KAPITEL 40

Als ich am Morgen erwache, fühle ich mich zufrieden und verkatert. Als hätte ich über den Durst getrunken. Tommy ist nicht da, doch als ich die Ohren spitze, höre ich ihn unten. Ich strecke mich, spüre jeden Muskel, dann springe ich aus dem Bett.

Ich dusche, während ich bedaure, dass ich diesen Geruch von mir abwaschen muss, aber anschließend fühle ich mich erfrischt. Guter Sex kann so etwas bewirken. Wie ein guter Marathonlauf. Eine Dusche fühlt sich besser an, wenn man sich vorher richtig schmutzig gemacht hat.

Ich genieße dieses Gefühl für einige Minuten, dann ziehe ich mich an und gehe nach unten, wo ich Tommy in der Küche antreffe.

Er sieht genauso aus wie vorher, bevor wir miteinander ins Bett gestiegen sind. Nicht eine einzige Falte in seinem Anzug. Er ist vollkommen wach und fit. Er hat Kaffee gekocht und reicht mir eine Tasse.

»Danke«, sage ich.

»Fährst du bald?«

»In ungefähr einer halben Stunde. Ich muss zuerst einen Anruf erledigen.«

»Sag mir Bescheid, wenn du so weit bist.« Er betrachtet mich für einen Moment, rätselhaft wie die Sphinx von Theben, bis schließlich ein Lächeln seine Lippen umspielt.

Ich hebe eine Augenbraue. »Was?«

»Ich hab bloß an vergangene Nacht denken müssen.«

Ich sehe ihn an. »Es war wundervoll«, sage ich leise.

»Ja.« Er neigt den Kopf. »Weißt du eigentlich, dass du mich nicht einmal gefragt hast, ob ich nicht schon vergeben bin?«

»Ich dachte, wenn es so wäre, hättest du es nicht so weit kommen lassen. Habe ich mich geirrt?«

»Nein.«

Ich sehe auf meine Kaffeetasse. »Hör zu, Tommy, ich möchte etwas sagen wegen der letzten Nacht. Wegen dem, was du gesagt hast. Dass du nicht sicher wärst, ob es zu etwas führen würde oder nicht. Ich möchte, dass du weißt, dass ich ernst gemeint habe, was ich gesagt habe. Wenn es nirgendwohin führt, dann ist es wirklich okay. Aber …«

»Aber wenn doch, dann ist es auch okay«, sagt er. »Ist es das, was du sagen willst?«

»Ja.«

»Gut. Ich denke nämlich genauso.« Er streckt die Hand aus, streichelt mir über das Haar. Ich lehne mich an ihn, für einen Augenblick. »Ich meine es ehrlich, Smoky. Du bist eine phantastische Frau. Das habe ich schon immer gedacht.«

»Danke.« Ich lächle ihn an. »Wie nennen wir es dann? Einen One-Night-Stand mit Aussichten?«

Er lässt die Hand sinken, lacht. »Das gefällt mir. Lass mich wissen, wenn du fertig bist.«

Ich nicke und gehe. Ich fühle mich nicht nur gut, sondern sogar behaglich. Wie auch immer es enden mag, weder Tommy noch ich werden die letzte Nacht bereuen. Gott sei Dank.

Ich kehre nach oben zurück, spüre allmählich mein Schlafdefizit und halte meinen Kaffee, als wäre er das reine Elixier des Lebens. Es ist erst halb neun, doch ich bin sicher, dass Elaina eine Frühaufsteherin ist. Ich wähle ihre Nummer.

Elaina meldet sich. »Hallo?«

»Hi, ich bin’s, Smoky. Tut mir Leid wegen gestern Abend. Wie geht es ihr?«

»Sie scheint glücklich. Sie redet noch immer nicht, aber sie lächelt viel.«

»Wie hat sie geschlafen?«

Ein Zögern. »Sie hat letzte Nacht im Schlaf geschrien. Ich habe sie geweckt und in den Armen gehalten. Danach ging es ihr wieder gut.«

»Gütiger Gott. Es tut mir Leid, Elaina.« Ich spüre die Schuld einer Mutter bei ihren Worten. Während ich den Mond angeheult habe, hat Bonnie wegen ihrer Vergangenheit geschrien. »Du hast keine Ahnung, wie dankbar ich dir dafür bin.«

»Sie ist ein Kind, das zutiefst verwundet wurde, und sie braucht Hilfe, Smoky. Das ist keine Last in unserem Haus, und es wird niemals eine sein.« Ihre Worte sind die einfache Feststellung einer Tatsache, und sie kommen von Herzen. »Möchtest du mit ihr reden?«

Mein Herz droht auszusetzen. Mir wird bewusst, wie sehr ich es mir wünsche. »Bitte, ja.«

»Warte einen Moment.«

Eine Minute später kommt Elaina zum Telefon zurück. »Sie ist hier. Ich gebe ihr jetzt den Hörer.«

Fummelnde Geräusche, dann höre ich Bonnies leisen Atem.

