18
Das Apartment-Gebäude, in dem Cal Moore gewohnt hatte, bestand aus drei Etagen und wirkte an der Franklin Avenue wie ein großes gelbes Taxi inmitten von Kleinwagen am Flughafen. Es war eines der Gebäude in dieser Gegend, die nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut und mit viel Stuck verziert waren. Es trug den Namen The Fountains, aber die Brunnen waren inzwischen mit Erde gefüllt und mit Blumen bepflanzt. Das Hauptquartier der Scientology-Kirche war nur einen Block entfernt. Das weiße Neonzeichen des Scientology-Komplexes tauchte die Umgegend in ein unheimliches Licht. Bosch stand am Bordstein und rauchte eine Zigarette. Es war fast zehn, also war nicht zu befürchten, daß ihm jemand einen Persönlichkeitstest aufschwatzen würde. Er studierte das Apartment-Gebäude eine halbe Stunde lang, bevor er sich entschloß, den Einbruch zu wagen.
Es war ein gesichertes Gebäude, aber eigentlich nur auf dem Papier. Mit einem Buttermesser, das er mit seinem Dietrich im Handschuhfach seines Caprice verwahrte, öffnete Bosch das Tor vor dem Gebäude. Die Tür zur Eingangshalle stellte kein Problem dar. Das Schloß war lange nicht geölt worden und schnappte daher nicht mehr zu. Bosch ging hinein und fand auf der Mietertafel Moores Namen. Er wohnte in Nummer sieben im zweiten Stock.
Das Apartment war am Ende des Korridors, der das Gebäude in der Mitte teilte. Das Polizeisiegel war direkt auf den Türknauf geklebt. Harry schnitt es mit einem kleinen Federmesser ein, das er an seinem Schlüsselring trug, und kniete sich hin, um das Schloß zu betrachten. Vom Korridor gingen noch zwei andere Apartments ab, aber weder Fernseher noch Stimmen waren zu hören. Die Beleuchtung war gut, und er benötigte die Taschenlampe nicht. Moore hatte ein normales Zylindersicherheitsschloß. Mit einem gebogenen Druckhaken und einem Laubsägeblatt drehte er das Schloß in knapp zwei Minuten auf.
Mit seiner in ein Taschentuch gehüllten Hand am Türknauf überlegte er sich noch einmal, ob es weise war, einzubrechen. Sollten Irving oder Pounds es herausfinden, müßte er noch vor Jahresende wieder Streife gehen. Er sah noch einmal den Flur lang und öffnete dann die Tür. Es ging nicht anders. Niemand sonst schien sich für Cal Moores Schicksal zu interessieren. Das war okay. Aber aus irgendeinem Grund interessierte es Bosch. Vielleicht könnte er den Grund dort drinnen entdecken.
Sobald er in der Wohnung war, verschloß er die Tür wieder und blieb stehen. Seine Augen stellten sich allmählich auf das Licht ein. Das Apartment roch muffig und war dunkel bis auf das blauweiße Licht der Scientology-Kirche, das durch die Fenstervorhänge des Wohnzimmers drang. Bosch ging durchs Zimmer und schaltete die Lampe auf dem Beistelltisch neben einem alten, ramponierten Sofa an. Im Licht sah er, daß die Einrichtung des Apartments seit circa zwanzig Jahren nicht mehr erneuert worden war. Von der Couch aus waren Trampelpfade zur Küche und zum Flur rechts in den dunkelblauen Teppichboden gewetzt.
Er ging weiter und sah kurz in die Küche, ins Schlafzimmer und ins Badezimmer. Was ihm auffiel, war die Leere. Es gab nichts Persönliches. Keine Bilder an der Wand, keine Zettel am Kühlschrank, keine Jacke, die über einem Stuhl hing. Noch nicht einmal ein Teller im Spülbecken. Moore hatte hier gewohnt, aber es war fast so, als hätte er nicht existiert.
Er wußte nicht, wonach er suchte, also begann er in der Küche und öffnete Schränke und Schubladen. Er fand eine Schachtel Cornflakes, eine Dose Kaffee und eine fast leere Flasche Early Times. In einem anderen Schrank war eine ungeöffnete Flasche süßen mexikanischen Rums, in der sich ein Stück Zuckerrohr befand. In den Schubladen lagen Kochutensilien, Besteck und Streichholzheftchen von Bars in Hollywood wie Ports und Bullet.
Das Gefrierfach war bis auf zwei Eisbehälter leer. Im Kühlschrank darunter stand im obersten Fach ein Glas Senf, eine halbleere Packung ranziger Mortadella und eine Dose Budweiser, an der noch die Plastikringe des Sechserpacks hingen. Unten in der Tür stand eine Kilotüte Domino-Zucker.
Harry sah sich die Packung näher an, sie war nicht geöffnet. Jetzt bin ich schon hier, dachte er. Warum also nicht? Er öffnete sie und schüttete den Inhalt langsam ins Spülbecken. Es sah aus wie Zucker und schmeckte wie Zucker. Sonst war nichts in der Tüte. Schließlich stellte er das heiße Wasser an und sah zu, wie der weiße Berg im Abfluß verschwand.
Die Tüte ließ er auf der Arbeitsfläche stehen und begab sich ins Badezimmer. Im Halter befand sich eine Zahnbürste und im Spiegelschränkchen Rasierzeug. Weiter nichts.
