10
Mit ihrem Auto fuhren sie zurück zum Red Wind. Dort stieg er in seinen Wagen, und sie folgte ihm auf dem Weg von Downtown zu seinem Haus in den Hügeln. Sie wohnte in einer Eigentumswohnung in Hancock Park, was zwar näher gelegen war, aber sie hatte erklärt, sie wäre in der letzten Zeit zu oft zu Hause gesessen und wolle einmal wieder den Kojoten sehen oder hören. Er durchschaute sie. Der wahre Grund, daß es ihr leichter fiel, sich aus seinem Haus zu verdrücken, als ihn zu bitten zu gehen, wenn sie bei ihr waren.
Ihm machte es nichts aus. Tatsächlich fühlte er sich nicht wohl in ihrer Wohnung. Für ihn war sie symptomatisch für den Wandel in der Stadt. Ein großräumiges Loft in einem historischen Wohnhaus im vierten Stock, von dem aus man Downtown sehen konnte. Das Warfield war 1911 von George Allan Hancock erbaut worden und hatte außen noch nichts vom Glanz seiner Beaux-Arts-Architektur und der blau-grauen Terrakottafassade eingebüßt. Die französischen Lilien und Ornamente am Warfield bezeugten immer noch aller Welt, daß George mit seinen Öldollars nicht geknausert hatte. Aber es war das Innere des Gebäudes – des heutigen Inneren –, was Bosch nicht behagte. Vor ein paar Jahren war es von einer japanischen Firma gekauft und anschließend komplett umgebaut und renoviert worden. Die Wände in den Apartments waren herausgerissen worden, so daß jede Wohnung aus einem einzigen langen, sterilen Raum mit imitiertem Parkett, rostfreien Arbeitsflächen und Strahlern auf Stromschienen bestand. Nur noch eine schöne Hülle, dachte Bosch und war sich sicher, daß George seine Meinung teilen würde.
Bei ihm zu Hause unterhielten sie sich auf der Veranda, während er mit dem Grillen begann. Heiligabend hatte er Orange-Roughy gekauft. Das Fischfilet war groß genug für zwei und immer noch frisch. Teresa erzählte ihm, daß die County Commission wahrscheinlich noch vor Neujahr einen Direktor der Gerichtsmedizin bestellen würde. Er wünschte ihr viel Glück, war sich aber nicht sicher, ob es ehrlich gemeint war. Der Posten war in den Parteienfilz verstrickt, und sie würde ihr Fähnchen nach dem Wind hängen müssen. Warum sollte man sich auf so etwas einlassen? Er wechselte das Thema.
»Wenn dieser Juan Doe also unten in Mexican war – in der Nähe der Zuchtlabors –, wie ist dann seine Leiche nach Los Angeles gelangt?«
»Das ist nicht mein Ressort.« Sie stand am Geländer und blickte in das Tal mit seinen Millionen Lichtern, die in der klaren, kalten Luft funkelten. Sie hatte seine Jacke über die Schultern gelegt. Harry bestrich den Fisch mit einer Ananassoße und drehte ihn dann um.
»Hier beim Feuer ist es warm«, sagte er und machte sich weiter am Fisch zu schaffen. »Vielleicht soll niemand diese Vertragsfirma des USDA untersuchen, verstehst du. Die Leiche soll nicht mit dem Labor in Verbindung gebracht werden. Also schaffen sie sie weit weg.«
»Okay. Aber bis nach L. A.?«
»Vielleicht haben sie … Ach, ich weiß nicht. L. A. ist wirklich weit weg.«
Ein paar Augenblicke hingen sie beide schweigend ihren Gedanken nach. Bosch hörte, wie die Ananassoße auf die Kohlen tropfte und aufzischte. Ihr Aroma verbreitete sich allmählich über die Veranda. »Wie schmuggelt man eigentlich eine Leiche über die Grenze?«
»Es sind sicher schon größere Sachen rübergebracht worden, oder nicht?«
Er nickte.