»Hi, Honey«, sage ich. »Ich weiß, du kannst nicht antworten, deswegen rede ich für uns beide. Es tut mir wirklich Leid, dass ich gestern Abend nicht gekommen bin, um dich zu holen. Ich musste lange arbeiten. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, und du warst nicht da …« Meine Stimme versagt. Ich höre sie atmen. »Ich vermisse dich, Bonnie.«

Schweigen. Erneut fummelnde Geräusche, gefolgt von Elainas Stimme. »Warte, Smoky.« Sie spricht vom Telefon abgewandt. »Möchtest du Smoky etwas sagen, Liebes?« Weiteres Schweigen. »Ich sage es ihr.« Dann spricht sie wieder in den Hörer. »Sie hat mir ein wunderschönes Lächeln geschenkt und sich umarmt und auf das Telefon gedeutet.«

Mein Herz verkrampft sich. Ich brauche keine Übersetzung für die Bedeutung ihrer Worte. »Sag ihr das Gleiche von mir, Elaina. Ich muss jetzt auflegen, aber ich komme heute Abend vorbei, um sie abzuholen. Keine weiteren Übernachtungen bei euch, wenn ich es vermeiden kann. Zumindest für eine Weile.«

»Wir sind jedenfalls hier.«

Ich bleibe eine Minute sitzen, nachdem ich aufgelegt habe, und starre ins Leere. Plötzlich sind mir die Schichten meiner Emotionen bewusst, die offensichtlichen wie die unterschwelligen. Ich habe starke Gefühle für Bonnie. Zärtliche, beschützende und sehnsüchtige Gefühle. Sie sind stark und real. Doch es gibt noch andere Gefühle, leise, flüsternd, subtil. Sie durchziehen mein Ich wie trockene Blätter, die der Wind vor sich hertreibt. Ärger ist eines davon. Ärger, dass ich nicht glücklich sein kann über meine eine Nacht mit Tommy. Es ist ein schwaches Gefühl, aber es will nicht weichen. Wie die Selbstsucht eines kleinen Mädchens, das nicht teilen mag. Du verdienst kein Glück, flüstert es mir beharrlich ein.

Und da ist die Stimme der Schuld. Es ist eine glatte Stimme, wie Öl, schlangengleich. Sie stellt nur eine Frage, eine bohrende: Wie kannst du es wagen, glücklich zu sein, wenn sie es nicht ist?

Wiedererkennen durchzuckt mich. Ich habe diese Stimmen schon früher gehört, alle, ohne Ausnahme. Als Alexas Mutter. Eine Mutter zu sein ist kein Ein-Noten-Stück, kein Schauspiel in einem Akt. Es ist komplex, enthält Liebe und Zorn, Selbstlosigkeit und Selbstsucht zugleich. Manchmal ist man überwältigt von der Schönheit des eigenen Kindes. Und manchmal wünscht man sich, zumindest für einen ganz kurzen Moment, dass man überhaupt kein Kind hätte.

Ich fühle all diese Dinge, weil ich im Begriff bin, Bonnies Mutter zu werden. Und dieses Vorhaben lässt eine neue, schuldbeladene Stimme voller Tadel und Elend erschallen: Wie kannst du es wagen, sie zu lieben?

Erinnerst du dich denn nicht? Deine Liebe bringt den Tod. Statt mich niederzuwerfen, macht mich diese Stimme wütend. Ich wage es, antworte ich, weil ich es muss. So ist das, Mutter zu sein. Liebe hilft dir durch das Gröbste, Pflichtgefühl durch den Rest.

Ich will, dass Bonnie sicher ist, dass sie ein Zuhause hat und das Gefühl, dass dieses Zuhause real ist.

Ich fordere die Stimme auf, sich dazu zu äußern. Sie schweigt.

Gut. Es ist Zeit, zur Arbeit zu fahren.