Im Schlafzimmer ging Bosch zuerst in den begehbaren Wandschrank. Ein paar Kleidungsstücke hingen auf Bügeln, und noch mehr lagen in einem Wäschekorb aus Plastik. Auf der Ablage stand ein grünkarierter Koffer und ein weiße Schachtel mit der Aufschrift Snakes. Bosch leerte zuerst den Korb und durchsuchte die Taschen der dreckigen Hemden und Hosen. Sie waren leer. Er ging die aufgehängten Sachen durch, bis er zu der Paradeuniform am Ende des Schranks kam, die in Plastik gehüllt war. Wenn man nicht mehr auf Streife ging, gab es nur noch einen Grund, sie aufzuheben. Für die Beerdigung. Für Bosch war es ein böses Omen, ein Zeichen von fehlendem Selbstvertrauen. Wie von der Dienstvorschrift verlangt, bewahrte er eine Uniform für den Fall eines Ausnahmezustandes, eines Erdbebens oder eines Aufruhrs auf. Aber seine Paradeuniform hatte er vor zehn Jahren weggeworfen.
Der Koffer war leer, roch modrig und war seit langem nicht mehr benutzt worden. Bosch nahm als nächstes den Schuhkarton von der Ablage und wußte, daß er leer war, bevor er ihn öffnete. Nur etwas Seidenpapier lag darin.
Bosch stellte ihn zurück aufs Regal und erinnerte sich an Moores Stiefel, der auf den Fliesen im Badezimmer des Hideaway stand. Er fragte sich, ob es für Moores Mörder schwierig gewesen war, ihn auszuziehen, um einen Selbstmord zu inszenieren. Oder hatte er Moore noch befohlen, ihn auszuziehen. Wahrscheinlich nicht. Der Schlag auf den Hinterkopf, den Teresa festgestellt hatte, bedeutete, daß Moore nicht gewußt hatte, was passieren würde. Bosch stellte sich vor, wie der Mörder sich Moore im Schutz der Dunkelheit von hinten näherte und ihm den Kolben des Schrotgewehrs auf den Hinterkopf schlug. Moore bricht zusammen. Der Mörder zieht ihm den Stiefel aus, schleift ihn ins Badezimmer, lehnt ihn gegen die Wanne und betätigt beide Abzüge. Wischt sie ab, drückt den Daumen des Toten auf den Schaft und reibt dessen Hände über die Läufe, um realistische Schmierspuren zu erzeugen. Dann stellt er den Stiefel auf die Fliesen, fügt noch den Holzsplitter vom Schaft hinzu, und die Szene war perfekt. Selbstmord.
Das Einzelbett war nicht gemacht. Auf dem Nachttisch lagen ein paar Dollar Wechselgeld und ein kleines gerahmtes Foto von Moore und seiner Frau. Bosch bückte sich und betrachtete es, ohne es zu berühren. Sylvia lächelte. Sie schien in einem Restaurant zu sitzen oder an einem Tisch bei einer Hochzeitsfeier. Sie war schön auf dem Bild, und ihr Mann sah sie an, als ob er sich dessen bewußt wäre.
»Mann, hast du Scheiße gebaut, Cal«, sagte Harry vor sich hin.
Er ging zu einer Kommode, die durch Zigarettenglut und Messerschnitzereien so ruiniert war, daß sogar die Heilsarmee sie abgelehnt hätte. In der obersten Schublade lag ein Kamm und ein umgedrehter Bilderrahmen aus Kirschholz. Bosch nahm ihn in die Hand und stellte fest, daß er leer war. Ein paar Augenblicke dachte er darüber nach. Ein Blumendekor war in den Rahmen geschnitzt worden. Offensichtlich war er sehr teuer und gehörte nicht zum Mobiliar. Moore hatte ihn mitgebracht. Warum war er leer? Er hätte gern Sheehan gefragt, ob er oder jemand anders das Foto für die Ermittlungen an sich genommen hatte. Leider war das nicht möglich, ohne gleichzeitig zu verraten, daß er hier gewesen war.
Die nächste Schublade enthielt Unterwäsche, Socken und einen Stapel gefalteter T-Shirts. In der dritten Schublade befanden sich ebenfalls Kleidungsstücke, alle ordentlich von einer Wäscherei gefaltet. Unter einem Stapel Hemden lag ein Pornomagazin, das auf der Titelseite Nacktfotos einer bekannten Hollywood-Schauspielerin anpries, die im Heft abgedruckt war. Bosch blätterte durch das Magazin, mehr aus Neugier, denn im Glauben, irgendeinen Hinweis zu entdecken. Sicher hatte es jede Uniform, die seit dem Verschwinden Moores hier gewesen war, in den Fingern gehabt, und natürlich auch jeder Anzug.
Nachdem er gesehen hatte, daß die Fotos der Schauspielerin dunkle, grobkörnige Aufnahmen waren, auf denen man gerade noch erkennen konnte, daß sie barbusig war, legte er das Heft zurück. Wahrscheinlich stammten sie von einem frühen Film, als sie noch nicht die volle Kontrolle über die Ausbeutung ihres Körpers hatte. Er stellte sich die Enttäuschung der Männer vor, wenn sie feststellten, daß dies die versprochenen Fotos waren, deretwegen sie das Heft gekauft hatten. Er malte sich die Wut und Verlegenheit der Schauspielerin aus. Und er fragte sich, warum sich Cal Moore so etwas gekauft hatte. Sylvia Moores Bild erschien in seiner Vorstellung. Er schob das Magazin unter die Hemden und schloß die Schublade.
