KAPITEL 14
»Also, damit ich das richtig verstehe«, sagt Alan, »er hat dieses Video nicht nur aufgenommen, er hat sich auch noch hingesetzt und es bearbeitet?«
Leo nickt heftig. »So ist es. Allerdings nicht auf diesem Computer. Die Kapazität der Festplatte ist nicht groß genug dazu, und es ist keine Bearbeitungssoftware drauf. Wahrscheinlich hat er ein leistungsstarkes Notebook mitgebracht.«
Alan stößt einen Pfiff aus. »Der Kerl ist eiskalt, Smoky. Er hat sich hingesetzt und den Film bearbeitet, während deine Freundin tot auf ihrem Bett lag und Bonnie zugesehen hat. Oder noch Schlimmeres.«
Niemand hat ein Wort über meine Tränen verloren. Ich fühle mich leer, doch ich bin nicht länger wie betäubt. Ich reagiere.
»Kalt, organisiert, kompetent, technisch beschlagen … und er ist definitiv ein echter.«
»Was bedeutet das?«, fragt Leo.
Ich wende mich ihm zu. »Er hat eine Grenze überschritten, als Person, und er wird nie wieder zurückkehren. Er hat genossen, was er getan hat. Er hat sich richtig lebendig gefühlt. Etwas, das man so sehr genießt, macht man nicht nur ein einziges Mal. Er ist ein echter Serienmörder.«
Erschrocken über meine Worte, sieht er mich an. »Und was machen wir jetzt?«
»Ihr verschwindet jetzt alle von hier, und stattdessen soll James kommen.«
Ich höre meine Stimme, während ich dies sage, bemerke die Kälte darin. So, so, denke ich. Es hat angefangen. Es ist immer noch da. Was sagt man dazu?
Charlie und Leo sehen verwirrt aus, doch Alan hat begriffen. Er lächelt, allerdings kein wirklich glückliches Lächeln. »Smoky und James brauchen Bewegungsfreiheit hier drin, das ist alles. Wir haben sowieso reichlich zu tun bis dahin. Soll ich für James in der Gerichtsmedizin weitermachen?« Die letzte Frage ist an mich gerichtet.
»M-hm.« Meine Antwort kommt geistesabwesend und von weit her. Ich bemerke kaum, wie die drei gehen. Mein Bewusstsein ist ein riesiger, offener Raum. Mein Blick ist in weite Fernen gerichtet.
Weil der schwarze Zug herannaht. Ich höre ihn bereits: tschua-tschua-tschua-tschu. Rauch quillt aus dem Schornstein, dunkle Hitze und Schatten umhüllen ihn.
Ich bin dem schwarzen Zug, wie ich ihn nenne, während meines allerersten Falles begegnet. Er ist schwierig zu beschreiben. Der Zug des Lebens fährt auf den Gleisen von Normalität und Wirklichkeit. Es ist der Zug, auf dem die meisten Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod fahren. Er ist voll mit Lachen und Tränen, mit Not und Entbehrungen und mit Triumphen. Seine Passagiere sind nicht vollkommen, doch sie geben ihr Bestes.
Der schwarze Zug ist anders. Er fährt auf Gleisen, die aus zerbrechlichen, empfindlichen Dingen gemacht sind. Es ist der Zug, auf dem Typen wie Jack Junior fahren. Ein Zug voller Mord und Sex und Schreie. Eine große, schwarze, bluttrinkende Schlange auf Rädern. Wenn man vom Zug des Lebens abspringt und durch die Wälder entlang der Strecke streift, kann man den schwarzen Zug finden. Man kann an den Gleisen entlanglaufen, neben dem Zug herrennen, während er vorbeikommt, und einen Blick auf den weinenden Inhalt in den Abteilen erhaschen. Wenn man auf den schwarzen Zug aufspringt und sich durch die Leichenwagen nach vorn arbeitet, trifft man schließlich auf den Zugführer. Er ist das Monster, das man jagt, und er taucht in vielerlei Gestalt auf. Er kann klein und kahlköpfig und vierzig sein. Oder groß und blond und jung. Manchmal – selten – ist es auch eine Sie. An Bord des schwarzen Zugs sieht man den Zugführer so, wie er wirklich ist, hinter seinem falschen Lächeln und dem dreiteiligen Anzug. Du starrst in die Dunkelheit, und in diesem Moment, wenn du hinsiehst, ohne zu blinzeln, verstehst du.
Die Mörder, die ich jage, sind innerlich nicht ruhig und gelassen, und sie lächeln nicht. Jede Zelle in ihrem Körper ist ein nicht enden wollender, ewiger Schrei. Diese Mörder schnattern und plappern und haben weit aufgerissene Augen und sind böse und blutbesudelt. Es sind Kreaturen, die masturbieren, während sie menschliches Fleisch herunterschlingen, die ekstatisch stöhnen, wenn sie sich mit Fäkalien und Gehirnmasse einschmieren. Ihre Seelen bewegen sich nicht normal. Sie schlittern, zucken, kriechen.