 

Die Tür zum Büro fliegt auf, und Callie kommt herein. Sie trägt eine Sonnenbrille und umklammert einen Becher Kaffee.

»Sprich mich nicht an«, wehrt sie ab. »Ich hab noch nicht genug Koffein zu mir genommen.«

Ich schnüffele die Luft ein. Callie hat immer den besten Kaffee von allen. »Mmm«, sage ich. »Was ist das? Haselnuss?«

Sie wendet sich von mir ab und umklammert den Kaffee noch fester. Verzieht einen Mundwinkel. »Das ist meiner.«

Ich gehe zu meiner Tasche, greife hinein und nehme ein Paket kleiner Schokoladendonuts hervor. Ich sehe, wie Callies Augenbrauen in die Höhe schießen. Ich winke mit den Donuts. »Oh, sieh mal, Callie, was ich hier habe. Schokoladendonuts. Lecker, lecker.«

Auf ihrem Gesicht liegen die Emotionen im Widerstreit. »Prima«, sagt sie schließlich und schneidet eine Grimasse. Sie packt den Becher auf meinem Schreibtisch und füllt ihn zur Hälfte mit ihrem Kaffee auf. »Und jetzt gibst du mir zwei von deinen Donuts.«

Ich nehme zwei aus der Verpackung und schiebe sie ihr hin, während sie mir die Kaffeetasse reicht. Es ist wie bei einem Geiselaustausch. Als ich die Tasse packe, reißt sie mir die Donuts aus der Hand. Während sie sich an ihren Schreibtisch setzt und das Gebäck isst, genieße ich ihren Kaffee.

Himmlisch.

Callie isst ihre Donuts und trinkt Kaffee, und ich spüre ihren Blick auf mir ruhen. Nachdenklich und durchbohrend zugleich, selbst durch die Sonnenbrille hindurch.

»Was ist?«, frage ich.

»Erzähl du es mir«, meint sie und nimmt einen weiteren Bissen von ihrem Donut.

Meine Güte, denke ich. Ist diese alte Legende wahr? Dass man es sehen kann, wenn man mit jemandem geschlafen hat? »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«

Sie sieht mich weiter unverwandt durch ihre Sonnenbrille hindurch an, während sie mir ein breites Grinsen schenkt wie das einer trägen Cheshire-Katze. »Wie du meinst, Zuckerschnäuzchen.«

Ich beschließe, sie zu ignorieren.

Leo, Alan und James treffen in kurzen Abständen im Büro ein. Leo sieht aus, als wäre er von einem Laster überrollt worden. James sieht aus wie immer.

»Los, kommt her«, sage ich zu ihnen. »Zeit für eine Besprechung. Leo und James, wie weit sind wir mit der Suche nach dem Usernamen und dem Passwort?«

Leo fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Wir haben alle Betreiber erreicht, und alle kooperieren.« Er wirft einen Blick auf seine Uhr. »Ich hab vor einer halben Stunde mit dem letzten gesprochen. Wir müssten die Ergebnisse innerhalb der nächsten Stunde vorliegen haben.«

»Benachrichtige mich sofort. Callie, was macht die DNS-Analyse?«

»Gene sagt, er hätte die Ergebnisse am frühen Abend. Falls es DNS-Spuren gibt und falls diese DNS in der Datenbank gespeichert ist, wissen wir bis zum Abendessen, um wen es sich handelt.«

»Wäre das nicht ein Knaller?«, fragt Alan.

»Ganz sicher«, antworte ich. »Bis dahin jedoch – wann ist Dr. Child bereit, sich mit mir zu treffen?«

»Jederzeit nach zehn«, antwortet Callie.

»Gut. Callie und Alan – ihr setzt euch mit Barry in Verbindung und seht, was die Spurensicherung herausgefunden hat.«

»Klar, Zuckerschnäuzchen.«

»Ich gehe jetzt zu Dr. Child.« Ich blicke alle der Reihe nach an. »Arbeitet ihr inzwischen weiter.«

Es ist Zeit, ein weiteres Netz auszuwerfen.

 

Ich klopfe an Dr. Childs Tür, bevor ich sein Büro betrete. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch und liest in einer dicken Akte. Er blickt auf, als ich meinen Kopf in sein Büro stecke, und lächelt mir zu.