Die letzte Schublade enthielt zwei Sachen. Ein Paar verwaschener Bluejeans und eine weiße, zerknitterte Papiertüte, die alt und schlaff war und einen dicken Packen Fotos enthielt. Das war es, weshalb er gekommen war. Er wußte es instinktiv, als er die Tüte anfaßte, und nahm sie mit. Bevor er das Schlafzimmer verließ, schaltete er die Deckenlampe aus.
Nachdem er sich auf die Couch neben die Lampe gesetzt hatte, zündete er sich eine Zigarette an und zog den Stapel Fotos aus der Tüte. Er sah sofort, daß die meisten alt und verblichen waren. Das Betrachten dieser Fotos schien eine stärkere Verletzung der Privatsphäre zu sein, als die Veröffentlichung der Nacktfotos im Pornomagazin. Sie dokumentierten Cal Moores unglückliches Schicksal.
Die Fotos schienen chronologisch geordnet zu sein. Sie wechselten von verblaßten Schwarzweißaufnahmen zu Farbfotos. Auch andere Merkmale, wie Kleidung und Autos, bestärkten diesen Eindruck.
Das erste Foto war schwarzweiß und zeigte eine junge Latina in einer Art Krankenschwesteruniform. Sie war ein dunkler Typ und hübsch, mit einem mädchenhaften Lächeln und einem überraschten Gesichtsausdruck. Das Foto war vor einem Swimmingpool aufgenommen worden, und sie hielt etwas hinter dem Rücken versteckt. Bosch erkannte eine runde Kante und begriff, daß es ein Tablett war, mit dem sie nicht hatte fotografiert werden wollen. Sie war keine Krankenschwester, sondern ein Dienstmädchen.
Es gab noch andere Fotos von ihr über einen längeren Zeitraum. Die Jahre schadeten kaum ihrem Aussehen, ließen sich aber auch nicht verbergen. Sie bewahrte ihre exotische Schönheit, doch nach und nach zeigten sich Sorgenfalten, und ihre Augen verloren Wärme. Auf einigen der Fotos, die Bosch sah, hielt sie ein Baby, dann einen kleinen Jungen. Obwohl es ein Schwarzweißfoto war, erkannte Bosch von nahem, daß der Junge mit dem dunklen Haar und der dunklen Haut helle Augen hatte. Grüne, glaubte Bosch. Es war Calexico Moore mit seiner Mutter.
Auf einem der Fotos standen die Frau und der kleine Junge vor einem großen, weißen Haus mit einem spanischen Ziegeldach. Es sah aus wie eine Mittelmeervilla. Hinter Mutter und Sohn war unscharf ein Turm zu erkennen. Zwei verschwommene Fenster, die wie leere Augen wirkten, öffneten sich oben. Bosch erinnerte sich, wie Moore erzählt hatte, daß er in einem Schloß aufgewachsen war. Hier war es.
Auf einem anderen Foto stand der Junge steif neben einem Mann, einem Anglo-Amerikaner mit blonden Haaren und tiefgebräunter Haut. Sie hatten sich neben einen schnittigen Thunderbird aus den fünfziger Jahren gestellt. Der Mann stützte sich mit einer Hand auf die Motorhaube und mit der anderen auf den Jungen. Beides war sein Besitz, schien das Foto auszusagen. Der Mann blinzelte in die Kamera.
Aber Bosch konnte seine Augen sehen. Es waren die gleichen grünen Augen wie die seines Sohnes. Oben auf dem Kopf war sein Haar dünn, und indem Bosch es mit anderen Fotos des Jungen mit seiner Mutter zu dieser Zeit verglich, kam er auf einen geschätzten Altersunterschied von fünfzehn Jahren zwischen Vater und Mutter. Das Foto von Vater und Sohn war an den Rändern abgegriffen – viel mehr als die anderen Bilder.
Mit den nächsten Aufnahmen wechselte der Schauplatz. Anscheinend waren sie in Mexicali fotografiert worden. Es waren weniger Fotos, die jedoch einen längeren Zeitraum dokumentierten. Der Junge wuchs sprunghaft und der Hintergrund sah nach dritter Welt aus. Sie waren in einem Barrio aufgenommen worden. Meistens standen Menschengruppen im Hintergrund. Mexikaner mit dem leichten Ausdruck von Verzweiflung und Hoffnung, wie ihn Bosch von den Ghettos in L. A. kannte.
Und jetzt tauchte noch ein anderer Junge auf den Fotos auf. Er war gleich alt oder etwas älter. Er wirkte stärker und härter. Oft war er zusammen mit Cal auf einem Bild. Möglicherweise ein Bruder, dachte Bosch.
In dieser Gruppe Fotos begann die Mutter deutlich zu altern. Das Mädchen, das das Serviertablett gehalten hatte, war verschwunden. Eine Mutter, die ein hartes Leben durchgemacht hatte, war an ihre Stelle getreten. Die Bilder ließen einen nicht los. Es bedrückte Bosch, sie zu betrachten, weil er begriff, welche Macht sie auf Moore ausgeübt hatten.
Die letzte Schwarzweißaufnahme zeigte zwei Jungen mit freiem Oberkörper, die an einem Picknicktisch saßen und über irgend etwas lachten – und so für immer festgehalten wurden. Calexico war ein junger Teenager mit einem offenen Gesicht. Der andere Junge, der vielleicht ein, zwei Jahre älter war, machte einen gefährlichen Eindruck. Seine Augen wirkten hart und finster. Auf dem Bild beugt Cal seinen rechten Arm und zeigten dem Fotografen seine Muskeln. Er hatte schon die Tätowierung, den Teufel mit dem Heiligenschein. Heilige und Sünder.