»Bist du schon mal da gewesen, Harry, in Mexicali?«
»Nur durchgefahren auf dem Weg nach Bahia San Felipe, wo ich letzten Sommer fischen war. Nie dort angehalten. Und du?«
»Nie.«
»Kennst du den Namen der Stadt auf der anderen Seite der Grenze, auf unserer Seite?«
»Nein.«
»Calexico.«
»Mach keine Witze. Ist das, wo …«
»Genau.«
Der Fisch war fertig. Er legte ihn auf eine Platte und deckte den Grill zu. Sie gingen hinein. Zum Fisch servierte er Spanischen Reis, den er mit Pico Pico zubereitet hatte, und öffnete eine Flasche Rotwein. Blut der Götter. Weißen hatte er nicht. Nachdem alles fürs Essen fertig war, bemerkte er ihr Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Du hättest von mir eher ein Fertiggericht erwartet, stimmt’s?«
»Der Gedanke kam mir. Es sieht wunderbar aus.«
Sie stießen mit den Gläsern an und aßen schweigend. Sie lobte das Essen, aber er wußte, daß der Fisch ein bißchen zu trocken war. Sie verfielen wieder in Smalltalk. Er wartete die ganze Zeit auf eine Gelegenheit, sie über die Moore-Autopsie zu befragen. Sie kam erst, als sie ihre Serviette nach dem Essen auf den Tisch legte.
»Was wirst du jetzt machen?« fragte sie.
»Ich werde wohl den Tisch abräumen und dann …«
»Nein. Du weißt, was ich meine. Wegen Juan Doe.«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich will noch mal mit Porter reden. Wahrscheinlich dem USDA einen Besuch abstatten. Ich wüßte gern mehr darüber, wie die Fliegen von Mexiko hierher kommen.«
Sie nickte. »Ruf mich an, falls du den Entomologen sprechen willst. Ich kann ein Treffen arrangieren.«
Er beobachtete sie, wie ihre Augen wieder ins Leere zu starren begannen.
»Wie steht’s mit dir?« fragte er. »Was wirst du jetzt tun?«
»Was meinst du?«
»Die Probleme mit der Moore-Autopsie.«
»Ist das so offensichtlich?«
Er stand auf und räumte die Teller ab, aber sie blieb sitzen. Also setzte er sich auch wieder und goß den restlichen Wein in die Gläser. Eine Weile dachte er nach und kam zu dem Schluß, daß er ihr etwas anvertrauen mußte, wenn er das gleiche von ihr erwartete.
»Hör mir gut zu, Teresa. Ich glaube, wir sollten über bestimmte Sachen reden. Meiner Ansicht nach haben wir es mit zwei, eventuell drei Ermittlungen zu tun, die alle zusammenhängen. Wie die Speichen eines Rades.«
Sie schaute verwirrt auf. »Was für Fälle? Wovon redest du?«
»Mir ist klar, daß alles, was ich dir jetzt erzählen werde, außerhalb deines Arbeitsfeldes liegt. Aber du solltest darüber Bescheid wissen, um dich entscheiden zu können. Ich habe dich den ganzen Abend beobachtet, und ich sehe dir an, daß du in der Klemme steckst und nicht weißt, wie du wieder rauskommst.«
Er gab ihr eine Chance, ihn zu unterbrechen. Als sie es nicht tat, begann er mit der Festnahme Dances und ihrer Beziehung zur Ermordung von Jimmy Kapps.
»Als ich herausfand, daß Kapps Schwarzes Eis von Hawaii rüberschmuggelte, wandte ich mich an Cal Moore. Wegen der Konkurrenz, Schwarzes Eis. Ich wollte wissen, wo es herkommt, wo es erhältlich ist, wer es verkauft, damit ich mir ein Bild von der Person machen könnte, die Jimmy Kapps eventuell beseitigt hat. Kurz und gut, Moore hat mich hinters Licht geführt. Angeblich wußte er nichts, aber heute erfahre ich, daß er Material über Schwarzes Eis zusammenstellte. Er hat nichts rausgelassen zu meinem Fall. Gleichzeitig ermittelte er selbst in dieser Sache. Heute habe ich die Akte bekommen. Mit einem Zettel: ›Harry Bosch übergeben‹.«
»Was stand drin? In der Akte?«
»Eine Menge. Einschließlich eines Berichts, wonach die Hauptquelle von Schwarzem Eis wahrscheinlich eine Ranch in Mexicali ist.«
Sie starrte ihn an, sagte aber nichts.
