KAPITEL 29
Es dauert eine Ewigkeit, bis wir zurück sind. Als wir losfuhren, war es früher Nachmittag, und der Berufsverkehr fängt früh an in Südkalifornien. Als wir im Büro eintreffen, springen alle auf, die Gesichter voller Erwartung.
»Fragt nicht, Leute«, sagt Callie und hebt abwehrend die Hand. »Im Augenblick gibt es nichts zu erzählen.« Ihr Handy klingelt, und sie wendet sich ab, um das Gespräch anzunehmen.
Der Vorhang vor Callie hat sich wieder geschlossen. Ich bin erleichtert, und ich kann sehen, dass es den anderen ebenso geht. Es bedeutet, dass mit ihr alles in Ordnung ist. Jeder von uns wäre ohne Zögern für sie da, doch Callie so verwundbar zu sehen, hat uns ziemlich beunruhigt. Ich frage mich, ob das mit ein Grund dafür ist, dass sie sich wieder abgeschottet hat. Nicht, um sich zu schützen, sondern uns.
Alan durchbricht das Schweigen. »Ich gehe die Akten über Annie noch mal durch«, sagt er. »Irgendwas stört mich an der Sache. Ich weiß nicht genau, was.«
Ich nicke abgelenkt. Vielleicht bin ich auch müde. Ich blicke auf meine Uhr und sehe schockiert, dass es schon fast Feierabend ist.
Nicht, dass die gewöhnlichen Dienstzeiten für uns mehr wären als reine Theorie. Meist steht viel zu viel auf dem Spiel bei unserer Arbeit. Es ist ähnlich wie im Krieg. Wenn die Kugeln fliegen, schießt du zurück, ganz gleich, wie spät es ist. Und wenn du eine Gelegenheit hast, den Gegner zu besiegen, ergreifst du sie, ob es nun vier Uhr morgens oder vier Uhr nachmittags ist. Die andere Parallele besteht darin, dass man die Zeiten der Ruhe ausnutzt, die Gelegenheiten zum Rasten, weil man nicht weiß, wann es wieder losgeht.
Das hier scheint eine von diesen Zeiten zu sein, also treffe ich die Entscheidung, die jeder gute Feldherr treffen sollte.
»Ich möchte, dass wir alle nach Hause fahren«, sage ich. »Morgen geraten die Dinge vielleicht erneut aus dem Ruder. Vielleicht noch mehr als heute. Schlaft euch aus.«
James kommt zu mir. »Ich bin erst mittags da«, sagt er leise. »Morgen ist wieder der Tag.«
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was er meint. »Oh.« Ich runzele die Brauen. »Tut mir Leid, James. Ich hatte es ganz vergessen. Bitte bestell deiner Mutter liebe Grüße.«
Er wendet sich ab und verlässt das Büro ohne ein weiteres Wort.
»Ich hatte es ebenfalls vergessen«, meint Callie. »Wahrscheinlich, weil es Damien menschliche Züge verleiht.«
»Was vergessen?«, fragt Leo.
»Morgen jährt sich der Todestag von James’ Schwester«, erläutere ich. »Sie wurde ermordet. Sie fahren jedes Jahr zu ihrem Grab.«
»Oh.« Er zieht die Mundwinkel hinunter. »Scheiße, Mann!«
Es kommt mit einer leidenschaftlichen Vehemenz, die mich verblüfft. Er winkt ab. »Entschuldigung. Es ist nur … diese Scheiße geht mir an die Nerven.«
»Willkommen im Club, Zuckerschnäuzchen«, kommentiert Callie.
»Ja. Schätze, so ist es.« Er atmet tief durch, stößt die Luft wieder aus. Fährt sich mit der Hand durch das Haar. »Wir sehen uns morgen.« Er geht, winkt ein letztes Mal, halbherzig.