Der schwarze Zug ist schlicht der Ort, an dem ich dem Mörder in meiner Vorstellung die Maske herunterreiße. An dem ich hinsehe, ohne den Blick abzuwenden. Der Ort, an dem ich nicht zurückweiche, keine Entschuldigungen vorbringe und nicht nach Gründen suche, sondern einfach nur akzeptiere. Ja, seine Augen sind voller Maden. Ja, er trinkt die Tränen ermordeter Kinder. Ja, es gibt nur Mord in diesem Zug.
»Interessant«, bemerkte Dr. Hillstead während einer unserer vorangegangenen Sitzungen, nachdem ich ihm den schwarzen Zug erklärt hatte. »Ich schätze, meine Frage – und meine Sorge, Smoky – ist folgende: Wenn Sie auf den schwarzen Zug aufgesprungen sind, was hält Sie davon ab, ihn nie wieder zu verlassen? Was hindert Sie daran, selbst zum Zugführer zu werden?«
Ich musste lächeln. »Wenn Sie ihn sehen – wirklich sehen –, dann besteht diese Gefahr nicht. Sie erkennen, dass Sie nicht so sind. Nicht einmal so ähnlich.« Ich drehte den Kopf und starrte ihm in die Augen. »Wenn Sie den Zugführer wirklich demaskieren, dann erkennen Sie, dass er ein Alien ist. Er ist eine Anomalie, ein Angehöriger einer anderen Spezies.«
Er nickte und lächelte. Seine Augen wirkten nicht überzeugt.
Was ich ihm nicht erzählt habe: Das Problem besteht nicht darin, nicht zum Zugführer zu werden. Das Problem besteht darin aufzuhören, ihn zu sehen, in seinem unmaskierten, unverstellten Zustand. Das kann manchmal Monate dauern, Monate der Alpträume und des kalten Schweißes in der Morgendämmerung. Was für Matt immer am schwersten zu ertragen war, das war mein Schweigen. Ein verschlossener, abgesperrter Raum, in dem er mich nicht erreichen konnte.
Das ist der Preis, den man dafür zahlt, auf dem schwarzen Zug mitzufahren. Ein Teil von dir wird so einsam, wie es gewöhnliche Menschen niemals sind, und niemand kann zu dir in diese Einsamkeit. Ein kleines Stück von dir wird einsam, unendlich einsam, bis ans Ende deines Lebens.
Jetzt, hier, an dem Ort, wo Annie gestorben ist, kann ich spüren, wie er mir entgegenrast. Wenn er da ist, gleichgültig, ob ich nur zusehe, wie er vorbeisaust, oder ob ich aufspringe und durch die Waggons gehe, kann ich andere nicht um mich herum ertragen. Ich werde abweisend und kalt und … unerträglich. Es gibt nur eine Ausnahme: einen Kameraden, jemand, der den Zug ebenfalls versteht.
James tut das. Welche Fehler er sonst auch haben mag, was für ein Arschloch er auch sein kann, James besitzt die gleiche Gabe. Er kann den Zugführer sehen, kann im Zug mitfahren.
Wenn man sämtliche Metaphern beiseite lässt, dann ist der schwarze Zug ein Zustand geschärfter Wahrnehmung, erzeugt durch eine Art temporärer Empathie mit dem Bösen.
Und unangenehm.
Ich sehe mich im Zimmer um, lasse es auf mich einwirken. Ich kann ihn spüren, kann ihn riechen. Ich muss imstande sein, ihn zu schmecken und zu hören. Statt ihn von mir zu stoßen, muss ich ihn an mich ziehen. Wie eine Liebende den Geliebten.
Das ist etwas, das ich Dr. Hillstead nie erzählt habe. Ich glaube nicht, dass ich es je tun werde. Dass diese … diese Intimität nicht nur beunruhigend ist, sondern – süchtig macht. Sie ist faszinierend. Aufregend. Er jagt alles. Ich jage nichts außer ihm. Aber ich vermute, dass meine Gier nach Blut genauso stark und ausgeprägt ist wie seine.
Er war hier, also ist dies der Ort, an dem ich sein muss. Ich muss ihn finden, ich muss mich an seinen Schatten schmiegen, an die Maden in seinen Augen und die Schreie.
Am Anfang spüre ich fast immer das Gleiche, und diesmal ist es genauso. Seine Aufregung über das Eindringen in die Privatsphäre von jemand anderem. Menschen schaffen ihre eigenen Räume, grenzen sie von den Bereichen anderer ab. Sie vereinbaren, diese Grenzen gegenseitig zu respektieren. Das ist eine fundamentale, ursprüngliche Verhaltensweise. Dein Heim ist dein Heim. Sobald die Tür hinter dir geschlossen ist, bist du für dich allein und privat. Hier musst du nicht das gleiche Gesicht aufsetzen, das du der Welt da draußen zeigst. Andere menschliche Wesen kommen nur herein, wenn du sie eingeladen hast. Sie respektieren dies, weil sie es für sich selbst ebenfalls so wollen.
