn in ihren Augen waren fast verschwunden. Ihre Schultern schienen locker zu werden. Er schämte sich.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzählt habe. Ich hätte einfach …«
»Das ist okay. Ich habe es verdient … Ich muß mich auch entschuldigen.«
Sie sah ihn ohne Zorn an. Er war durch ihren Schutzpanzer gedrungen. Es war ihr anzusehen, daß sie jemanden brauchte. Das Haus war zu groß und zu dunkel, um jetzt dort allein zu sein. Alle Weihnachtsbäume und Schulhefte in der Welt würden das nicht ändern. Aber nicht nur das schien Bosch hier festzuhalten. Er fühlte sich instinktiv zu ihr hingezogen. Für ihn hatte nie gegolten, daß Gegensätze sich anziehen. In seinem Fall war das Gegenteil wahr. Er hatte immer etwas von sich in den Frauen entdeckt, die ihn anzogen. Den Grund hatte er nie begriffen. Es war einfach so. Wie bei dieser Frau, deren Namen er nicht kannte, deren Anziehungskraft er jedoch spürte. Vielleicht erkannte er sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse in ihr wieder. Aber es war da. Er war gefesselt, und er wollte erfahren, was die Ringe unter diese scharfen Augen gezeichnet hatte. Wie er trug sie ihre Narben innen, tief vergraben, jede ein Geheimnis. Sie war wie er, das wußte er.
»Leider weiß ich Ihren Namen nicht. Der Deputy Chief hat mir nur die Adresse gegeben und mich dann losgeschickt.« Sie lächelte über sein Dilemma.
»Sylvia.«
Er nickte.
»Sylvia. Hm, ist das möglicherweise Kaffee, was ich rieche?«
»Ja, möchten Sie eine Tasse?«
»Das wäre prima, wenn es nicht zu viel Mühe macht.«
»Überhaupt nicht.«
Sie stand auf, und wie sie an ihm vorbeiging, verschwanden seine Zweifel.
»Entschuldigen Sie. Vielleicht sollte ich gehen. Ihnen geht sicher viel durch den Kopf, und ich störe Sie. Ich …«
»Bitte bleiben Sie! Ich brauche Gesellschaft.«
Sie wartete nicht auf eine Antwort. Die verglühenden Holzscheite im Kamin knackten ein letztes Mal. Er beobachtete, wie sie zur Küche ging, wartete einen Moment, stand dann auch auf und ging zur Küchentür, durch die Licht strömte.
»Schwarz ist okay.«
»Natürlich. Sie sind Polizist.«
»Sie mögen Polizisten nicht, oder?«
»Sagen wir einfach, ich habe keinen guten Ruf bei ihnen.« Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und stellte zwei Becher aufs Büffet, in die sie Kaffee aus einer Glaskanne schüttete. Neben dem Kühlschrank lehnte er sich gegen den Türrahmen. Er war unsicher, was er sagen sollte, ob er weiter über den Fall sprechen sollte oder nicht.
»Sie haben ein schönes Heim.«
»Nein. Es ist ein schönes Haus, kein Heim. Wir verkaufen es. Jetzt muß ich wohl sagen, ich verkaufe es.«
Sie hatte sich immer noch nicht umgedreht.
»Sie sollten sich keine Vorwürfe seinetwegen machen.« Es war nur ein schwacher Trost, das war ihm klar. »Leichter gesagt als getan.«
»Ja.«
Sie schwiegen lange, bis sich Bosch endlich entschied, weiterzusprechen.
»Es gab einen Abschiedsbrief.«
Sie hielt in ihrer Tätigkeit inne, aber drehte sich immer noch nicht um.
»›Ich fand heraus, wer ich war‹. Das war alles.«
Sie sagte überhaupt nichts. Einer der Becher war immer noch leer.
»Sagt Ihnen das etwas?«
Endlich drehte sie sich zu ihm um. Im hellen Küchenlicht konnte er die Salzspuren sehen, die die Tränen hinterlassen hatten. Ein Gefühl der Unzulänglichkeit erfüllte ihn, er war ein Nichts und konnte nichts für sie tun.
»Ich weiß nicht. Mein Mann … Er hat seine Vergangenheit mit sich herumgeschleppt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Er war … Er hat sich ständig in seine Vergangenheit geflüchtet. Für ihn war die Vergangenheit besser als die Gegenwart – oder die Hoffnung auf die Zukunft. Er flüchtete gern in die Erinnerung an seine Kindheit. Er … Er konnte sich nicht von seiner Vergangenheit lösen.«
Tränen rannen ihr in die Falten unter den Augen. Sie drehte sich zum Büffet und goß wieder Kaffee ein.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Was kann mit einem passieren?« Sie sprach für einen Moment nicht. »Ich weiß nicht. Er wollte zurück. In der Vergangenheit gab es irgend etwas, was er brauchte.«
Jeder sehnt sich nach seiner Vergangenheit, dachte Bosch. Manchmal zerrt sie an einem stärker als die Zukunft. Sylvia Moore trocknete sich mit einem Taschentuch die Augen und reichte ihm dann seinen Kaffeebecher.