»Damit kommen wir jetzt zu Juan Doe. Porter schmeißt den Kram hin, und ich krieg den Fall. Ich habe die Akte durchgelesen, und dreimal darfst du raten, wer die Leiche gefunden hat und am folgenden Tag verschwunden ist.«
»Scheiße.«
»Genau. Cal Moore. Was das bedeutet, weiß ich nicht. Aber er war der Polizist, der den Fund der Leiche gemeldet hat. Am nächsten Tag ist er spurlos verschwunden. In der Woche darauf wird er in einem Motelzimmer gefunden, mutmaßlich Selbstmord. Dann – nachdem die Entdeckung von Moores Leiche in den Zeitungen und im Fernsehen verbreitet wurde – ruft Porter am nächsten Morgen an und sagt: ›Wißt ihr was? Ich laß mich pensionieren.‹ Gerätst du da nicht ins Grübeln?«
Sie stand abrupt auf und ging zur Verandatür. Durchs Glas starrte sie hinaus zum Paß.
»Diese Schweine«, fluchte sie. »Sie wollen die Ermittlungen einstellen. Weil sie jemand in Verlegenheit bringen könnten.«
Bosch ging zu ihr.
»Du mußt mit jemandem darüber sprechen. Erzähl es mir!«
»Nein, ich kann nicht. Sag mir alles, was du weißt.«
»Das habe ich bereits getan. Der Rest ist ein ziemliches Durcheinander. In der Akte stand sonst nicht viel, nur daß die DEA Moore mitteilte, daß das Schwarze Eis aus Mexicali kommt. Deshalb habe ich den Standort des Zuchtlabors erraten. Schließlich haben wir Moore selbst. Er wuchs in Calexico und Mexicali auf. Du siehst, es gibt zu viele Zufälle, um an Zufall zu glauben.«
Sie schaute immer noch in die Nacht und hatte ihm den Rücken zugewandt. Aber das dunkle, spiegelnde Glas zeigte ihm, wie beunruhigt sie war. Er konnte ihr Parfüm riechen.
»Das Interessanteste an der Akte ist, daß Moore sie weder in seinem Büro noch in seinem Apartment aufbewahrte, sondern an einer Stelle, wo niemand vom DIE oder RM sie finden konnte. Und als die Leute von seinem Team sie entdeckten, klebte ein Zettel dran, daß sie an mich weiterzugeben war. Kapierst du?«
Ihr verwirrter Gesichtsausdruck im dunklen Glas antwortete für sie. Sie drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich dann in einen Sessel und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Harry setzte sich nicht, sondern ging vor ihr auf dem Parkettfußboden auf und ab.
»Warum sollte er diese Notiz auf einen Zettel schreiben? Sicher nicht für sich. Er wußte ja, daß er das Material für mich zusammenstellte. Der Zettel war also für jemand anders. Was können wir daraus schließen? Entweder wußte er, daß er Selbstmord begehen würde, oder er …«
»… wußte, daß jemand ihn umbringen würde«, vollendete sie den Satz.
Bosch nickte. »Oder ihm war zumindest klar, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Daß er in Gefahr war.«
»Mein Gott.«
Harry trat zu ihr und reichte ihr das Weinglas. Dann beugte er sich zu ihrem Gesicht hinab.
»Du mußt mir von der Autopsie erzählen. Irgend etwas stimmt nicht. Ich habe die Pressemitteilung gehört, mit der sie die Leute verscheißern wollen. Kein schlüssiges Ergebnis. Was soll der Scheiß? Seit wann kann man nicht mehr feststellen, ob jemand durch zwei volle Schrotladungen ins Gesicht getötet wurde oder nicht … Teresa, erzähl es mir! Wir können uns dann überlegen, was zu tun ist.«
Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf, aber Harry wußte, daß sie auspacken würde.