Danach erschien der andere Junge nicht mehr auf den Bildern. Jetzt kamen Farbfotos, die in Los Angeles aufgenommen waren. Bosch erkannte das Rathaus, das im Hintergrund eines Bildes in die Höhe ragte, und den Brunnen in Echo Park auf einem anderen. Moore und seine Mutter waren in die USA übergesiedelt. Wer auch immer der andere Junge war, er war zurückgeblieben.
Gegen Ende des Stapels erschien die Mutter nicht mehr auf den Fotos. Harry fragte sich, ob sie gestorben war. Die beiden letzten Bilder zeigten Moore als Erwachsenen. Das erste war bei der Abschlußfeier der Polizeischule gemacht worden. Eine Gruppe soeben vereidigter Polizisten stand auf dem Rasen vor dem Daryl F. Gates Auditorium. Sie warfen ihr Hüte in die Luft. Bosch erkannte Moore. Er hatte seinen Arm um die Schulter eines anderen Polizeianwärters gelegt, und sein Gesicht zeigte ehrliche Freude.
Auf dem letzten Foto lächelten Moore in Paradeuniform und eine junge Sylvia Wange an Wange. Ihre Haut war glatter, ihre Augen leuchteten stärker, und ihr Haar war länger und voller. Aber allzusehr hatte sie sich seitdem nicht verändert; sie war immer noch eine schöne Frau.
Er schob die Fotos wieder in die Tüte und legte sie neben sich auf die Couch. Es hätte ihn interessiert, warum sie nie in ein Album gesteckt oder gerahmt worden waren. Es waren Puzzlestücke eines Lebens, verpackt und jederzeit bereitliegend, an einen anderen Ort mitgenommen zu werden.
Eigentlich wußte er den Grund. Zu Hause hatte er selbst Stapel von Fotos, die er nie einkleben würde, die er in der Hand halten mußte, wenn er sie ansah. Sie waren nicht nur Bilder einer anderen Zeit. Sie waren Teil seines Lebens, eines Lebens, das nicht vorangehen konnte, wenn er nicht wußte und verstand, was hinter ihm lag.
Bosch griff zur Lampe und schaltete sie aus. Er rauchte noch eine Zigarette, an deren Ende die Glut in der Dunkelheit schwebte. Er dachte über Mexiko und Calexico Moore nach.
»Mann, hast du Scheiße gebaut«, flüsterte er noch einmal. Er hatte sich eingeredet, daß er hergekommen war, um Moore besser kennenzulernen. Mit diesem Argument hatte er sich überwunden. Jetzt, wo er hier im Dunklen saß, wußte er, daß das nicht die ganze Wahrheit war. Er war gekommen, um einen Lebenslauf zu verstehen, der nicht zu erklären war. Der einzige, der die Antworten zu allen Fragen hatte, war Cal Moore. Und der war davongegangen.
Das weiße Neonlicht schien auf die Fenstervorhänge und verwandelte sie in Gespenster. Sie erinnerten ihn an das Foto von Vater und Sohn, die allmählich verblichen. Er dachte an seinen eigenen Vater, den er erst kennengelernt hatte, als dieser auf dem Sterbebett lag und es für ihn selbst schon zu spät war, sein Leben zu ändern.
Er hörte, wie ein Schlüssel von der anderen Seite in das Schloß gesteckt wurde, und sprang mit gezogener Pistole auf. Mit schnellen Schritten bewegte er sich zum Flur und zuerst ins Schlafzimmer, drehte sich dann aber um und ging ins Badezimmer, weil von dort das Wohnzimmer besser zu beobachten war. Er ließ die Zigarette in die Kloschüssel fallen und hörte, wie sie aufzischte.
Die Wohnungstür wurde geöffnet, und es war ein paar Sekunden still. Dann ging im Wohnzimmer Licht an, und er machte noch einen Schritt zurück in die Dunkelheit. Im Spiegel des Badezimmerschränkchens sah er Sylvia Moore, wie sie mitten im Wohnzimmer stand und sich umsah, als wäre sie zum ersten Mal hier. Ihr Blick fiel auf die weiße Tüte auf der Couch, und sie hob sie auf. Bosch beobachtete sie beim Durchsehen der Fotos. Beim letzten verweilte sie. Es war das, auf dem sie abgebildet war. Sie hielt ihre Hand an die Wange, als wollte sie dem Lauf der Zeit nachspüren.
Nach ein paar Augenblicken steckte sie die Fotos wieder in die Tüte, legte sie auf die Couch und kam auf den Flur zu. Bosch zog sich noch weiter zurück und stieg leise in die Wanne. Jetzt ging das Licht im Schlafzimmer an, und er hörte, wie die Schiebetür des Wandschranks geöffnet und Kleiderbügel auf der Stange beiseitegeschoben wurden. Bosch steckte seine Pistole wieder ins Halfter, stieg aus der Badewanne und ging in den Flur.
»Mrs. Moore? Sylvia?« Er wußte nicht recht, wie er sie ansprechen sollte, ohne sie zu erschrecken.
»Wer ist da?« fragte sie mit hoher, verängstigter Stimme. »Ich bin’s, Detective Bosch. Es ist alles in Ordnung.«
Mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen kam sie aus dem Wandschrank. In der Hand hielt sie den Bügel mit der Paradeuniform ihres toten Mannes.