Callie blickt ihm hinterher, nachdenklich. »Der erste Fall ist immer hart. Und dieser hier ist ganz besonders übel.«
»Ja. Trotzdem, ich schätze, er kommt damit zurecht.«
»Das denke ich auch. Ich war zu Anfang nicht sicher, was ihn betrifft, doch der kleine Leo entwickelt sich gut.« Sie sieht mich an. »Und? Was machst du heute Abend?«
»Sie kommt zum Essen zu uns, wenn du es genau wissen willst«, poltert Alan. Er sieht mich an. »Elaina besteht darauf.«
»Ich weiß nicht …«
»Du solltest hingehen, Smoky. Es würde dir gut tun«, sagt Callie. Sie sieht mich bedeutungsvoll an. »Und vielleicht wäre es auch gut für Bonnie.« Sie geht zu ihrem Schreibtisch, schnappt ihre Handtasche. »Außerdem mache ich das Gleiche.«
»Was denn, du gehst auch zu Alan?«
»Nein, Dummerchen. Das war meine Tochter am Telefon.« Sie zögert. »Es klingt eigenartig, nicht wahr? Wie dem auch sei – ich bin heute Abend bei ihr und meinem … meinem Enkel zum Essen eingeladen.«
»Das ist ja großartig, Callie!« Ich grinse sie an. »Oder sollte ich jetzt Oma zu dir sagen?«
»Nicht, wenn du mit mir befreundet bleiben möchtest«, entgegnet sie kühl. Sie wendet sich ab, geht zur Tür, bleibt stehen und dreht sich noch einmal zu mir um. »Geh zu Alan. Mach irgendwas Normales, mit anderen Menschen.«
»Nun?«, fragt Alan. »Kommst du jetzt, oder kriege ich wegen dir Ärger mit Elaina?«
»Herrgott noch mal, nein. Ich komme.«
Er grinst. »Gut. Wir sehen uns bei mir zu Hause.«
Dann ist auch er weg, und ich bin allein im Büro. Ich werde Callies Rat befolgen. Den Ausschlag hat ihre Bemerkung über Bonnie gegeben. Es sei gut für sie. Bestimmt besser, als mit zu mir zu kommen, in mein … wie hat er es genannt? Geisterschiff von einem Zuhause?
Aber zuvor will ich einen Augenblick für mich allein sein. Die Dinge haben sich mit solch halsbrecherischer Geschwindigkeit entwickelt – physisch, mental, emotional. Ich bin voller Energie und zugleich erschöpft. Ich denke über die vergangenen Tage nach. Ich bin nicht länger selbstmordgefährdet, ich will leben. Ich habe meine beste Freundin verloren. Und ich habe mich mit meiner ältesten Freundin ausgesöhnt, mit meiner Waffe. Ich habe eine stumme Ziehtochter bekommen, die sich vielleicht niemals erholen wird. Ich erinnere mich wieder daran, dass ich meine eigene Tochter erschossen habe. Ich habe erfahren, dass Callie nicht nur eine Tochter, sondern sogar einen Enkel hat. Ich weiß, dass eine Frau, die ich liebe und verehre, Elaina, an Krebs erkrankt ist und vielleicht nicht geheilt werden kann. Und ich habe mehr über das Geschäft mit der Pornografie gelernt, als ich je wollte. – Ja, die Kugeln sind mir um die Ohren geflogen.
Im Augenblick jedoch herrscht Waffenruhe, und es ist Stille eingekehrt. Zeit, die ich nutzen muss wie ein guter Soldat. Ich stehe auf und verlasse das Büro, schließe die Tür hinter mir ab, gehe durch den Gang zum Aufzug.
Auf dem Weg nach unten wird mir bewusst, dass mein Augenblick der Stille ein anderer ist als bei einem normalen, durchschnittlichen Menschen. Es ist eine Gelegenheit zum Ausruhen. Doch es ist zugleich eine Stille, die angefüllt ist mit Anspannung und Unruhe. Weil ich nie weiß, wann die Kugeln wieder fliegen.
Was machen Jack Junior und sein Partner in diesem Moment? Ruhen sie sich ebenfalls aus? Sammeln sie Kraft für ihren nächsten Mord?
Als Alan mir öffnet, merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Er sieht verstört aus, wütend, den Tränen nahe und gleichzeitig, als würde er am liebsten morden.
»Dieser Scheißkerl!«, zischt er.
»Was ist passiert?«, frage ich alarmiert, während ich mich an ihm vorbei ins Haus schiebe. »Ist alles in Ordnung mit Elaina? Mit Bonnie?«
»Niemand ist verletzt. Aber dieser Scheißkerl …« Er steht für eine Sekunde reglos da, ballt die Fäuste. Wäre er nicht mein Freund, würde er mir Angst machen. Er geht zu einem Beistelltisch, nimmt einen großen manilabraunen Umschlag und reicht ihn mir.
Ich sehe auf die Anschrift. Er ist adressiert an »Elaina Washington: Ruhe in Frieden«. Mir wird plötzlich kalt.
»Sieh hinein«, grollt Alan.
Ich öffne den Umschlag. Eine maschinengeschriebene Notiz, dahinter eine Reihe von Blättern. Als ich darauf sehe, begreife ich.