»Sie haben mir die Anweisung gegeben, weil ich mir nicht hundertprozentig … Harry, du darfst nicht verraten, von wem du die Information hast. Unter keinen Umständen.«
»Man wird nicht wissen, daß es von dir kommt. Ich werde die Information verwenden, aber man wird dich nicht verdächtigen. Das verspreche ich dir.«
»Sie haben mir gesagt, daß ich mit niemandem darüber sprechen darf, da ich nicht ganz sicher bin. Assistant Chief Irving, dieser arrogante Wichser, wußte genau, wo er die Schrauben fester anziehen mußte. Er kam auf die anstehende Ernennung zu sprechen. Daß die County Commission einen Direktor sucht, der weiß, was Diskretion ist, und daß er viele Freunde in der Commission hat. Ich möchte gern ein Skalpell …«
»Das ist im Moment nicht so interessant. Worüber warst du dir nicht hundertprozentig sicher?«
Sie leerte ihr Weinglas. Dann erzählte sie, was passiert war. Die Autopsie war routinemäßig abgelaufen, abgesehen davon, daß außer den ermittelnden Beamten Sheehan und Chastain vom DIE noch der Assistant Chief of Police, Irving, anwesend war. Zusätzlich war noch ein Labortechniker für den Vergleich der Fingerabdrücke da.
»Die Verwesung war in einem fortgeschrittenen Stadium. Ich mußte die Fingerkuppen abtrennen und mit einem chemischen Härtemittel besprühen. Collins, mein Labortechniker, war danach in der Lage, die Abdrücke abzunehmen. Er verglich sie gleich dort, weil Irving Moores Karte mitgebracht hatte. Sie stimmten überein. Es war Moore.«
»Was ist mit den Zähnen?«
»Das war schwierig. Es gab kaum Zähne, die nicht beschädigt worden waren. Wir haben ein Stück von einem Schneidezahn, das in der Wanne gefunden wurde, mit zahnärztlichen Unterlagen verglichen, die Irving besorgt hatte. Moore hatte an dem Schneidezahn eine Wurzelbehandlung gehabt, und dieser Sachverhalt stimmte überein mit dem Fragment.«
Nach der Identifizierung begann sie mit der Autopsie und stellte sofort fest, was offensichtlich war. Daß die Wirkung der zweifachen Schrotladung verheerend und unmittelbar tödlich war. Aber bei der Untersuchung des Materials, das durch die Wucht des Schusses vom Körper getrennt wurde, begann sie zu bezweifeln, ob sie Moores Tod für Selbstmord erklären konnte.
»Die Wucht der Schrotladung bewirkte eine vollständige Abtrennung der Schädeldecke. Nach den Richtlinien sind alle wichtigen Organe, einschließlich des Gehirns, zu untersuchen.
Das Problem war, daß das Gehirn wegen des weiten Streusektors größtenteils zerfetzt wurde. Mir wurde gesagt, daß die Schrotladung aus nebeneinanderliegenden Zwillingsläufen abgegeben wurde. Aber man konnte es auch anders sehen. Trotzdem blieben der Stirnlappen und ein angrenzendes Schädelstück fast unversehrt, auch wenn es abgetrennt war.
Du weißt, wovon ich spreche. Auf der Tatortskizze ist es als in der Wanne liegend eingezeichnet. Ist das … zu drastisch? Du hast ihn immerhin gekannt.«
»So gut auch wieder nicht. Mach weiter.«
»Ich habe das Stück also untersucht, allerdings nichts Neues erwartet. Aber ich hatte mich getäuscht. Entlang der Schädeldecke war deutlich eine Blutung im Gehirn zu erkennen.«
Sie nahm einen großen Schluck von seinem Glas und atmete tief aus, als ob sie einen Dämonen loswerden wollte.