»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt. Was machen Sie hier?«
»Ich wollte Sie gerade das gleiche fragen.«
Sie hielt die Uniform vor ihrem Körper, als hätte Bosch sie unbekleidet überrascht, und machte einen Schritt zurück ins Schlafzimmer.
»Sie sind mir gefolgt? Was geht hier vor?«
»Nein, ich bin Ihnen nicht gefolgt. Ich war schon hier.«
»Im Dunkeln?«
»Ja, ich dachte über einiges nach. Als ich hörte, daß jemand die Tür öffnete, bin ich ins Badezimmer gegangen. Nachdem ich gesehen hatte, daß Sie es waren, wußte ich nicht, wie ich mich bemerkbar machen sollte, ohne Ihnen einen Schreck einzujagen. Sie haben mich erschreckt und ich Sie.«
Sie schien seine Erklärung zu akzeptieren und nickte. Bekleidet war sie mit einem hellblauen Jeans-Hemd und Bluejeans. Ihr Haar war hinten zusammengebunden, und sie trug Ohrringe aus rosa Kristall. Am linken Ohr hatte sie einen zweiten Ohrring, einen silbernen Halbmond mit einem Stern an seiner unteren Spitze. Sie setzte ein höfliches Lächeln auf. Bosch wurde gewahr, daß er sich seit gestern nicht mehr rasiert hatte.
»Dachten Sie, es sei der Mörder?« sagte sie, als er schwieg. »Der an den Ort seiner Missetat zurückkehrt?«
»Irgend so etwas … Das heißt, nein. Ich weiß nicht, was ich erwartete. Dies ist ohnehin nicht der Tatort.«
Er deutete mit dem Kinn auf die Uniform.
»Ich muß das morgen bei McEvoy Brothers vorbeibringen.« Sie sah sein Stirnrunzeln. »Natürlich ist der Sarg bei der Beerdigungsfeier geschlossen. Aber ich glaube, daß er es so gewollt hätte – in seiner Uniform beerdigt zu werden. Mr. McEvoy fragte mich, ob ich sie hätte.«
Harry nickte. Sie standen noch im Flur. Er ging ins Wohnzimmer, und sie folgte ihm.
»Was haben Sie von der Polizei gehört? Wie werden sie es durchführen, die Beerdigung?«
»Wer weiß? Aber sie sagen jetzt, daß er in Ausübung seines Dienstes umkam.«
»Also werden sie die große Show veranstalten.«
»Wahrscheinlich.«
Der Abschied von einem Helden, dachte Bosch. Die Polizei von Los Angeles glaubte nicht an Selbstgeißelung. Sie würden nicht zugeben, daß ein korrupter Cop von schlechten Menschen beseitigt worden war, für die er gearbeitet hatte. Nicht, wenn es einen Ausweg gab. Nicht, wenn sie den Medien ein Heldenbegräbnis zum Fraß vorwerfen konnten und abends auf sieben Kanälen im Fernsehen teilnahmsvolle und wohlwollende Reportagen sehen konnten. Die Polizei brauchte so viel Wohlwollen, wie sie kriegen konnte.
Er begriff auch, daß Tod im Dienst bedeutete, daß die Witwe die volle Pension erhalten würde. Wenn Sylvia Moore sich ein schwarzes Kleid anzog, sich in den richtigen Momenten die Augen mit einem Taschentuch betupfte und den Mund hielt, würde sie für den Rest ihres Lebens das Gehalt ihres Mannes beziehen. Kein schlechter Handel für beide Seiten. Wenn Sylvia es gewesen war, die sich an Interne Ermittlungen gewendet hatte, würde sie die Pension verlieren, falls sie die Sache weiterverfolgte oder sich an die Öffentlichkeit wandte. Die Polizei könnte dann behaupten, daß Cal bei seinen krummen Touren umgekommen sei, und die Pension streichen. Bosch war sich sicher, daß man ihr das nicht erklären mußte.
»Also, wann ist die Totenfeier?« fragte er.
»Montag um eins. In der San Fernando Mission Chapel. Die Beerdigung ist auf dem Oakwood Friedhof, oben in Chatsworth.«
Wenn sie ein großes Spektakel veranstalten wollten, war das der richtige Schauplatz. Ein paar Hundert Polizisten auf Motorrädern, die an der Spitze der Prozession die Kurve des Valley Circle Boulevard durchfuhren, ergaben ein erstklassiges Foto für die Titelseite.