»Er hat einmal erwähnt, daß er in einem Schloß lebte«, sagte sie. »So hat er es wenigstens bezeichnet.«
»In Calexico?«
»Ja, allerdings nur kurz. Ich weiß nicht, was passiert ist. Er hat mir nie viel von diesem Abschnitt seines Lebens anvertraut. Es hatte mit seinem Vater zu tun. Irgendwann wollte sein Vater ihn nicht mehr haben. Seine Mutter und er mußten Calexico und das Schloß, oder was es war, verlassen. Sie ist mit ihm über die Grenze. Er hat immer gern erzählt, er käme aus Calexico, in Wirklichkeit wuchs er jedoch in Mexicali auf. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal da waren?«
»Nur durchgefahren. Ich habe nie angehalten.«
»Dann wissen Sie ja, wie es dort aussieht. Man fährt vorbei. – Aber er ist dort aufgewachsen.«
Sie sprach nicht weiter und sah auf ihren Kaffee – eine attraktive Frau, die des Themas überdrüssig war. Er wartete ab. Noch war ihr nicht klar geworden, daß dies nicht nur ein Ende, sondern auch ein neuer Anfang für sie war.
»Er ist nie darüber hinweggekommen, verlassen zu werden. Er ist oft zurück nach Calexico. Ich bin nicht mitgefahren, aber ich wußte, daß er es tat – allein. Wahrscheinlich hat er seinen Vater belauert. Vielleicht wollte er sich vor Augen führen, wie es hätte sein können. Wer weiß? Er hat Bilder von seiner Kindheit aufbewahrt. Manchmal nachts, wenn er dachte, daß ich schlief, holte er sie hervor und betrachtete sie.«
»Lebt er noch, der Vater?«
»Weiß ich nicht. Er sprach selten von seinem Vater, und wenn, dann sagte er, daß sein Vater tot sei. Aber ich weiß nicht, ob das metaphorisch gemeint war oder ob er wirklich tot war. Für Cal war er jedenfalls tot. Für ihn war es eine sehr persönliche Angelegenheit. Er fühlte immer noch die Ablehnung – nach all diesen Jahren. Ich konnte ihn nicht dazu bringen, darüber zu sprechen. Wenn er es mal tat, log er. Der alte Mann würde ihm nichts bedeuten, es würde ihm nichts ausmachen. Aber es war ihm nicht egal. Nach einigen Jahren habe ich aufgehört zu versuchen, mit ihm darüber zu reden. Selbst hat er das Thema nie angesprochen. Aber er ist dorthin gefahren – manchmal für ein Wochenende, manchmal für einen Tag. Wenn er zurückkam, hat er nichts gesagt.«
»Haben Sie Fotos?«
»Nein, er hat sie mitgenommen, als er ging. Er hätte sie nie hiergelassen.«
Bosch trank einen Schluck Kaffee, um nachzudenken.
»Es scheint …«, begann er. »Ich weiß nicht … Könnte das etwas zu tun haben mit …«
»Ich hab’ keine Ahnung. Aber ich kann Ihnen sagen, daß es viel mit uns zu tun hatte. Es war eine Manie. Für ihn war es wichtiger als ich. Es hat unsere Beziehung zerstört.«
»Was wollte er finden?«
»Ich weiß nicht. In den letzten Jahren hat er sich abgekapselt. Und nach einer Weile habe ich es auch getan. So ist es zu Ende gegangen.«
Bosch nickte und wandte seinen Blick von ihren Augen. Was konnte er noch tun? Manchmal versetzte ihn sein Job mitten ins ganz private Leben von Menschen, und alles, was er tun konnte, war Dastehen und Nicken. Er hatte Schuldgefühle, wenn er Fragen stellte, auf deren Beantwortung er kein Recht hatte. Hier war er nur der Bote. Er war nicht beauftragt herauszufinden, wieso sich jemand eine doppelläufige Schrotflinte vors Gesicht halten und abdrücken konnte.
Cal Moores Geheimnis und der Schmerz in ihrem Gesicht würden ihn allerdings nicht mehr loslassen. Es war nicht nur ihre körperliche Schönheit, die ihn fesselte. Sie war attraktiv – angezogen fühlte er sich jedoch von dem Schmerz in ihrem Gesicht, den Tränen und von dem Ausdruck der Stärke in ihren Augen. Sie verdiente das alles nicht. Wie konnte Cal Moore sein und ihr Leben nur so versauen?