»Smoky. Gut, Sie zu sehen. Kommen Sie herein.« Er deutet auf die Stühle vor seinem Schreibtisch. »Bitte nehmen Sie Platz. Ich muss vorher nur noch schnell meine Notizen durchgehen. Ein faszinierender Fall.«

Ich setze mich und beobachte Dr. Child beim Lesen. Er ist ein Mann Ende fünfzig. Weißhaarig, mit einer Brille und einem Bart. Er sieht zehn Jahre älter aus, wirkt ständig müde, und seine Augen haben einen gejagten Ausdruck, der niemals weggeht, nicht einmal, wenn er lacht. Er späht seit nahezu dreißig Jahren in die Gehirne von Serienmördern. Sehe ich in zwanzig Jahren auch so aus?, frage ich mich.

Er ist der einzige Mensch, dem ich mehr vertraue als James und mir selbst, wenn es um Erkenntnisse darüber geht, was diese Ungeheuer antreibt.

Er nickt vor sich hin und blickt schließlich auf. Lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück. »Sie und ich, wir haben schon häufiger zusammengearbeitet, Smoky. Also wissen Sie, dass ich die Neigung besitze, so zu tun als ob. Genau das gedenke ich auch jetzt zu tun. Haben Sie etwas dagegen?«

»Nicht das Geringste, Doc. Schießen Sie los.«

Er legt die Fingerspitzen unter dem Kinn zusammen. »Ich werde so tun, als handelte es sich hier um ein einzelnes Individuum. Die hinter Jack Junior stehende Person ist unser Primärziel und die dominante Persönlichkeit. Stimmen Sie mir darin zu?«

Ich nicke.

»Gut. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste ist, fürchte ich, eher unwahrscheinlich. Dass er nur so tut. Dass seine Behauptung, ein Nachfahre von Jack the Ripper zu sein, Teil eines Rollenspiels ist und Sie auf eine falsche Fährte lenken soll. Ich halte diese Sicht der Dinge für abwegig und glaube nicht, dass sie uns weiterhilft.

Die zweite Möglichkeit ist wahrscheinlicher und obendrein höchst ungewöhnlich. Wir haben es hier mit einem Fall von Erziehung gegen die Natur zu tun. Einer Art Langzeit-Gehirnwäsche. Irgendjemand hat eine lange Zeit damit verbracht, unserem Jack Junior die Identität einzuprägen, die er nun angenommen hat. Meiner Meinung nach muss man damit bereits in sehr jungem Alter begonnen haben, um so erfolgreich zu sein. Es wäre möglich, dass einer oder beide Elternteile dies getan haben.

Unsere bisherigen Erkenntnisse zeigen, dass die meisten Serienmörder eine sehr ähnliche Vergangenheit aufweisen. Üblicherweise gehört dazu Missbrauch in früher Kindheit. Dabei kann es sich um Misshandlungen oder um sexuellen Missbrauch handeln; in der Regel ist es beides. Das Resultat ist Wut, eine rasende Wut, und die Missbrauchten sind nicht imstande, diese Wut gegen die Täter zu richten, die größer und stärker sind als sie und in einer Position der emotionalen Autorität und des Vertrauens. Der Täter ist fast immer der Vater oder die Mutter. Die missbrauchte Person liebt diesen Täter und ist im Innern davon überzeugt, dass der Missbrauch auf irgendeine Weise gerechtfertigt ist. Verursacht durch irgendetwas, das sie falsch gemacht hat.

Wut benötigt ein Ventil. Ohne ein konkretes Ziel wird sie von den Opfern beinahe zwangsläufig auf dreierlei Art umgelenkt. Zunächst in Form von Gewalt gegen sich selbst; dazu gehört chronisches Bettnässen. Dann durch Gewalt gegen die Umwelt, etwa durch das Legen kleiner Brände. Und schließlich, in einer eskalierenden Gewaltspirale, die mit Übergriffen auf schwächere Lebewesen beginnt – meist auf kleinere Tiere, die gequält und getötet werden. Sobald die Missbrauchten selbst erwachsen sind, tun sie dasselbe dann logischerweise auch Menschen an.

Dies ist natürlich eine starke Vereinfachung. Menschen sind keine Roboter, und kein Verstand funktioniert wie der andere. Nicht alle Opfer nässen ins Bett oder töten kleine Tiere. Der Missbrauch wird nicht immer vom Vater oder von der Mutter begangen. Insgesamt jedoch trifft, wie unsere Erfahrungen zeigen, dieses vereinfachende Grundmuster zu.«

Er lehnt sich zurück und sieht mich an.