Das Erste, was diese Monster tun, das Erste, was sie aufregt, was sie anmacht, ist das Überschreiten dieser Grenze. Sie spähen in deine Fenster. Sie folgen dir den Tag hindurch, beobachten dich. Vielleicht betreten sie deine Wohnräume, während du unterwegs bist, gehen in deine Privatsphäre hinein, reiben sich an deinen privaten Dingen. Sie dringen ein.
Die Zerstörung anderer geilt sie auf. Ich erinnere mich an das Verhör von einem der Ungeheuer, die ich geschnappt habe. Seine Opfer waren kleine Mädchen. Einige waren erst fünf, andere sechs, keines war älter. Ich habe die Fotos von ihnen gesehen, wie sie vorher aussahen. Schleifen in den Haaren und ein strahlendes Lächeln. Und ich sah die Bilder von ihnen danach – vergewaltigt, gefoltert, ermordet. Winzige Leichen, die bis in alle Ewigkeit schreien. Ich stand im Begriff einzupacken, wollte den Verhörraum bereits verlassen, als mir die Frage in den Sinn kam. Ich wandte mich noch einmal zu ihm um.
»Warum sie?«, fragte ich. »Warum ausgerechnet kleine Mädchen?«
Es grinste mich an. Es war ein breites Halloween-Grinsen. Seine Augen waren zwei glitzernde, leere schwarze Abgründe. »Weil es das Böseste ist, was ich mir habe vorstellen können, Süße. Je böser es ist«, sagte er und leckte sich die Lippen, »desto besser ist es.« Er schloss seine leeren Augen und nickte vor sich hin, während er in seinen Erinnerungen schwelgte. »Diese jungen Dinger … mein Gott … das war so verdammt böse, dass es einfach nur geil war!«
Es ist eine rasende Wut, die ein solches Bedürfnis weckt und am Leben hält. Kein gewöhnlicher Ärger, sondern eine lodernde, alles verzehrende Wut. Ein dauerndes, brüllendes Feuer, das nie erlischt. Ich spüre es hier in diesem Zimmer. So überlegt er auch vorgehen wollte – am Ende ist er in Raserei verfallen, hat die Kontrolle verloren.
Diese zügellose Wut entspringt in der Regel einem extremen, als Kind erlittenen Sadismus. Prügel, Folter, Vergewaltigung. Die meisten dieser Monster werden von Menschen geschaffen, von Frankensteins Eltern. Deformierte Persönlichkeiten, die Kinder nach ihrem eigenen Bildnis gestalten. Sie prügeln ihre Seelen zu Tode und schicken sie dann in die Welt hinaus, damit sie ihrerseits das Gleiche anderen antun.
Nichts von alledem ändert etwas an der unumkehrbaren Verdorbenheit der Monster. Es spielt schließlich am Ende auch keine Rolle, warum ein Hund gebissen hat. Dass er beißt und dass seine Zähne scharf sind, entscheidet über sein Schicksal.
Ich lebe mit dem Wissen um all das. Diesem Verstehen. Es ist ein ungewollter Begleiter, das niemals von meiner Seite weicht. Die Monster werden zu meinem Schatten, und manchmal habe ich das Gefühl, als könnte ich sie hören, wie sie hinter meinem Rücken kichern.
»Auf welche Weise beeinflusst Sie das langfristig?«, wollte Dr. Hillstead von mir erfahren. »Gibt es irgendwelche bleibenden emotionalen Konsequenzen?«
»Ja … sicher. Selbstverständlich.« Ich hatte Mühe, die Worte zu finden. »Es ist keine Depression und kein Zynismus. Es ist nicht so, dass man nicht mehr glücklich sein könnte. Es ist …« Ich schnippte mit den Fingern und sah ihn an. »Es ist ein Klimawechsel in der Seele.« Noch während mir die Worte über die Lippen kamen, verzog ich das Gesicht. »Das ist ein alberner, poetischer Mist.«
»Hören Sie auf, so zu reden«, ermahnte er mich. »Es ist nichts Albernes daran, die richtigen Worte für etwas zu finden. Auf diese Weise entsteht Klarheit. Denken Sie diesen Gedanken zu Ende.«
»Na ja … Sie wissen, wie das Klima von Küstengebieten durch das Meer bestimmt wird? Durch die Nähe zu ihm? Es mag vielleicht ein paar verrückte Kapriolen geben, doch im Großen und Ganzen ist es ziemlich konstant, weil der Ozean so riesig ist und sich nicht wirklich ändert.« Ich sah ihn an, und er nickte. »Es ist genau so. Sie sind ständig in der Nähe von etwas Riesigem, Dunklem, Grauenvollem. Es verschwindet nie, es ist immer da. Jede Minute jeden Tages.« Ich zuckte die Schultern. »Das Klima der Seele wird, wie gesagt, dadurch beeinflusst. Für immer.«
Seine Augen wirkten traurig. »Was ist das für ein Klima?«, fragte er.