»Und das, Harry, war ein verdammt beschissenes Problem.«
»Warum ist das ein Problem?«
»Du hörst dich wie Irving an. ›Warum ist das ein Problem?‹ Das sollte eigentlich klar sein. Aus zwei Gründen. Erstens tritt bei einem so plötzlichen Tod keine solche Blutung auf. Wenn das Gehirn buchstäblich in einer Sekunde vom Körper abgetrennt wird, gibt es keine starke Blutung auf der Gehirnhaut. Auch wenn man sich darüber streiten kann – und da mag Irving recht haben –, bestehen keine Zweifel hinsichtlich des zweiten Grundes. Die Blutung ist ein klares Indiz für eine Gegenschlagverletzung des Hirns. Das steht für mich außer Zweifel.«
Harry zog im Schnelldurchgang die Kenntnisse, die er sich über zehn Jahre bei Autopsien angeeignet hatte, zu Rate. Gegenschlagverletzungen treten auf der gegenüberliegenden Seite der Schlageinwirkung auf. Das Gehirn liegt wie ein Wackelpudding im Schädel. Ein Schlag auf die linke Seite verursacht in den meisten Fällen den größten Schaden auf der anderen Schädelseite, weil die Schlagenergie den Wackelpudding gegen die rechte Seite preßt. Die Blutung in Moores Gehirn konnte nur durch einen Schlag von hinten verursacht worden sein. Eine Ladung Schrot ins Gesicht konnte nicht diesen Effekt haben.
»Gibt es irgendeine Möglichkeit …« Er brach ab – unsicher, was er fragen wollte. Auf einmal wurde er gewahr, wie sehr sein Körper nach einer Zigarette lechzte, und er schlug die Oberseite einer neuen Schachtel auf die Handkante.
»Was passierte dann?« fragte er, während er eine Zigarette herauszog.
»Als ich begann, das zu erläutern, wurde Irving ziemlich sauer und fragte ständig: ›Sind Sie sicher? Ist das hundertprozentig akkurat? Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse?‹, und so weiter. Es war klar für mich, was er wollte. Es sollte Selbstmord sein und sonst nichts. Sowie ich Zweifel äußerte, sprach er von voreiligen Schlüssen und von der Notwendigkeit, in aller Ruhe vorzugehen. Ansonsten könnte die Polizei durch haltlose Annahmen und Vermutungen in Verlegenheit gebracht werden – Ende des Zitats. Verdammtes Arschloch.«
»Man soll keine schlafenden Hunde wecken«, sagte Bosch.
»Genau. Also habe ich ihm knallhart gesagt, daß ich den Fall nicht für Selbstmord erklären würde. Und dann … dann haben sie mir ausgeredet, ihn als Mord einzustufen. Deshalb ›kein schlüssiges Ergebnis‹. Ein Kompromiß. Provisorisch. Als ob alles meine Schuld wäre. Diese Schweine.«
»Sie werden den Fall schließen.« Er konnte es nicht verstehen. Der Widerstand mußte mit der DIE-Untersuchung zu tun haben. Worin auch immer Moore verstrickt gewesen war, Irving nahm an, daß es zu seinem Selbstmord oder Mord geführt hatte. So oder so – Irving hatte keine Lust, diese Tür zu öffnen, bevor er nicht wußte, was sich dahinter befand. Vielleicht würde er es nie wissen wollen. Bosch begriff, daß er auf sich allein gestellt war. Egal, was er herausfinden würde, wenn er es an Irving und RM weitergäbe, würde es unter den Teppich gekehrt. Wenn er also weitermachte, tat er das auf eigene Faust.