»Es gibt allerdings Ausnahmen, Smoky. Sie sind selten, doch es gibt sie. Sie dienen denjenigen als Argument, die glauben, dass die menschliche Natur die Erklärung für alles liefert. Mörder, die aus anständigen Umfeldern kommen und anständige Eltern hatten. Schlechte Anlagen, ohne erkennbaren Grund für das, was sie tun.« Dr. Child schüttelt den Kopf. »Warum muss es entweder das eine oder das andere sein? Ich war – wie viele andere auch – stets der Meinung, dass beides die Ursache bilden kann. Natur und Erziehung. Dabei ist die Erziehung, wie ich bereits sagte, die am häufigsten zu beobachtende Ursache.« Er klopft auf den Bericht, der vor ihm liegt. »In diesem Fall hier gibt es zahlreiche Abweichungen. Er sagt, er sei weder misshandelt noch sexuell missbraucht worden. Er hat seinen Worten gemäß weder kleine Tiere gefoltert oder getötet noch Brände gelegt. Möglich, dass er lügt. Vielleicht will er es selbst auch nicht wahrhaben. Doch falls es stimmt, dann stellt er etwas Neues dar. Einen Serienmörder vom Reißbrett sozusagen. Jemand, dem so stark und über so lange Zeit ein Glaubenssystem infiltriert wurde, dass es für ihn zur absoluten Wahrheit wurde. Falls dies zutrifft, dann haben wir es hier mit einem extrem gefährlichen Täter zu tun. Er trägt keine alten, durch Missbrauch und Misshandlungen verursachten Verletzungen der Seele mit sich herum und leidet daher nicht an dem schwachen Selbstvertrauen, das diese Dinge bewirken.

Er wäre imstande, extrem rational vorzugehen. Er würde keine Schwierigkeiten haben, sich in die Gesellschaft einzugliedern. Vielleicht ist er sogar genau darauf trainiert worden.

Jack Junior würde das, was er tut, in der Vorstellung tun, dass es seine Bestimmung ist. Dass er dazu geboren wurde. Er würde es nicht als falsch ansehen. Weil man ihm von dem Moment an, in dem er gesprochene Worte verstehen konnte, genau das Gegenteil eingetrichtert hat.«

Dr. Child sieht mich an. »Er ist auf Sie fixiert, Smoky, weil er Sie braucht, um seine Phantasie zu vervollständigen. Er hat es selbst zugegeben, dass Jack the Ripper gejagt werden muss, vorzugsweise von einem brillanten Beamten. Er hat Sie dafür ausgewählt. Eine scharfsinnige Wahl.«

Er beugt sich vor, tippt erneut auf die Akte. »Die Wahrheit über den Inhalt des Glases, das er Ihnen geschickt hat – die Tatsache, dass er von einem Rind stammt und nicht von einem Menschen, wie er zu glauben scheint –, könnte sich als Ihre stärkste Waffe gegen ihn erweisen. Der Inhalt des Glases ist ein Symbol für alles, woran er glaubt. Er hat es stets als Wahrheit akzeptiert. Wenn er herausfindet, dass dieses Symbol eine Lüge ist, immer schon gewesen ist … es könnte ihn zerschmettern. Könnte seine kunstvoll errichtete Welt zum Einsturz bringen.« Dr. Child lehnt sich erneut zurück. »Er hat sich als extrem gerissen, organisiert und präzise erwiesen. Wenn er die Wahrheit über den Inhalt des Glases erfährt, könnte es ihn vernichten. Selbstverständlich gibt es eine weitere Möglichkeit, die wir nicht ignorieren dürfen. Dass er die Wahrheit über das Glas einfach von der Hand weist. Dass er sich darauf versteift, es wäre nichts als eine Lüge, die ihn verunsichern soll. In einem solchen Szenario würde er dem Individuum die Schuld geben, das ihm diese ›Lüge‹ offenbart hat. Er würde einen überwältigen Drang verspüren, dieses Individuum zu vernichten …

Jedes der beiden Szenarien hat seine nützlichen Aspekte, nicht wahr?«

Ich nicke. »Das stimmt.«

»Seien Sie sich der Tatsache bewusst, das jedes dieser Szenarien auch mögliche Gefahren birgt. Wenn das, worauf Jack Junior sein Leben aufgebaut hat, mit einer solchen Plötzlichkeit unter ihm weggezogen wird, könnte er suizidal werden. Allerdings wird er kaum allein sterben wollen.«

Ich begreife, was er mir sagen will. Ein außer Kontrolle geratener Jack Junior, bar jeder Hoffnung, könnte sich in einen Selbstmordattentäter verwandeln. Dr. Child mahnt mich, auf diese Möglichkeit vorbereitet zu sein.