»Scheiße, Alan …«
»Ihre verdammte Krankenakte«, flucht er und marschiert auf und ab. »Alles über ihren Tumor, die Notizen ihrer Ärzte.« Er reißt mir die Sachen aus der Hand, blättert darin. »Sieh dir diese Stelle an. Er hat sie für Elaina unterstrichen!«
Ich nehme die Blätter und lese die Stelle.
»Mrs. Washington befindet sich im zweiten Stadium, kurz vor dem dritten. Aussichten gut, trotzdem muss die Patientin wissen, dass das dritte Stadium möglich ist, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich.«
»Lies diese beschissene Notiz!«
Ich sehe auf das Blatt, sehe die Grußformel.
Hallo Mrs. Washington!
Ich würde mich nicht als einen Freund Ihres Ehemannes bezeichnen. Eher als … eine Art Geschäftspartner. Ich dachte, Sie würden gern die Wahrheit über Ihre gegenwärtige Situation erfahren.
Wissen Sie, wie hoch die Überlebenswahrscheinlichkeit für das dritte Stadium ist, meine Liebe? Ich zitiere: ›Stadium III: Metastasen in den Lymphknoten um den Grimmdarm herum, 35 bis 60 Prozent Überlebensrate für die nächsten fünf Jahre.‹
Meine Güte, wenn ich ein Wettfan wäre, müsste ich wohl gegen Sie setzen.
Viel Glück – ich werde Ihre Fortschritte im Auge behalten.
From Hell
Jack Junior
»Stimmt das, Alan?«
»Nicht so, wie er es darlegt, nein«, schnaubt er. »Ich habe den Arzt angerufen. Er sagt, wenn er sich wirklich Sorgen machen würde deswegen, hätte er es uns gesagt. Er habe uns nichts verschwiegen. Scheiße, er hat sich die Notizen nur gemacht, um nicht zu vergessen, was er uns beim nächsten Besuch sagen wollte.«
»Aber Elaina hat sie gelesen, ohne Erklärung.«
Die Antwort sehe ich am Elend in seinen Augen.
Ich wende mich für einen Moment ab, lege mir die Hand an die Stirn. In mir kocht eine weißglühende, alles verzehrende Wut. Von allen Menschen, die er sich als Opfer aussuchen konnte, ist Elaina das unfairste. Mit Ausnahme von Bonnie vielleicht. Ich erinnere mich, wie allein ihre Gegenwart heute Morgen Bonnies Barrieren durchbrochen hat. Ich erinnere mich an ihren Besuch bei mir im Krankenhaus. Ich will Jack Junior umbringen. Mit bloßen Händen.
»Wie geht es ihr?«, frage ich Alan.
Er lässt sich unvermittelt in einen Sessel fallen. Sieht mich verloren an. »Zuerst hatte sie Angst. Dann fing sie an zu weinen.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Oben im Schlafzimmer, mit Bonnie zusammen.« Er sieht mich müde an. »Bonnie weicht nicht von ihrer Seite.« Er vergräbt das Gesicht in den Händen. »Gottverdammt, Smoky! Warum ausgerechnet sie?«
Ich seufze, trete neben ihn, lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Weil sie wussten, dass es dich verletzen würde, Alan.«
Sein Kopf fährt hoch, in seinen Augen lodern Flammen. »Ich will diese Säcke schnappen!«
»Ich weiß, Alan.« Mein Gott, mir geht es nicht anders. »Alan, vermutlich wird es dir nicht helfen, aber … ich glaube nicht, dass Elaina eine konkrete physische Gefahr von Jack Junior und Co. droht, zumindest nicht im Augenblick. Ich glaube nicht, dass das der Sinn seines Briefes ist.«
»Wie kommst du darauf?«
Ich schüttele den Kopf, während ich daran denke, was Callie heute Nachmittag gesagt hat. »Es ist Teil ihres Spiels, Alan. Sie wollen, dass wir sie jagen. Und sie wollen, dass wir unser Bestes geben. Dass wir ein persönliches Interesse daran haben, sie zu schnappen.«
Sein Gesicht wird grimmig. »Es hat funktioniert.«
Ich nicke. »Das hat es.«
Er lehnt sich zurück, seufzt. Es ist ein tief empfundenes Seufzen, voller Traurigkeit. Er blickt zu mir hoch, und in seinen Augen steht ein Flehen. »Kannst du nicht zu ihr raufgehen und mit ihr reden?«
Ich berühre seine Schulter. »Natürlich kann ich das.«
Ich habe Angst davor, doch ich will es versuchen.