»Es ist sehr regnerisch. Es kann trotzdem wunderschön sein, es gibt auch sonnige Tage, aber es wird dominiert von Düsternis und Wolken. Ständig droht Regen. Die Nähe ist stets spürbar.«
Ich sehe mich in Annies Schlafzimmer um und höre in meinem Kopf ihre Schreie. Es regnet, denke ich, hier und jetzt. Annie war die Sonne, und das Monster die Regenwolke. Und zu was macht mich das? Noch mehr poetischer Scheißdreck. »Zum Mond«, flüstere ich mir selbst zu. Zum Licht in der Finsternis.
»Hallo.«
James’ Stimme lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Er steht in der Tür und blickt herein. Ich sehe, wie sein Blick durch das Zimmer wandert, wie er die Blutflecken, das Bett, den umgestürzten Nachttisch in sich aufnimmt. Seine Nüstern blähen sich.
»Was ist das?«, fragt er.
»Parfum. Er hat ein Handtuch mit Parfum getränkt und es unter die Tür gestopft, damit der Gestank von Annies Leiche nicht so schnell nach draußen dringen konnte.«
»Er hat sich Zeit verschafft.«
»Ja.«
James hält einen Aktenordner hoch. »Das hier hab ich von Alan. Berichte von der Spurensicherung und Fotos.«
»Gut. Du musst dir das Video ansehen.«
So beginnt es immer. Wir reden in kurzen, abgehackten Sätzen, wie Maschinengewehrfeuer. Wir werden zu Staffelläufern, die sich den Stab hin und her reichen, hin und her.
»Zeig es mir.«
Also setzen wir uns, und ich sehe mir das Video ein drittes Mal an. Sehe, wie Jack Junior durch das Zimmer tanzt, sehe, wie Annie schreit und einen langsamen, qualvollen Tod stirbt. Diesmal spüre ich es nicht. Ich bin ungerührt – beinahe. Ich bin entrückt und distanziert, während ich den Zug aus verengten Augen mustere. In meinem Kopf entsteht ein Bild von Annie, die tot auf einer Wiese liegt, während der Regen ihren offenen Mund füllt und ihr über die grauen, toten Wangen rinnt.
James ist still. »Warum hat er das für uns dagelassen?«, fragt er schließlich.
Ich zucke die Schultern. »So weit bin ich noch nicht. Lass uns vorn anfangen.«
Er klappt den Aktenordner auf. »Sie haben die Leiche gegen sieben Uhr gestern Abend entdeckt. Die Todeszeit lässt sich nur ungefähr angeben, doch angesichts des Verwesungsgrades, der Umgebungstemperatur und so weiter schätzt der Pathologe, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung seit drei Tagen tot war. Sie starb so gegen neun oder zehn Uhr abends.«
Ich denke darüber nach. »Ich schätze, er hat sich mit dem Vergewaltigen und Foltern ein paar Stunden Zeit gelassen. Das bedeutet, dass er spätestens gegen sieben Uhr abends hier eingetroffen ist. Also ist er nicht gekommen, während sie schliefen. Wie ist er reingekommen?«
James schlägt in der Akte nach. »Kein Zeichen von gewaltsamem Zutritt. Entweder hat sie ihn reingelassen, oder er ist so reingekommen.« Er runzelt die Stirn. »Ein dreister Pisser. Er hat es am frühen Abend getan, als alle zu Hause und noch wach waren. Verdammt selbstsicher.«
»Aber wie ist er reingekommen?« Wir sehen uns an und überlegen.
Geh weg, Regen. Geh weg.
»Fangen wir im Wohnzimmer an«, schlägt James vor.
Maschinengewehrfeuer, ratatatatat.
Wir verlassen das Schlafzimmer und gehen durch den Flur bis zur Wohnungstür. James blickt sich um. Ich sehe seinen Blick schweifen, dann bleibt er auf etwas haften. »Warte mal.« Er kehrt in Annies Schlafzimmer zurück und kommt mit dem Aktenordner wieder. Er reicht mir ein Foto.