»Mrs. Moore, warum sind sie um …«, er sah auf seine Uhr, es war 22. 45, »… so spät gekommen, um die Uniform Ihres Mannes zu holen?«
»Nennen Sie mich Sylvia.«
»Okay.«
»Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht, warum. Ich habe nicht geschlafen … Ich meine überhaupt nicht, seit … er gefunden wurde. Ich weiß nicht. Ich wollte einfach fahren, und den Schlüssel habe ich erst heute bekommen.«
»Von wem haben Sie ihn bekommen?«
»Assistant Chief Irving. Er kam vorbei und sagte, daß sie im Apartment alles durchsucht hätten, und falls ich etwas haben wollte, könnte ich es mitnehmen. Das Problem ist, es gibt nichts. Ich hoffte, ich müßte nie herkommen. Dann rief der Mann vom Beerdigungsinstitut an und fragte nach der Uniform. Und jetzt bin ich doch hier.«
Bosch nahm die Tüte mit den Fotos von der Couch und hielt sie ihr hin. »Was ist mit denen? Wollen Sie sie?«
»Ich denke nein.«
»Haben Sie sie vorher schon einmal gesehen?«
»Ich glaube, einige davon. Wenigstens kamen mir ein paar bekannt vor. Andere habe ich nie gesehen.«
»Warum hebt ein Mann sein ganzes Leben Fotos auf und zeigt sie nie seiner Frau?«
»Ich weiß es nicht.«
»Eigenartig.« Er öffnete die Tüte und fragte, während er die Fotos durchsah: »Wissen Sie, was mit seiner Mutter geschehen ist?«
»Sie starb. Bevor ich ihn kennenlernte. Gehirntumor. Er war zwanzig, hat er gesagt.«
»Was ist mit seinem Vater?«
»Er hat mir erzählt, daß er tot ist. Aber ich weiß nicht, ob das symbolisch gemeint war oder nicht. Weil er nie gesagt hat, wie oder wann er starb. Einmal habe ich ihn gefragt, und er antwortete, er wolle nicht darüber sprechen. Das Thema wurde nie mehr angeschnitten.«
Bosch hielt das Foto mit den zwei Jungen am Picknicktisch hoch. »Wer ist das?«
Sie trat näher und sah das Foto an. Er betrachtete ihr Gesicht. Ihre braunen Augen hatten stellenweise grüne Flecken; er nahm einen leichten Geruch von Parfum wahr.
»Ich kenne ihn nicht. Wahrscheinlich ein Freund.«
»Er hatte keinen Bruder?«
»Er hat mir von keinem erzählt. Als wir heirateten, sagte er zu mir, ich sei seine ganze Familie. Er sagte … sagte, er habe niemanden außer mir.«
Bosch studierte jetzt das Foto: »Er sieht ihm sehr ähnlich.« Sie sagte nichts.
»Was ist mit der Tätowierung?«
»Was soll damit sein?«
»Hat er Ihnen je gesagt, woher er sie hat, was sie bedeutet?«
»Er hat sie in dem Dorf bekommen, wo er aufwuchs. Als er ein Junge war. Das heißt, es war wohl eher ein Barrio. Heilige und Sünder, das ist die Bedeutung der Tätowierung. Weil die Leute, die dort wohnten, nicht wüßten, was sie wären und was aus ihnen würde.«
Er mußte an Cal Moores Abschiedsbotschaft denken. Ich fand heraus, wer ich war. Er fragte sich, ob sie die Bedeutung dieser Worte in Bezug auf seine Herkunft verstand. Wo jeder Junge herausfinden mußte, wer er war. Heiliger oder Sünder.
Sylvia unterbrach seine Gedankengänge: »Sie haben eigentlich nicht gesagt, warum Sie hier waren. Um im Dunkeln nachzudenken? Mußten Sie deshalb herkommen?«
»Ich wollte mich wohl umsehen. Sehen, was für ein Mensch er war. Vielleicht würde irgendein Groschen fallen. Hört sich das verrückt an?«
»Nicht für mich.«
»Gut.«
»Und? Ist irgendein Groschen gefallen?«
»Ich weiß noch nicht. Manchmal dauert es etwas.«
»Wissen Sie, ich habe Irving über sie befragt. Er sagte, Sie haben mit dem Fall nichts zu tun. Er sagte, daß Sie in der Nacht nur vorbeikamen, weil die anderen Detectives die Hände voll hatten mit den Reportern und … der Leiche.«
Wie ein Pennäler fühlte Bosch eine Art Kribbeln. Sie hatte sich über ihn erkundigt. Es war egal, daß sie jetzt wußte, daß er auf eigene Faust handelte.
»Ja«, sagte er. »Das ist in gewisser Weise wahr. Formal habe ich mit dem Fall nichts zu tun. Aber ich bearbeite andere Fälle, von denen ich glaube, daß sie mit dem Tod Ihres Mannes in Verbindung stehen.«
Ihre Augen wandten sich nicht von seinen ab. Er sah, daß sie am liebsten nach den Fällen gefragt hätte. Aber sie war die Ehefrau eines Polizisten. Sie kannte die Regeln. In diesem Moment wußte er, daß sie ihr Schicksal nicht verdient hatte. Nicht im geringsten.
»Sie haben es wirklich nicht getan? Den Brief ans DIE geschrieben?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber sie werden Ihnen nie glauben. Sie denken, Sie hätten das Ganze ins Rollen gebracht.«
»Ich war’s nicht.«
»Was hat Irving gesagt, als er Ihnen den Schlüssel gab?«
»Er hat mir zu verstehen gegeben, daß ich die Sache auf sich beruhen lassen sollte, wenn ich die Pension wolle – und nicht auf irgendwelche Ideen kommen solle. Als ob ich das machen würde. Als ob es mich noch interessieren würde. Mir ist klar, daß Cal auf Abwege geraten ist. Ich weiß nicht, was er getan hat. Eine Frau weiß so etwas. Und das hat mit all den anderen Problemen unsere Ehe zerstört. Aber den Brief habe ich nicht geschrieben. Ich war eine Polizistenfrau bis zum bitteren Ende. Irving und dem Typen, der zuerst kam, habe ich gesagt, daß sie sich irren. Aber es hat sie nicht interessiert. Was sie wollten, war Cals Dienstmarke.«
»Sie sagten, es war Chastain, der kam?«
»Ja, das stimmt.«
»Was wollte er genau? Sie erwähnten, daß er sich im Haus umsehen wollte.«
»Er hielt den Brief in der Hand und sagte, er wüßte, daß ich ihn geschrieben habe und daß ich ihm besser alles sagen solle. Nun, ich habe ihm gesagt, daß ich den Brief nicht geschrieben habe und daß er mein Haus verlassen solle. Aber zuerst wollte er nicht gehen.«
»Was genau war es, was er wollte?«
»Er … Ich erinnere mich nicht mehr an alles. Er wollte unsere Kontoauszüge sehen und wissen, was für Grundstücke und Häuser wir besäßen. Anscheinend dachte er, ich hätte auf ihn gewartet, um ihm meinen Mann auf dem silbernen Tablett zu servieren. Er wollte die Schreibmaschine, und ich sagte ihm, daß wir keine hätten. Dann habe ich ihn rausgeschoben und die Tür geschlossen.«
Er nickte und versuchte diese Fakten zu ordnen. Es war ein zu großes Durcheinander.