Ich klopfe an der Schlafzimmertür, öffne sie und spähe hinein. Elaina liegt mit dem Rücken zu mir auf dem Bett. Bonnie sitzt neben ihr und streichelt ihr über das Haar. Sie sieht mich an, als ich eintrete, und ich bleibe stehen. Ihre Augen sind voller Wut. Wir starren uns für eine Sekunde an, und ich nicke begreifend. Sie haben ihrer Elaina wehgetan. Bonnie ist wütend.
Ich umrunde das Bett, setze mich auf die Kante. Die Erinnerung an das Krankenhaus erfüllt mein Bewusstsein. Elainas Augen sind geöffnet und starren ins Nichts. Ihr Gesicht ist aufgedunsen vom Weinen. »Hallo«, sage ich.
Sie sieht mich an. Wendet den Blick ab, starrt wieder ins Nichts. Bonnie streichelt ihr weiter den Kopf.
»Weißt du, was mich am meisten aufregt, Smoky?«, durchbricht Elaina ihr Schweigen.
»Nein. Sag es mir.«
»Dass Alan und ich nie Kinder hatten. Wir haben es versucht, immer und immer wieder, aber es hat nicht geklappt. Jetzt bin ich zu alt, und ich muss mich mit dem Krebs herumschlagen.« Sie schließt die Augen, öffnet sie wieder. »Und dieser Mann kommt daher und dringt in unser Leben ein. Lacht über uns. Über mich. Er macht mir Angst.«
»Genau das wollte er erreichen.«
»Er hat es geschafft.« Schweigen. »Ich wäre eine gute Mutter geworden, meinst du nicht, Smoky?«
Ich bin erschrocken über die Tiefe des Schmerzes, der aus Elaina spricht. Es ist Bonnie, die ihre Frage beantwortet. Sie tippt Elaina auf die Schulter, und Elaina dreht ihr den Kopf zu. Bonnie wartet, bis sie sicher ist, dass sie ihr in die Augen sieht, und dann nickt sie. Ja, sagt sie. Du wärst eine wunderbare Mom geworden.
Elainas Augen werden weich. Sie streckt die Hand aus, streichelt Bonnies Gesicht. »Danke, mein Liebes.« Schweigen. Sie sieht mich an. »Warum tut er so etwas, Smoky?«
Warum hat er das getan, warum tut er es, warum passiert das alles? Warum meine Tochter, mein Sohn, mein Mann, meine Frau? Es ist die niemals endende Frage aller Opfer.
»Die kurze Antwort lautet, weil es ihm Freude macht, dir wehzutun, Elaina. Das ist das einfache Motiv dahinter. Zweitens weiß er, dass er Alan damit Angst macht. Das vermittelt ihm ein Gefühl von Macht. Und er liebt dieses Gefühl.«
Natürlich ist mir bewusst, dass das keine sehr gute Antwort auf diese niemals endende Frage darstellt. Warum ich? Ich bin eine gute Mutter/Tochter; ein guter Vater/Bruder/Sohn. Ich halte den Kopf unten, tue mein Bestes. Sicher, ich lüge hin und wieder, aber ich sage häufiger die Wahrheit, als dass ich lüge. Und ich liebe die Menschen in meinem Leben und sorge für sie, so gut ich kann. Ich versuche meistens, das Richtige zu tun, und ich bin glücklich, wenn ich häufiger Lächeln sehe als Schmerz. Ich bin kein Held; ich werde bestimmt nicht in irgendwelchen Geschichtsbüchern erwähnt werden. Doch hier bin ich, und es macht mir eine ganze Menge aus. – Warum also ich?
Ich kann ihnen nicht sagen, was ich wirklich denke. Warum? Weil du lebst, weil du atmest, weil du gehst und stehst und weil das Böse existiert. Weil die kosmischen Würfel auf dich gefallen sind. Entweder hat Gott dich an jenem Tag vergessen, oder es ist Teil seines großen Plans. Such dir aus, was du willst. Die Wahrheit lautet, dass schlimme Dinge eben passieren, irgendwo, Tag für Tag. Und heute warst du an der Reihe.
Manche Menschen mögen das eine zynische Ansicht nennen. Mich für meinen Teil hält diese Ansicht gesund. Sonst würde ich womöglich anfangen zu glauben, dass es die Bösen sind, die es richtig machen. Ich ziehe es vor, zu glauben, dass sie im Unrecht sind. Tatsache ist, dass das Böse der Feind des Guten ist, und heute hatte das Gute eben einen schlechten Tag. Diese Ansicht lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass morgen das Böse an der Reihe ist, einen schlechten Tag zu haben. Und das nennt man Hoffnung.