»So hat er es gemacht.«
Es ist eine Serie von Aufnahmen des Flurs, vom Bereich direkt hinter der Wohnungstür. Ich sehe, was er mir zeigen will: drei Umschläge liegen auf dem Fußboden. Ich nicke. »Es war nichts Kompliziertes. Er hat einfach geklopft. Sie öffnet, er stürzt herein, sie lässt die Post fallen, die sie in der Hand gehalten hat. Es war überraschend, schnell.«
»Trotzdem, es war früher Abend. Wie hat er verhindert, dass sie schreit und die Nachbarn alarmiert?«
Ich nehme den Ordner an mich und überfliege die Fotos. Ich zeige auf eine Aufnahme vom Esstisch. »Hier.« Das Bild zeigt ein aufgeschlagenes Schulbuch, Mathematik. Wir drehen uns um und sehen zum Tisch. »Er steht weniger als drei Meter entfernt. Bonnie hat hier gesessen, als Annie die Tür aufgemacht hat.«
Er nickt begreifend. »Er hat das Kind in seine Gewalt gebracht und damit die Mutter kontrolliert.« Er stößt einen leisen Pfiff aus. »Wow. Das bedeutet, er ist direkt in die Wohnung gestürmt. Kein Zögern.«
»Wie ein Blitz. Er hat ihr keine Sekunde Zeit zum Überlegen gegeben. Ist reingestürzt, hat die Tür zugeworfen, Bonnie geschnappt, ihr wahrscheinlich eine Waffe an den Hals gehalten …«
»… und zur Mutter gesagt, dass das Kind sterben würde, wenn sie schreit.«
»Ja.«
»Sehr entschlossen.«
Geh weg, Regen. Geh weg.
James schürzt nachdenklich die Lippen.
»Die nächste Frage lautet: Wie lange hat es gedauert, bis er zur Sache kam?«
Hier ist die Stelle, wo es wirklich anfängt. Wo wir nicht länger den schwarzen Zug betrachten, sondern aufspringen. »Da ist eine Reihe von Fragen.« Ich zähle sie an den Fingern ab. »Wie lange hat es gedauert, bis er mit ihr angefangen hat? Hat er ihr gesagt, was er mit ihr vorhat? Und was hat er mit Bonnie gemacht? Hat er sie gefesselt? Hat er sie gezwungen zuzusehen?«
Wir blicken beide zur Wohnungstür, während wir überlegen. Ich kann es sehen, vor meinem geistigen Auge. Ich kann ihn spüren. Ich weiß, dass es James genauso geht.
Es ist still im Flur, und er ist aufgeregt. Sein Herz hämmert in seiner Brust, während er darauf wartet, dass Annie ihm öffnet. Eine Hand ist erhoben, um ein zweites Mal zu klopfen, die andere hält … was? Ein Messer?
Ja.
Er muss ihr irgendeine Geschichte erzählen, und er hat sie sich viele Male zurechtgelegt. Irgendetwas Einfaches … beispielsweise, dass er ein Nachbar aus dem darunterliegenden Stockwerk ist und eine Frage hat. Irgendetwas, das sich normal anhört.
Sie öffnet die Tür, nicht nur einen Spaltbreit. Es ist früher Abend, die Stadt ist wach. Annie ist zu Hause, im Innern eines gesicherten Apartmenthauses. Alle Wohnungslichter brennen. Sie hat keinen Grund, sich zu fürchten.
Er kommt durch die Tür, bevor sie reagieren kann, eine unaufhaltsame Gewalt. Er schiebt sich in die Wohnung, stößt Annie um, schließt die Tür hinter sich. Er springt zu Bonnie, reißt sie an sich und setzt ihr das Messer an die Kehle.
»Ein Laut, und deine Tochter stirbt …«
Annie unterdrückt den instinktiven Schrei, den sie bereits auf den Lippen hatte. Der Schock ist vollkommen. Alles ist viel zu schnell gegangen, um zu reagieren. Sie sucht immer noch nach einer rationalen Erklärung. Vielleicht ist sie in einer Show mit einer versteckten Kamera, vielleicht erlaubt sich ein Freund einen Scherz mit ihr, spielt ihr einen Streich, vielleicht … verrückte Ideen, doch jede auch noch so verrückte Idee wäre besser als die Wahrheit.
Bonnie starrt zu ihr hoch, die Augen voller Angst.
Annie hat in diesem Moment wahrscheinlich akzeptiert, dass es kein Streich war. Ein Fremder hielt ihrer Tochter ein Messer an die Kehle. Das war REAL.
»Was wollen Sie?«, lautet ihre erste Frage. Sie hofft, mit dem Fremden verhandeln zu können. Dass er weniger will als sie töten. Vielleicht ist er ein Einbrecher oder ein Vergewaltiger. Bitte, o bitte, denkt sie, lass es keinen Pädophilen sein.
Mir fällt etwas ein. »Sie hat eine leichte Schnittwunde am Hals«, sage ich.
»Was?«
»Bonnie. Sie hat eine leichte Schnittwunde, an der Kehle.« Ich berühre meinen Hals. »Hier. Es ist mir aufgefallen, als ich im Krankenhaus war.«
Ich sehe, wie James darüber nachdenkt. Sein Gesicht wird grimmig. »Er hat sie mit dem Messer geschnitten.«
Wir können natürlich nicht sicher sein. Aber es fühlt sich richtig an.
Der Fremde ritzt Bonnie mit der Messerspitze die Haut an der Kehle auf. Nichts Ernstes, doch genug, um ein paar Blutstropfen austreten zu lassen. Ein Keuchen. Genug, um zu zeigen, dass er es ernst meint, und um Annies Herz angstvoll stocken zu lassen.