»Sie können sich nicht an das erinnern, was im Brief stand?«
»Eigentlich hatte ich keine richtige Gelegenheit, ihn zu lesen. Er gab ihn mir nicht zu lesen, weil er glaubte und – wie die anderen – immer noch glaubt, daß er von mir kam. Ich las nur ein paar Sätze, bevor er ihn wieder in die Aktentasche steckte. Im Brief stand, daß Cal einen Mexikaner decke, ihm Schutz gebe. Daß er eine Art faustischen Pakt geschlossen habe. Sie verstehen den Ausdruck, nicht? Ein Pakt mit dem Teufel.«
Bosch nickte. Es wurde ihm wieder bewußt, daß sie Lehrerin war, und er wurde auch gewahr, daß sie schon zehn Minuten im Wohnzimmer standen. Aber er machte keine Anstalten, sich hinzusetzen. Er fürchtete, daß eine plötzliche Bewegung den Zauber zerstören würde, daß sie gehen würde und ihn allein ließe.
»Ich weiß nicht, ob ich es so allegorisch ausgedrückt hätte«, fuhr sie fort. »Aber im wesentlichen drückte der Brief die Wahrheit aus. Ich wußte nicht, was er getan hatte, aber ich spürte, etwas war geschehen, was ihn innerlich zerstörte.
Einmal … das war, bevor wir uns trennten … schließlich habe ich ihn gefragt, was mit ihm los sei, und er antwortete nur, er habe einen Fehler gemacht und würde versuchen, ihn selbst zu beheben. Er wollte nicht mit mir darüber sprechen. Er hat mich abgeblockt.«
Sie setzte sich auf die Kante eines Sessels und hielt die Uniform auf ihrem Schoß. Der Sessel hatte eine scheußlich grüne Farbe, und auf der rechten Lehne befanden sich Brandstellen von Zigaretten. Bosch setzte sich auf die Couch neben die Fotos.
Sie sagte: »Irving und Chastain glauben mir nicht. Sie nicken nur mit den Köpfen. Dann sagen sie, im Brief ständen zu viele private Details. Nur ich könne es sein. Ich glaube, daß jemand da draußen jetzt glücklich ist. Der Brief hat ihn zur Strecke gebracht.«
Bosch dachte an Kapps und überlegte, ob er genug Details über Moore gewußt haben könnte, um den Brief zu schreiben. Er hatte Dance verpfiffen. Vielleicht hatte er zuerst versucht, Moore zu Fall zu bringen. Es schien unwahrscheinlich zu sein. Vielleicht kam der Brief von Dance, der aufsteigen wollte und dem Moore im Wege stand.
Die Dose Kaffee in der Küche fiel ihm wieder ein. Vielleicht sollte er sie fragen, ob sie etwas trinken wollte. Er wollte nicht, daß ihr Zusammensein endete. Er hätte gerne geraucht, aber er wollte nicht riskieren, daß sie ihn bat, es zu unterlassen.
»Wollen Sie Kaffee? In der Küche ist welcher. Ich könnte ihn machen.«
Sie sah zur Küche, als ob ihre Antwort davon abhinge, wo sie sich befand und wie sauber sie war. Dann lehnte sie ab, sie wollte nicht so lange bleiben.
»Ich fahre morgen nach Mexiko«, sagte Bosch.
»Mexicali?«
»Ja.«
»Wegen der anderen Fälle?«
»Ja.«
Dann erzählte er ihr alles. Vom Schwarzen Eis und Jimmy Kapps und Juan Doe #67. Und von den Verbindungen zwischen ihrem Mann und Mexicali. Und daß er hoffe, dort das Rätsel zu lösen.
Am Ende sagte er: »Leute wie Irving wollen, daß das alles vorbei ist. Weil Cal auf Abwege geraten ist, interessiert es sie nicht, wer ihn umgebracht hat. Sie schreiben ihn einfach ab. Sie lassen die Sache auf sich beruhen, damit sie am Ende nicht noch irgendwelchen Dreck abbekommen. Sie verstehen, was ich meine?«
»Ich war mit einem Polizisten verheiratet, haben Sie das vergessen?«
»Richtig. Sie wissen also Bescheid. Wichtig ist, es interessiert mich. Ihr Mann hat für mich Ermittlungen angestellt. Über Schwarzes Eis. Ich glaube, er wollte vielleicht etwas Gutes tun. Es kann sein, daß er das Unmögliche versucht hat, auf die Seite des Rechts zurückzukehren. Eventuell mußte er deswegen sterben. Wenn das der Fall sein sollte, werde ich keine Ruhe geben.«
Danach waren sie eine lange Zeit still. Auf ihrem Gesicht war der Schmerz zu sehen, aber ihre Augen blieben klar und trocken. In der Ferne konnte man einen Helikopter kreisen hören. Ohne die Polizeihubschrauber, die sich nachts um ihren Scheinwerferstrahl drehten, wäre das hier eine andere Stadt.