»Wissen sie, daß Moore für dich ermittelte?«
»Inzwischen werden sie wohl im Bilde sein. Wahrscheinlich wußten sie es noch nicht bei der Autopsie. Aber das wird nichts ändern.«
»Was ist mit Juan Doe? Daß Moore die Leiche gefunden hat.«
»Ich weiß nicht, ob sie davon Kenntnis haben.«
»Was wirst du tun?«
»Keine Ahnung. Ich weiß im Grunde gar nichts. Was wirst du tun?«
Sie schwieg lange, dann stand sie auf und kam zu ihm herüber. Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn auf die Lippen. »Laß uns die ganze Geschichte einmal vergessen … für eine Weile.«
Als sie sich liebten, gab er sich ihr ganz hin, ließ sie führen und seinen Körper benutzen, wie sie wollte. Sie waren schon oft genug zusammen gewesen, so daß sie miteinander vertraut waren und ihre Vorlieben kannten. Das Stadium der Neugier und Verlegenheit hatten sie hinter sich. Zum Schluß saß sie rittlings auf ihm, während er sich auf die Kissen am Kopfteil zurückgelehnt hatte. Ihr Kopf schlug zurück, und ihre kurzen Fingernägel vergruben sich schmerzlos in seiner Brust. Kein Laut kam aus ihrer Kehle.
In der Dunkelheit sah er auf und nahm ein silbernes Schimmern wahr, das von ihren Ohren tropfte. Er griff nach oben und berührte ihre Ohrringe. Dann fuhr er mit der Hand über ihre Kehle, ihre Schultern und Brüste. Ihre Haut war warm und feucht. Ihre langsamen, gleichmäßigen Bewegungen entführten ihn dorthin, wohin nichts in der Welt ihnen folgen konnte.
Als sie beide ruhten, sie immer noch auf ihm liegend, bekam er Schuldgefühle. Er dachte an Sylvia Moore. Wie konnte eine Frau, die er erst in der Nacht zuvor kennengelernt hatte, sich hierbei in seine Gedanken drängen. Aber das hatte sie. Er fragte sich, woher das Schuldgefühl kam. Vielleicht aus der Zukunft, die vor ihnen beiden lag.
Er glaubte, das kurze und hohe Bellen des Kojoten in der Ferne hinter dem Haus zu hören. Teresa hob den Kopf von seiner Brust, und dann hörten sie das einsame Heulen des Tieres.
»Timido«, hörte er sie leise sagen.
Schuldgefühle erfüllten ihn wieder. Er dachte an Teresa. Hatte er sie dazu überlistet, sich ihm anzuvertrauen? Er glaubte nicht. Möglicherweise waren es wieder Schuldgefühle, die sich auf die Zukunft bezogen. Auf das, was er mit der Information anfangen würde.
Sie schien zu fühlen, daß er in Gedanken nicht mehr bei ihr war. Vielleicht schlug sein Herz anders oder seine Muskeln verkrampften sich etwas.
»Nichts«, sagte sie.
»Was?«
»Du hast gefragt, was ich tun werde. Nichts. Ich werde meine Nase in diesen Scheiß nicht mehr reinstecken. Wenn sie die Sache begraben wollen, sollen sie es meinetwegen tun.«
Sie würde eine ausgezeichnete Chefärztin der Gerichtsmedizin von Los Angeles County sein. Er fühlte, wie der Abstand zwischen ihnen in der Dunkelheit wuchs.
Teresa rollte von ihm herunter und setzte sich auf die Bettkante. Ihr Blick ging zum Fenster und zum Dreiviertelmond. Sie hatten die Vorhänge offen gelassen. Der Kojote heulte noch einmal. Irgendwo in der Ferne schien ein Hund zu antworten.
»Bist du so wie er?« fragte sie.
»Wer?«
»Timido. Allein dort draußen in der dunklen Welt.«
»Manchmal. Jeder ist das manchmal.«
»Ja, aber dir gefällt das, nicht wahr?«
»Nicht immer.«
»Nicht immer …?«
Er überlegte sich, was er sagen sollte. Ein falsches Wort, und sie wäre auf und davon.
»Tut mir leid, wenn ich distanziert wirke«, setzte er an. »Es gibt so viele Dinge …«
Er brach ab. Es gab keine Entschuldigung.