»Was ist mit Ronnie Barnes?«, frage ich.

Er nickt, blickt zur Decke hinauf. »Ja. Der junge Mann, von dem er behauptet, ihn im Internet gefunden und ihn für seine Zwecke ›erzogen‹ zu haben. Sehr interessant – wenn auch nicht ganz ohne Beispiel. Morden im Team ist nicht so selten, wie manche Leute glauben. Charles Manson mag die berühmteste Gruppe von Mördern angeführt haben, doch er war weder der erste noch der letzte.«

»Genau«, antworte ich. »Mir fallen auf Anhieb zwanzig derartige Fälle ein.«

»Genau darauf will ich hinaus. Schätzungsweise fünfzehn Prozent aller Opfer von Serienmorden gehen auf das Konto von Teams. Und obwohl der vorliegende Fall spezielle Eigenheiten aufweist, so passt er dennoch in das allgemeine Schema. Mörderteams bestehen in der Regel aus zwei Individuen; ab und zu gibt es auch größere. Es gibt immer eine dominante Gestalt, jemanden mit einer besonderen Energie oder Phantasie. Er oder sie inspiriert die anderen, ermuntert sie, die Phantasie in die Tat umzusetzen. Alle Beteiligten haben psychopathische Züge, doch zumindest in einigen Fällen wären die anderen ohne die zentrale Gestalt niemals zu Tätern geworden, weil sie den Schritt zum Mord nicht allein hätten machen können.« Er lächelt, und ich meine, einen müden Zynismus in seinem Gesicht zu erkennen. »Damit will ich nicht sagen, dass sie die Opfer waren. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die nicht dominierenden Mitglieder eines solchen Teams nach der Verhaftung behaupten, zu ihren Taten gezwungen worden zu sein. Aber die Beweise widerlegen diese Behauptungen fast immer.«

»Die Ripper Crew«, sage ich.

Dr. Child lächelt erneut. »Exzellentes Beispiel. Und eins aus relativ junger Vergangenheit obendrein.«

Es handelt sich um die so genannten Chicago Rippers aus den 1980ern. Ein Psychopath namens Robin Gecht führte ein Team aus drei anderen, gleichgesinnten Männern an. Als sie endlich gefasst wurden, hatten sie mindestens siebzehn Frauen vergewaltigt, geschlagen, gefoltert und erwürgt. Gechts Ripper Crew trennte ihren Opfern in mehreren Fällen eine oder beide Brüste ab, die sie für spätere sexuelle Handlungen benutzten und teilweise sogar verspeisten.

»Gecht hat keines der Opfer selbst umgebracht, oder?«, frage ich.

»Nein, das hat er nicht. Doch er war die treibende Kraft hinter allem. Ein sehr charismatischer Mann.«

»Ähnlich wie Jack Junior«, sinniere ich. »Wenn auch nicht das Gleiche.«

Dr. Child neigt den Kopf, betrachtet mich interessiert. »Erklären Sie mir das.«

»Es ist nur ein Gefühl, das ich von Jack Junior habe. Zugegeben, er ist der Dominante. Er entscheidet, wann etwas geschieht, und er sucht das Opfer aus. Doch innerhalb der meisten Teams gibt es eine persönliche Beziehung zwischen den Mitgliedern. Sie geben einander etwas. Sie sind pervers, aber sie sind ein Team. Jack Junior hat Ronnie Barnes geopfert, und das nur, um mich zu treffen und uns zu verwirren.« Ich schüttele den Kopf. »Ich denke nicht, dass er sie braucht, um seine Phantasien zu verwirklichen. Nicht emotional jedenfalls.«

Dr. Child legt die Fingerspitzen aneinander, während er darüber nachdenkt. Er seufzt. »Nun ja, das würde zumindest zu seinen beiden unterschiedlichen Opferkategorien passen.«

»Sie meinen, die zweite sind wir.«

»Genau. Das macht ihn gefährlicher. Er ist ein Mann mit einem Plan. Mr. Barnes und alle anderen sind lediglich die Bauern. Spielsteine, die er auf seinem Schachbrett nach Belieben verschiebt. Weniger emotionale Bindungen verringern die Wahrscheinlichkeit, dass er sich verfängt.«

Großartig. »Wie geht er Ihrer Meinung nach bei der Suche nach potentiellen Mittätern vor?«, frage ich.