»Schwarzes Eis«, flüsterte sie nach einer Weile.
»Was ist damit?«
»Nichts, es hört sich komisch an.« Ein paar Augenblicke schwieg sie und schien sich im Raum umzusehen. Sie realisierte, daß ihr Mann hierhergezogen war, nachdem er sie verlassen hatte. »Schwarzes Eis. Ich wuchs in der Gegend von San Francisco auf, und es wurde immer davor gewarnt, aber es war das andere schwarze Eis.«
Sie sah ihn an und bemerkte, daß er ihr nicht folgte. »Wenn es im Winter nach einem Regen sehr kalt wird und es dann friert. Das ist schwarzes Eis. Es ist auf der Straße, auf dem dunklen Asphalt, aber man kann es nicht sehen. Mein Vater hat mir das Fahren beigebracht, und er sagte immer: ›Achte auf schwarzes Eis. Du erkennst die Gefahr nicht, bis es zu spät ist, bis du die Kontrolle verlierst.‹«
Sie lächelte über die Erinnerung. »Nun, das war das schwarze Eis, das ich kannte. Zumindest als ich aufwuchs. Genau wie Coke damals bloß Limonade war. Die Bedeutung von Wörtern kann sich ändern.«
Er sah sie nur an. Er wollte sie wieder in seinen Armen halten und ihre zarten Wangen an seinen fühlen.
»Hat Ihr Vater Ihnen nie gesagt, daß Sie sich vor schwarzem Eis in acht nehmen müssen?«
»Ich kannte ihn nicht. Ich habe irgendwie allein fahren gelernt.«
Sie nickte und sagte nichts, sah aber auch nicht weg.
»Ich habe drei Autos dabei beschädigt. Als ich es endlich konnte, traute sich niemand mehr, mir seinen Wagen zu leihen. Mir hat auch niemand über schwarzes Eis erzählt.«
»Nun, ich hab’s jetzt getan.«
»Danke.«
»Schleppen Sie auch Ihre Vergangenheit hinter sich her?« Er antwortete nicht.
»Wahrscheinlich tun wir das alle. Wie heißt es doch, wir studieren die Vergangenheit, um von ihr für die Zukunft zu lernen – oder so. Sie sehen so aus, als ob Sie sie noch studierten.«
Ihre Augen schienen in ihn hineinzusehen, weise Augen. Und er begriff, daß sie vor zwei Nächten nicht in den Armen gehalten und geheilt werden mußte – auch wenn er es so hatte sehen wollen. Tatsächlich ging die Heilung von ihr aus. Warum war Cal Moore von ihr weggerannt?
Er wechselte das Thema, ohne genau zu wissen warum, nur daß er ihre Aufmerksamkeit von sich ablenken mußte.
»Im Schlafzimmer ist ein Bilderrahmen. Geschnitztes Kirschholz, aber ohne Bild. Kennen Sie ihn?«
»Ich muß ihn mir ansehen.«
Sie stand auf, ließ die Uniform ihres Mannes auf dem Sessel liegen und ging ins Schlafzimmer, wo sie den Rahmen in der obersten Schublade der Kommode lange betrachtete, bevor sie erklärte, daß sie ihn nicht kannte. Sie sah Bosch erst an, nachdem sie das gesagt hatte.
Sie standen neben dem Bett und sahen sich schweigend an. Bosch hob endlich seine Hand, zögerte dann. Sie machte einen Schritt auf ihn zu als Zeichen, daß sie seine Berührung wollte. Er strich ihr über die Wange, so wie sie es getan hatte, als sie vor kurzem das Foto angesehen hatte und dachte, sie sei allein. Dann ließ er seine Hand an der Seite auf den Hals hinuntergleiten und begann, ihren Nacken zu streicheln.
Sie sahen sich bewegungslos an. Sie schmiegte sich an ihn und hob ihren Kopf. Mit der Hand zog sie ihn am Hals zu sich herab, und sie küßten sich. Sie umarmte ihn und preßte sich an ihn mit einer Leidenschaft, die offenbarte, wie sehr sie ihn brauchte. Bosch sah, daß sie ihre Augen geschlossen hatte, und wußte in diesem Moment, daß sie mit ihrem Hunger und in ihrer Einsamkeit Spiegelbilder voneinander waren.
Sie liebten sich auf dem ungemachten Bett ihres Mannes, ohne sich darum zu kümmern, wo sie waren und was es morgen, in einer Woche, in einem Jahr bedeuten würde. Bosch hielt seine Augen geschlossen und konzentrierte sich auf die anderen Sinne – ihren Geruch, ihren Geschmack und das Gefühl ihrer Haut.
Hinterher legte er seinen Kopf zwischen ihre mit Sommersprossen übersäten Brüste. Sie streichelte ihn und fuhr mit den Fingern durch seine Locken. Er hörte, wie ihr Herz im gleichen Rhythmus wie seins schlug.