»Du tust, was ich dir sage«, befiehlt er. »Oder deine Tochter stirbt ganz langsam.«
Und damit war es bereits vorbei. Bonnie war seine Geisel, und Annie war in seiner Gewalt.
»Ich mache alles, was Sie wollen. Aber tun Sie ihr nichts.«
Er riecht Annies Angst, und es erregt ihn. Er spürt eine beginnende Erektion in seiner Hose.
»Ich denke, Bonnie war dabei, als er Annie vergewaltigt und gefoltert hat. Ich denke, er hat sie gezwungen, alles mit anzusehen«, sage ich.
James hebt seinen Kopf. »Wieso?«
»Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist, dass er Bonnie hat leben lassen. Warum? Dadurch musste er eine weitere Person unter Kontrolle halten. Es wäre einfacher gewesen, wenn er sie einfach umgebracht hätte. Doch Annie war seine Beute. Er liebt die Folter, und er liebt die Angst. Die Qualen. Bonnie dabeizuhaben und Annie wissen zu lassen, dass sie da war und mit ansehen musste, was geschah … es hat sie wahrscheinlich wahnsinnig gemacht. Und das hat ihm gefallen.«
James denkt darüber nach. »Ich stimme dir zu, allerdings aus einem anderen Grund.«
»Und der wäre?«
Er sieht mir in die Augen. »Du. Er jagt dich ebenfalls, Smoky. Und Bonnie zu verletzen macht alles viel schlimmer für dich.«
Ich starre ihn überrascht an.
Er hat Recht.
Tschua-tschua-tschua-tschu, tschua-tschua-tschua-tschu, der schwarze Zug wird schneller …
»Mach, was ich dir sage, sonst tu ich deiner Mama weh«, sagt er zu Bonnie. Er benutzt die Liebe der beiden wie einen Viehstock und treibt sie zum Schlafzimmer.
»Er bringt sie ins Schlafzimmer.« Ich gehe den Flur entlang. James folgt mir. Wir betreten das Schlafzimmer. »Er schließt die Tür hinter sich.« Ich strecke die Hand aus und schließe die Tür. Ich stelle mir Annie vor, die zusieht, wie sie sich schließt, ohne zu begreifen, dass sie sich für sie nie wieder öffnen wird.
James starrt nachdenklich auf das Bett. Er überlegt, versucht sich vorzustellen, wie es abgelaufen ist. »Er brauchte keine Angst zu haben vor Bonnie, doch er kann sich noch nicht entspannen – nicht, bevor er Annie nicht sicher in seiner Gewalt hat.«
»Im Video war Annie mit Handschellen gefesselt.«
»Richtig. Also hat er ihr befohlen, sich selbst die Handschellen anzulegen. Ein Handgelenk, mehr brauchte er nicht.«
»Hier, leg die an«, befiehlt er Annie und zieht ein Paar Handschellen aus der Tasche, wirft sie ihr …
Nein, so war es nicht. Zurück.
Er hat das Messer an Bonnies Hals. Er sieht Annie an. Mustert sie von oben bis unten, nimmt sie mit den Augen in Besitz. Achtet sorgfältig darauf dass sie dies auch begreift.
»Zieh dich aus«, sagt er. »Los, zieh dich aus für mich.«
Sie zögert, und er drückt die Klinge gegen Bonnies Hals. »Los, ausziehen!«
Annie gehorcht weinend, während Bonnie zusieht. Annie lässt den BH und das Höschen an, ihr letzter Widerstand.
»Alles!«, brüllt er. Drückt erneut das Messer gegen die weiche Haut.
Annie gehorcht. Ihr Weinen wird stärker …
Nein. Zurück.
Annie gehorcht und zwingt sich, nicht zu weinen. Sie will stark sein für ihre Tochter. Sie zieht ihren Büstenhalter und ihr Höschen aus und sieht Bonnie dabei unverwandt in die Augen. »Sieh mich an«, denkt sie, befiehlt sie mit ihren Augen. »Sieh in mein Gesicht. Nicht auf das. Nicht auf ihn.«
Jetzt nimmt er die Handschellen aus der Tasche, die er mitgebracht hat.
»Fessel dein Handgelenk ans Bett«, befiehlt er Annie. »Jetzt.«
Sie gehorcht. Als er das Einschnappen des Schlosses hört, greift er in die Tasche und zieht zwei weitere Handschellen hervor. Damit fesselt er Bonnie an Händen und Knöcheln. Sie zittert. Er ignoriert ihr Schluchzen, während er sie knebelt. Bonnie sieht ihre Mutter an, ein flehentlicher Blick. Ein Blick, der sagt: »Mach, dass es aufhört!« Annie weint heftiger.
Er ist immer noch vorsichtig, misstrauisch. Er entspannt sich noch nicht. Er geht zu Annie und fesselt ihre andere Hand ebenfalls ans Bett. Dann die Knöchel. Dann knebelt er auch sie.
Jetzt. Jetzt kann er sich entspannen. Seine Beute ist ihm sicher. Sie kann nicht mehr entkommen. Wird nicht mehr entkommen.