»Du magst es, hier oben in diesem kleinen, einsamen Haus zu leben – ein Kojote der einzige Freund. Oder nicht?«
Er antwortete nicht. Ohne zu wissen warum, erinnerte er sich wieder an Sylvia Moores Gesicht. Aber ohne Schuldgefühle. Diesmal freute er sich sogar über ihre Erscheinung.
»Ich muß gehen«, sagte Teresa. »Morgen ist ein langer Tag.«
Er beobachtete, wie sie nackt ins Badezimmer ging und auf dem Weg ihre Handtasche vom Nachttisch nahm. Dann hörte er dem Rauschen der Dusche zu und stellte sich vor, wie sie sich seine Spuren von und aus ihrem Körper wusch. Danach würde sie sich mit dem Allzweckparfum besprühen, das sie immer in ihrer Handtasche mit sich führte, um die Gerüche ihres Berufes zu überdecken.
Er rollte zur Seite des Bettes, wo seine Kleider auf dem Boden lagen, und holte sein Adreßbuch aus der Tasche. Während das Wasser in der Dusche noch lief, wählte er. Ihre Stimme war benommen vom Schlaf. Es war fast Mitternacht.
»Sie wissen nicht, wer ich bin. Und dieses Gespräch hat nie stattgefunden.«
Es dauerte eine Weile, bis sie Harrys Stimme erkannte. »Okay, verstanden.«
»Es gibt ein Problem mit der Cal-Moore-Autopsie.«
»Das weiß ich doch. Kein schlüssiges Ergebnis. Deswegen müssen Sie mich nicht aufwecken.«
»Moment, Sie verstehen mich nicht. Sie werfen die Autopsie mit der Pressemitteilung durcheinander. Das sind zwei verschiedene Sachen. Kapiert?«
»Ja … Ich glaube. Also, was für ein Problem?«
»Der Assistant Chief of Police und die kommissarische Direktorin der Gerichtsmedizin sind verschiedener Meinung. Er sagt Selbstmord, sie Mord. Beides zugleich geht nicht. Ich denke, so etwas nennt man in einer Pressemitteilung ›kein schlüssiges Ergebnis‹.«
Übers Telefon war ein leises Pfeifen zu vernehmen.
»Interessant. Aber warum sollten die Cops einen Mord unter den Teppich kehren wollen, besonders, wenn es einen der ihren betrifft. Ich meine, Selbstmord läßt sie ganz schön beschissen aussehen. Warum sollten sie einen Mordfall verheimlichen, falls nicht etwas anderes …«
»Erfaßt«, sagte Bosch und legte den Hörer auf.
Eine Minute später wurde die Dusche abgestellt, und Teresa kam mit einem Handtuch heraus, mit dem sie sich abtrocknete. Verlegenheitsgefühle, nackt vor ihm herumzulaufen, kannte sie überhaupt nicht. Harry vermißte eine gewisse Scheu an ihr. Alle Frauen, mit denen er je eine Beziehung begonnen hatte, verloren sie nach einiger Zeit – bevor sie ihn dann verließen.
Während sie sich anzog, stieg er in seine Bluejeans und zog ein T-Shirt über. Niemand sagte etwas. Sie lächelte ihn verkrampft an, und er begleitete sie hinaus zum Wagen.
»Also bleibt es bei unserer Verabredung für Silvester?« fragte sie, nachdem er ihr die Wagentür geöffnet hatte.
»Natürlich.« Er wußte, daß sie mit einer Ausrede absagen würde.
Sie streckte sich nach oben und küßte ihn, dann stieg sie ein.
»Auf Wiedersehen, Teresa«, sagte er noch, aber sie hatte schon die Tür zugeschlagen.
Es war Mitternacht, als er ins Haus zurückging. Es roch nach ihrem Parfum. Und nach seinen Schuldgefühlen. Er legte Frank Morgans Mood Indigo auf den CD-Spieler. Ohne sich zu rühren, stand er im Wohnzimmer und hörte der Phrasierung des ersten Solos von Lullaby zu. Für Bosch gab es nichts Wahreres als den Sound eines Saxophons.