Sein Blick wanderte zu ihr zurück.
»Da ist noch etwas, was er mir erzählt hat. Äh, ich hatte mal Schwierigkeiten mit dem DIE, Interne …«
»Ich weiß, was das bedeutet.«
»Also, er hat mich um Rat gefragt. Ob ich jemanden kennen würde, der über ihn ermittelte. Der Typ heißt Chastain. Hat Cal Ihnen davon etwas erzählt? Worum es ging?«
»Nein, hat er nicht.«
Ihre Haltung änderte sich. Bosch konnte buchstäblich sehen, wie die Wut in ihr aufstieg. Ihr Blick war stechend. Er hatte eine empfindliche Stelle berührt.
»Aber Sie haben davon gewußt, oder?«
»Chastain kam einmal her. Er dachte, daß ich kooperativ sein würde. Er behauptete, ich hätte eine Beschwerde über meinen Mann eingereicht. Das war gelogen. Er wollte das Haus durchsuchen, aber ich habe ihm gesagt, er soll gehen. – Ich will nicht darüber sprechen.«
»Wann war Chastain hier?«
»Ich weiß nicht. Vor einigen Monaten.«
»Haben Sie Cal gewarnt?«
Sie zögerte erst und nickte dann.
Danach mußte Cal ihn im Catalina um Rat gefragt haben.
»Sind Sie sicher, daß Sie nicht wissen, worum es ging?«
»Wir lebten schon getrennt. Wir redeten nicht miteinander. Es war aus zwischen uns. Ich habe Cal nur informiert, daß dieser Typ vorbeigekommen sei und gelogen habe, daß ich die Beschwerde eingereicht hätte. Cal sagte, sie würden immer lügen, ich solle mir keine Sorgen machen.«
Harry trank seinen Kaffee aus, hielt jedoch den Becher weiter in der Hand. Sie hatte gewußt, daß ihr Mann irgendwie gestrauchelt war, daß er ihre gemeinsame Zukunft um seiner Vergangenheit willen verraten hatte. Aber sie war loyal geblieben und hatte ihn vor Chastain gewarnt. Er konnte sie deswegen nicht kritisieren. Sie wurde ihm nur sympathischer.
»Was machen Sie hier?« fragte sie.
»Was?«
»Wenn Sie den Tod meines Mannes untersuchen, nehme ich an, daß sie über die DIE-Ermittlungen Bescheid wissen. Entweder lügen Sie mich also an, oder Sie wissen nichts. Wenn das der Fall ist, was machen Sie dann hier?«
Er stellte den Becher aufs Büffet. So gewann er etwas Zeit.
»Man hat mich hergeschickt, um Ihnen zu sagen, was …«
»Wegen der Dreckarbeit.«
»Stimmt. Die ist an mir hängengeblieben. Aber wie ich Ihnen sagte, ich kannte Ihren Mann gewissermaßen und …«
»Ich glaube nicht, daß Sie das Rätsel lösen können, Detective Bosch.«
Er verfiel wieder aufs Nicken.
»Ich unterrichte Englisch und Literatur an der Grant High School im San Fernando Valley«, begann sie. »Ich gebe meinen Schülern viele Bücher über L. A. zu lesen, damit sie ein Gefühl für die Geschichte und die Eigenart ihrer Umwelt bekommen. Mein Gott, die wenigsten von ihnen wurden hier geboren. Egal – eins der Bücher, das sie lesen müssen, ist Der lange Abschied. Es handelt von einem Detective.«
»Ich habe es gelesen.«
»Es gibt einen Satz, den ich auswendig kenne. ›Keine Falle ist so tödlich wie die, die wir uns selbst stellen.‹ Immer, wenn ich das lese, denke ich an meinen Mann – und mich.«
Sie begann wieder zu weinen. Leise, ohne ihre Augen von ihm abzuwenden. Diesmal nickte er nicht. Er sah den Hilferuf in ihren Augen und ging zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter – unbeholfen. Aber sie kam näher und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Er ließ sie weinen, bis sie sich ihm wieder entzog.
Harry nahm das halbvolle Weinglas und die Flasche, die noch vom Abendessen auf dem Tisch standen, und ging hinaus auf die Veranda. Er saß und trank und dachte nach bis früh in den Morgen. Das Feuer auf der anderen Seite des Passes glühte nicht mehr. Jetzt jedoch brannte etwas in ihm.
Calexico Moore hatte anscheinend die Antwort auf die Frage gefunden, die jeder mit sich herumschleppt. Auch er, Harry Bosch, hatte nach der Antwort gesucht. Ich fand heraus, wer ich war.
Es hatte ihn umgebracht. Die Erkenntnis schlug Bosch wie eine Faust in den Magen, in die geheimsten Winkel seines Herzens.