Ist ihm nicht entkommen, denke ich.
Jetzt kann er den Augenblick genießen.
Er nimmt sich Zeit, den Raum vorzubereiten. Das Bett zu positionieren, die Videokamera einzustellen. Es gibt eine bestimmte Art und Weise, wie die Dinge getan werden, eine Symmetrie, die ihm wichtig ist, entscheidend. Er lässt sich Zeit dabei. Einen Schritt zu übersehen mindert die Schönheit des Aktes, und der Akt ist alles. Er ist seine Luft und sein Wasser.
»Das Bett«, sagt James.
»Was?« Ich sehe verwirrt auf das Bett.
Er steht auf und geht zum Fußende. Annies Bett ist extra breit und aus glattem, abgerundetem Holz gefertigt. Stabil.
»Wie hat er es bewegt?« James geht zum Kopfende und blickt auf den Teppich hinunter. »Schleifspuren. Also hat er es zu sich hingezogen.« Er kehrt zum Fußende zurück. »Er muss es irgendwo hier angefasst und rückwärts gezogen haben. Er brauchte einen Hebel …« James kniet nieder. »Er muss es hier unten gepackt und ein wenig angehoben haben.« Er steht auf, geht zur Seite des Bettes, lässt sich auf den Bauch sinken und kriecht bis zu den Schultern unter das Bett. Ich sehe, wie er seine Taschenlampe einschaltet, dann verlöscht der Lichtstrahl. Als James wieder auftaucht, lächelt er. »Kein Abdruckpuder zu sehen.«
Wir sehen uns an. Ich spüre geradezu, wie jeder von uns in Gedanken die Daumen drückt.
Die Leute glauben fälschlicherweise, dass Latexhandschuhe die Übertragung von Fingerabdrücken verhindern. In den meisten Fällen stimmt das auch. Aber nicht immer. Diese Art von Handschuhen wurde für Chirurgen entwickelt, damit sie einen sterilen Überzug für ihre Operationen hatten. Gleichzeitig müssen diese Handschuhe wie eine zweite Haut sitzen, damit der Arzt seine Instrumente ohne einen Verlust an Präzision benutzen kann. Das dichte Anliegen und die Dünnheit des Materials können bewirken, dass sich das Gummi den Furchen und Rillen genau anpasst. Falls – zugegeben, die Wahrscheinlichkeit ist gering, doch sie besteht – jemand mit Latexhandschuhen eine Oberfläche berührt, die Abdrücke aufnehmen kann, erzeugt er unter Umständen einen brauchbaren Abdruck. Annies Bettgestell besteht aus Holz. Möglicherweise haben Reinigungsmittel oder Polituren einen Rückstand hinterlassen, der einen Fingerabdruck zu erhalten imstande ist, der selbst durch die Handschuhe des Täters hindurch entstehen kann.
Zugegeben, eine sehr geringe Möglichkeit. Aber immerhin eine Möglichkeit.
»Sehr gut«, sage ich.
»Danke.«
Öl und Kugellager, denke ich. Ein Tatort ist der einzige Ort der Welt, an dem ich mich mit James verstehe.
Die Bühne ist vorbereitet. Er hat das Bett in Position gezogen – hierher. Die Kamera steht ebenfalls … dort. Er überprüft alles ein letztes Mal, um sicher zu sein, dass alles perfekt ist. Es ist perfekt. Jetzt widmet er Annie seine volle Aufmerksamkeit. Starrt auf sie hinab.
Es ist das erste Mal, dass sie die Wahrheit sieht. Er war abgelenkt, hat seinen Schauplatz eingerichtet. Sie hatte immer noch Hoffnung. Jetzt ist sein Blick auf sie fixiert, und sie begreift. Sie sieht Augen, die keinen Horizont besitzen. Sie sind bodenlos, schwarz und gefüllt mit einem Hunger, der niemals endet.
Er merkt, wie sie begreift. Wie es ihr dämmert. Es macht ihn an, wie jedes Mal. Wieder hat er die Hoffnung in einem anderen Menschen erstickt.
Es erweckt ein gottgleiches Gefühl in ihm.
James und ich haben uns zu ihm gesellt. Wir sind da, wir sehen ihn, wir sehen Annie, und aus den Augenwinkeln sehen wir Bonnie. Wir riechen die Verzweiflung. Der schwarze Zug nimmt an Fahrt auf, wird schneller, und wir sind an Bord gesprungen, haben die Tickets gelocht.
»Und jetzt sehen wir uns das Video noch einmal an«, sagt er.
Ich doppelklicke auf die Datei, und wir sehen zu, wie die Montage abläuft. Er tanzt, er schneidet, er vergewaltigt.