»Offensichtlich bietet ihm das Internet sowohl die erforderliche Anonymität als auch den Zugang zu derartigen Kreaturen.« Dr. Child blickt beinahe melancholisch drein. »Es ist die ewige Ironie. Weltverändernde Erfindungen können wunderbare Dinge bewirken, aber auch missbraucht werden. Auf der einen Seite hat das Internet politische Grenzen eingerissen. Noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen E-Mails aus Russland zu uns. Menschen an den verschiedensten Orten der Welt können in Sekundenschnelle miteinander kommunizieren. Amerikaner und Eskimos finden heraus, dass sie sich gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Auf der anderen Seite bietet das Internet den Jack Juniors dieser Welt ein nahezu schrankenloses Umfeld. Webseiten mit Vergewaltigung oder Pädophilie als einzigem Thema, Seiten mit fotografischen Gräueln wie Erschießungen oder den blutigen Resultaten von Autounfällen und dergleichen mehr.«

Er sieht mich an. »Um Ihre Frage zu beantworten, Smoky: Angesichts der uns bis jetzt vorliegenden Fakten sucht er in diesen abstoßenden Ecken des Internets nach Jüngern, insbesondere dort, wo er zunächst unerkannt beobachten kann. Für ihn ist es wichtig, zunächst einmal nur beobachten zu können. Er hält Ausschau nach Nutzern, die bestimmte Neigungen offenbaren. Wie alle Manipulatoren sucht er nach Schlüsselworten und -themen, die es ihm ermöglichen, sich einzuschmeicheln und als kompetent darzustellen. Allerdings …«, an dieser Stelle beugt sich Dr. Child vor, »… allerdings muss er sie irgendwann persönlich treffen. E-Mails und Chatrooms reichen nicht aus, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zum einen wegen der Sicherheit. Es ist viel zu leicht, eine Online-Identität zu fälschen. Jack ist zwar risikofreudig, aber er ist nicht leichtsinnig. Er bereitet sich vor, bevor er ein Risiko eingeht. Er will sicher sein, dass die Person, mit der er sich unterhalten hat, tatsächlich mit der übereinstimmt, für die sie sich ausgegeben hat.«

»Warum noch?«, frage ich.

»Aus Gründen der Gegenseitigkeit. Die, mit denen Jack in Kontakt tritt, wollen genauso wissen, ob er der ist, für den er sich ausgibt. Außerdem glaube ich nicht, dass sich irgendjemand dazu überreden lassen würde, seine Phantasien auszuleben, ohne vorher persönlich mit Jack zusammengetroffen zu sein. Nein. Wenn ich er wäre, würde ich mir Zeit lassen, mich umsehen und meine Liste anfertigen. Als Nächstes würde ich nach einem Weg suchen, die Identität der Aufgelisteten zu überprüfen. Erst dann würde ich einen Online-Kontakt herstellen, gefolgt von persönlichen Treffen. Von da an kann er sich seine Beeinflussungsmethode aussuchen. Vielleicht fängt er in kleinen Schritten an. ›Komm, wir gehen in einen Puff. Wir verprügeln eine Prostituierte, aber wir bringen sie nicht um. Als Nächstes töten wir eine Katze und sehen ihr in die Augen, während das Tier stirbt.‹ Indem er langsam voranschreitet, zerbricht er die schwachen moralischen Gerüste, die sich manche errichtet haben, um ihr Verhalten zu regulieren und sich menschlich zu fühlen. Und nachdem man bereits einen Fuß in die Hölle gesetzt hat, warum nicht auch den zweiten? Schließlich dürfen wir eines nicht vergessen: Für sie ist die Hölle der Himmel.«

»Wie lange braucht er, um so etwas zu bewerkstelligen? Einen anderen Menschen zu konditionieren und ihn dazu zu bringen, diese Linie zu überschreiten?«

Dr. Child sieht mich an. »Sie wollen wissen, wie viele weitere Gehilfen er sich geschaffen haben mag, nicht?«

»Im Prinzip ja.«

Er breitet die Hände aus. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es hängt von zu vielen Faktoren ab. Wie lange tut er es schon? Aus welchem Pool schöpft er seine Jünger? Wenn er beispielsweise auf Bewährung entlassene Vergewaltiger kontaktiert … nun ja, der Sprung von Vergewaltigung zu Mord ist nur klein.«

Ich sehe in seine müden Augen und lasse seine Worte auf mich wirken. Wie viele Jahre? Wie viele Jünger hat Jack Junior um sich geschart? Wie sollen wir das herausfinden? Wir können es nicht wissen.