Nichts von alledem ist hilfreich, wenn sie dich nach dem Warum fragen, also erzähle ich ihnen irgendwas, genau wie eben Elaina. Manchmal hilft es, lindert ihren Schmerz. Meist aber nicht, weil man für gewöhnlich, wenn man diese Frage stellt, nicht wirklich an einer Antwort interessiert ist.
Elaina jedenfalls denkt über meine Antwort nach. Als sie mich wieder ansieht, bemerke ich eine unvertraute Emotion in ihrem Gesicht. Wut. »Schnapp diesen Mann, Smoky. Hörst du? Schnapp ihn dir!«
Ich muss schlucken. »Ja.«
»Gut. Ich weiß, dass du ihn kriegst.« Sie setzt sich auf. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Jeden.« Ich meine es ernst. Würde sie mich bitten, ihr einen Stern vom Himmel zu pflücken, würde ich selbst das versuchen.
»Sag Alan, wenn du runtergehst, dass er zu mir kommen soll. Ich kenne ihn. Er sitzt da und macht sich Vorwürfe. Sag ihm, dass er damit aufhören soll. Ich brauche ihn.«
Erschüttert, aber wieder so stark wie eh und je. Erneut wird mir bewusst, was ich ohnehin schon längst weiß: Ich liebe diese Frau. »Mach ich.« Ich sehe Bonnie an. »Komm, wir gehen, Liebes.«
Sie schüttelt den Kopf. Tätschelt Elainas Schulter, packt sie, besitzergreifend. Ich runzele die Stirn. »Schatz, ich denke, wir sollten Elaina und Alan heute Abend allein lassen.«
Sie schüttelt erneut den Kopf, entschieden, heftig. Nein. Ganz sicher nicht.
»Von mir aus kann sie gern hier bleiben, falls du nichts dagegen hast. Bonnie ist so süß.«
Ich sehe Elaina an, sprachlos. »Bist … bist du sicher?«, frage ich schließlich.
Sie streichelt Bonnie den Kopf. »Absolut.«
»Na schön, meinetwegen …« Außerdem wäre offenbar ein Wunder erforderlich, um Bonnie jetzt von Elaina zu lösen. »Dann gehe ich jetzt. Bonnie, wir sehen uns morgen früh.«
Sie nickt. Ich gehe zur Tür, drehe mich um, als ich leise, leichte Schritte hinter mir höre. Bonnie ist vom Bett aufgestanden, steht hinter mir, sieht zu mir auf. Sie nimmt meinen Arm, zieht mich zu sich herunter, sieht mir in die Augen. Sie sind voller Sorge.
Sie zeigt auf sich, dann tätschelt sie mich. Erneut. Insistierend. Und erneut. Die Sorge in ihrem Gesicht wird noch stärker. Endlich begreife ich. Ich erröte, und meine Augen brennen. »Ich gehöre zu dir«, sagt Bonnie mit ihrer Geste, »ich bleibe hier, um Elaina zu helfen. Aber ich gehöre zu dir.« Sie will, dass ich dies begreife. Ja, Elaina ist eine Urmutter. Doch ich gehöre zu dir.
Ich spreche nicht. Stattdessen nicke ich zur Antwort und drücke sie an mich, bevor ich das Schlafzimmer verlasse.
Unten steht Alan am Fenster und starrt in die heraufziehende Dämmerung.
»Sie hat sich wieder gefangen, Alan. Ich soll dir sagen, dass du dir keine Vorwürfe machen sollst und dass sie dich braucht. Oh, und Bonnie bleibt heute Nacht bei euch. Sie hat sich geweigert, von Elainas Seite zu weichen.«
Diese Nachricht scheint ihn ein wenig aufzumuntern. »Tatsächlich?«
»Ja. Sie ist sehr fürsorglich.« Ich tippe ihm gegen die Brust. »Du weißt, dass ich mit dir fühle, Alan. Du weißt, dass es so ist. Aber du musst dich endlich aufraffen und nach oben gehen und deine Frau in die Arme nehmen.« Ich grinse. »Sonst hast du Bonnie im Genick.«
»Ja«, sagt er nach einer Weile. »Du hast Recht. Danke.«
»Kein Problem. Und Alan – wenn du morgen freihaben möchtest, dann nimm dir frei.«
Sein Gesicht ist ernst. »Ganz bestimmt nicht, Smoky! Sie haben, was sie wollten. Ich werde diese Arschlöcher jagen, bis wir sie entweder schnappen oder bis sie tot sind.« Er lächelt, und diesmal ist es ein beängstigendes Lächeln. »Ich denke, sie haben sich mehr aufgehalst, als sie geglaubt haben.«
»Verdammt richtig«, antworte ich.