Die schiere Heftigkeit seines Tuns lässt das Blut überall hinspritzen, und er kann es riechen, schmecken, die klebrige Glätte durch seine Kleidung hindurch spüren. Irgendwann hält er inne, dreht sich um und sieht zu dem Kind. Bonnies Gesicht ist weiß, und sie zittert am ganzen Leib, als hätte sie einen Krampfanfall. Der Anblick erzeugt eine fast unerträgliche, nahezu orgiastische Symphonie köstlicher Extreme in ihm. Er erschauert, jeder Muskel erzittert vor Emotion und Empfindungen. Er ist nicht nur böse. Er vergewaltigt das Gute. Er fickt es zu Tode. Musik und Blut und Eingeweide und Schreie und Angst. Die Welt erbebt, und er ist das Epizentrum. Er nähert sich dem Höhepunkt, und dann kommt er – jener Punkt, an dem alles in einem blendenden, grellen Licht explodiert, an dem jegliche Vernunft und alles Menschliche verschwindet.
Es ist ein kurzer Augenblick, und es ist der einzige Moment, in dem sein Hunger und seine Gier schwinden. Ein winziger Augenblick der Erfüllung und Erleichterung.
Das Messer saust herab, und alles ist voller Blut und Blut und Nässe und Blut, und er steigt höher und höher und höher, steht auf Zehenspitzen auf dem Gipfel eines Berges, streckt seinen Leib, so weit er kann, reckt einen Finger in die Höhe, nicht um das Antlitz Gottes zu berühren, nicht um MEHR zu sein, sondern um NICHTS zu werden, ÜBERHAUPT NICHTS, und er wirft den Kopf in den Nacken, als sein Körper unter der Wucht eines Orgasmus erzittert, der stärker ist, als er zu ertragen vermag.
Dann ist es vorbei, und die Wut, die immer in ihm schwelt, kehrt zurück.
Ein leichtes Flimmern sticht mir ins Auge. »Warte mal«, sage ich und spule den Film über den Mediaplayer ein Stück zurück. Ich lasse es erneut ablaufen. Das gleiche Flimmern. Ich runzele frustriert die Stirn. »Irgendwas stimmt nicht. Ich weiß nur nicht, was.«
»Können wir den Film nicht in Einzelbildern ablaufen lassen?«, fragt James.
Wir spielen mit der Software herum, bis wir eine Einstellung gefunden haben, die uns zwar keine Einzelbilder, doch zumindest eine Zeitlupenwiedergabe ermöglicht.
»Irgendwo hier«, murmele ich.
Wir beugen uns beide vor und starren angestrengt auf den Schirm. Es ist gegen Ende des Films. Er steht neben Annies Bett, ich sehe ein Flackern, und er steht immer noch neben Annies Bett, aber irgendetwas ist anders.
James bemerkt es als Erster.
»Wo ist das Bild?«
Wir spulen erneut zurück. Er steht neben dem Bett, und an der Wand hinter ihm hängt ein Bild von einer Vase mit Sonnenblumen. Das Flackern, er steht noch immer neben dem Bett … und das Bild ist verschwunden.
»Was zur Hölle …?« Ich blicke zur Stelle an der Wand, wo das Bild hängen müsste. Ich entdecke es am Boden; es lehnt neben dem umgestürzten Nachttisch.
»Warum hat er es von der Wand genommen?«, fragt James. Die Frage ist an ihn selbst gerichtet, nicht an mich.
Wir lassen den Film erneut ablaufen. Er steht neben dem Bett, das Bild hängt an der Wand, Flimmern – er steht neben dem Bett, das Bild ist weg. Wieder und wieder. Stehen, Bild, Flimmern – Stehen, kein Bild … kein Bild, kein Bild, kein Bild.
Das Begreifen kommt nicht allmählich. Es überfällt mich blitzartig. Mein Unterkiefer sackt herab, und mir wird schwindlig. »Mein Gott!«, rufe ich so laut, dass James zusammenzuckt.
»Was?«
Ich spule den Film zurück. »Sieh noch mal genau hin. Achte diesmal darauf, wo die Oberkante des Bilderrahmens ist, und such die Stelle an der Wand, nachdem das Bild verschwunden ist.«
Der Film läuft ab, wir kommen an die Stelle mit dem Flimmern, und James runzelt die Stirn. »Ich begreife nicht …« Er hält inne und reißt die Augen auf. »Ist das möglich?« Er klingt ungläubig. Ich lasse den Film erneut durchlaufen.
Es besteht kein Zweifel. Wir starren einander an. Alles hat sich schlagartig verändert.
Wir wissen jetzt, warum das Bild entfernt wurde. Es wurde entfernt, weil es einen Anhaltspunkt darstellt. Einen Anhaltspunkt für die Höhe.
Der Mann, der über Annie am Bett gestanden hat, während das Bild noch an der Wand hing, war gut fünf Zentimeter größer als der Mann, der hinterher dort steht, nachdem das Bild entfernt wurde.
Wir haben den Maschinenraum des schwarzen Zuges erreicht, und der Schock dessen, was wir dort sehen, schleudert uns hinaus.
Es gibt nicht nur einen Zugführer. Es sind zwei.