»Ich habe noch eine Frage, Doc. Sie haben gesagt, er würde Risiken eingehen. Dieser ganze Prozess, Jünger um sich zu scharen, ist nicht ungefährlich. Jeder einzelne dieser Jünger könnte zur Schwachstelle werden.« Ich schüttele den Kopf. »Es erscheint mir so widersprüchlich. Auf der einen Seite ist er gerissen, sehr gerissen, und äußerst vorsichtig. Auf der anderen geht er große Risiken ein. Ich begreife das nicht.«

Dr. Child lächelt. »Haben Sie an die einfachste Erklärung für diesen Widerspruch gedacht?«

Ich runzle die Stirn. »Der wäre?«

»Dass er wahnsinnig ist.«

Ich starre Dr. Child an. »Das ist alles? ›Dass er wahnsinnig ist‹?«

»Ich werde es ein wenig erklären.« Sein Gesicht wird ernst. »Wir haben es meiner Meinung nach mit zwei Faktoren zu tun. Einer davon passt zu seinen Phantasien. Dieses verdrehte ›Voranbringen der Spezies‹, das Weiterreichen der Ripper-Fackel und so weiter.« Er zögert. »Der andere ist Gier.«

»Gier?«

»Die Gier, die alle Serientäter antreibt. Sie spüren einen Zwang, das zu tun, was sie tun. Dieser Zwang ist stärker als ihre Vorsicht.« Er hebt die Hand. »Dieser Prozess, mit anderen in Kontakt zu treten, sie zu manipulieren, sie zu formen, ist irrational. Er wird von etwas anderem als Vernunft getrieben. Von Gier. Ein Teil seines Hungers wird gestillt, indem er sich Jünger heranzieht, und das dadurch erzeugte Gefühl ist für ihn befriedigender und wichtiger als seine Sicherheit.«

»Also ist er schlicht verrückt?«

»Wie ich bereits sagte.«

Ich denke über seine Worte nach. »Aber warum Jack the Ripper? Warum diese Besessenheit von Huren?«

»Ich glaube, das eine ist der Grund für das andere. Die Huren sind die Auslöser für die Ripper-Wahnvorstellungen. Wer auch immer dieses Hirngespinst zusammengebraut hat … hatte ein Problem mit Frauen. Möglicherweise ausgelöst durch Missbrauch oder beobachteten Missbrauch. Ironischerweise ähneln die Motive und Gründe für die heutigen Kopien von Jack the Ripper jenen, die den ursprünglichen Ripper angetrieben haben. Frauenhass gemischt mit unbefriedigter Sexualität und verleugnetem Verlangen. Das alte Lied.«

»Also noch einmal: Er ist verrückt. Und derjenige, der ihn indoktriniert hat, war vollkommen durchgedreht.«

»Ja.«

Berechenbar und unberechenbar; getrieben sowohl von Verstand als auch von Wahnsinn. Großartig. Trotzdem habe ich das Gefühl, ihn jetzt ein wenig besser zu kennen.

»Ich danke Ihnen, Dr. Child. Sie waren mir eine große Hilfe, wie immer.«

Er sieht mich aus seinen traurigen, müden Augen an. »Es ist mein Beruf, Agent Barrett. Ich lasse Ihnen meinen Bericht zukommen. Und bitte – seien Sie vorsichtig mit diesem Mörder. Er ist etwas Neues. Das mag vom klinischen Standpunkt her vielleicht interessant erscheinen …« Er zögert, sieht mir in die Augen. »Aber neu heißt in diesem Zusammenhang lediglich gefährlich.«

Ich spüre, wie sich der Drache in mir rührt. Herausfordernd. Trotzig. »Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie sich die Sache von meiner Seite des Zauns aus darstellt, Doc. Wie er es macht und warum er es macht, mag vielleicht neu sein. Aber das, was er tut?« Ich schüttele grimmig den Kopf. »Daran ist absolut nichts Neues. Mord bleibt Mord.«