KAPITEL 13

Ich erinnere mich an diese Gegend von meinem Besuch bei Annie, nachdem ihr Vater gestorben war. Sie hat in einem riesigen Apartmentblock gewohnt, ein weiterer Bezug zu New York, wo die Apartments eher an geräumige Eigentumswohnungen erinnern, ausgestattet mit eingelassenen Badewannen und Esszimmern. Wir parken vor dem Gebäude.

»Hübsche Gegend, gute Adresse«, bemerkt Alan, während er durch die Windschutzscheibe nach oben schielt.

»Ihr Dad war einigermaßen wohlhabend«, antworte ich. »Er hat ihr in seinem Testament alles vermacht.«

Ich sehe mich um in dieser sauberen, sicheren Gegend. Es gibt kein Gebiet in San Francisco, das wirklich als Vorstadt bezeichnet werden könnte, doch es gibt fraglos so etwas wie »nette Viertel«. Hier findet man Zuflucht vor dem Lärm der Stadt, und in den besten Gegenden wohnt man so hoch, dass man über die Bucht hinwegblicken kann. Es gibt alte Viertel mit ihren Häusern im viktorianischen Stil und Neubaugegenden. Wie diese hier.

Erneut geht mir der Gedanke durch den Kopf: Nirgendwo auf der Welt ist man wirklich sicher vor einem Mord. Nirgendwo. Die Tatsache, dass man in einer Gegend wie dieser weniger damit rechnet als in einem Slum, macht einen am Ende nicht weniger tot.

Alan ruft Leo an, als wir aus dem Wagen steigen. »Wir stehen vor dem Haus, mein Junge, also halt durch. Wir sind in einer Sekunde oben.«

Wir gehen durch die Eingangstür und in die Lobby. Der Mann an der Rezeption beobachtet uns, als wir in den Lift steigen, doch er sagt nichts. Wir fahren schweigend in den dritten Stock hinauf.

Alan und ich haben bereits auf dem Weg hierher geschwiegen, und uns ist immer noch nicht nach Reden zumute. Das ist der schlimmste Teil an unserer Arbeit, für jeden. Zuzusehen, wie es passiert. Es ist eine Sache, Beweise in einem Labor zu analysieren oder sich in den Kopf eines Mörders zu versetzen. Aber es ist etwas ganz anderes, eine Leiche zu sehen. Blut in einem Raum zu riechen. Wie Alan einmal sagte: »Der Unterschied besteht darin, ob du an Scheiße denkst oder ob du sie frisst.«

Charlie schweigt und blickt grimmig drein. Vielleicht muss er daran denken, wie er vergangene Nacht in diesem Aufzug gestanden hat, bevor sie Bonnie entdeckt haben.

Wir erreichen unsere Etage und steigen aus dem Lift. Wir gehen den Flur hinunter und um eine Biegung. Leo wartet vor der Wohnung. Er sitzt auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, den Kopf in den Händen.

»Lass mich das machen«, murmelt Alan mir zu.

Ich nicke und beobachte, wie er sich Leo nähert. Er kniet sich vor ihn hin und legt dem jungen Mann seine mächtige Hand auf die Schulter. Ich weiß aus Erfahrung, dass seine Berührung sanft ist, so gewaltig diese Pranke auch aussehen mag.

»Wie geht es dir, Junge?«

Leo blickt zu Alan auf. Sein Gesicht ist blassgrün. Es glänzt von kaltem Schweiß. Er versucht erst gar nicht zu lächeln. »Es tut mir Leid, Alan, ich hab die Beherrschung verloren. Ich hab es gesehen, und dann musste ich kotzen. Ich konnte nicht in der Wohnung bleiben; hab’s nicht mehr ausgehalten …« Er verstummt mutlos.

»Hör zu, mein Junge.« Die Stimme des großen Mannes klingt ruhig, doch sie verlangt Aufmerksamkeit. Charlie und ich warten. So sehr wir auch nach drinnen wollen und unsere Arbeit machen – wir haben Mitgefühl mit Leo und dafür, was er im Augenblick durchmachen muss. Es ist ein entscheidender Moment für Leute mit unserem Beruf. Die Initiation. Die Blutweihe. Der Punkt, an dem man zum ersten Mal in den Abgrund sieht, an dem man herausfindet, dass der schwarze Mann wirklich existiert und sich tatsächlich all die Jahre unter dem Bett versteckt hat. Der Punkt, an dem man dem Bösen zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Wir wissen, dass dies der Punkt ist, an dem Leo sich entweder erholen oder sich eine neue Arbeit suchen wird. »Du glaubst, dass irgendwas nicht mit dir stimmt, weil du das, was du gesehen hast, nicht ertragen konntest?«

Leo nickt und sieht beschämt auf.

»Da irrst du dich aber. Das Problem besteht darin, dass du zu viele Filme gesehen und zu viele Bücher gelesen hast. Sie vermitteln dir eine schwachsinnige Vorstellung davon, was es bedeutet, zäh zu sein. Wie sich ein Polizist zu verhalten hat, wenn er mit Leichen oder Gewalt und dergleichen konfrontiert wird. Du meinst, du müsstest einen smarten Spruch parat haben, ein Schinkensandwich in der Hand halten und vollkommen ungerührt sein und so’n Quatsch, stimmt’s?«

»Ich schätze ja.«

»Und wenn nicht, dann musst du wohl ein Weichei sein und dich schämen vor den alten Hasen. Scheiße, vielleicht glaubst du sogar, nur weil du kotzen musstest, wärst du nicht aus dem richtigen Holz gemacht für diesen Job.« Alan dreht sich zu uns um. »Wie viele Tatorte haben Sie gesehen, Charlie, bevor Sie aufgehört haben zu kotzen?«

»Drei. Nein, vier.«

Leos Kopf fährt hoch bei Alans Worten.

»Wie war es bei dir, Smoky?«

»Mehr als einmal, so viel steht fest.«

Alan sieht wieder Leo an. »Bei mir waren es auch vier oder so. Selbst Callie hat gekotzt, obwohl sie es niemals zugeben würde, schließlich ist sie die Eiskönigin.« Er kneift die Augen zusammen. »Mein Junge, nichts im Leben bereitet dich darauf vor, so etwas zum ersten Mal sehen zu müssen. Absolut nichts. Es spielt keine Rolle, wie viele Bilder du dir angesehen oder wie viele Akten du gelesen hast. Der echte Tod ist etwas völlig anderes.«

Leo sieht Alan an, und ich kenne diesen Blick. Es ist der Ausdruck eines an Verehrung grenzenden Respekts, mit dem ein Student seinen Mentor ansieht. »Danke.«

»Kein Problem.« Beide erheben sich.

»Sind Sie bereit, mich zu informieren, Agent Carnes?«, frage ich streng. Er braucht das jetzt.

»Ja, Ma’am.«

In sein Gesicht ist ein wenig Farbe zurückgekehrt, und er wirkt etwas gefasster als zuvor. Für mich sieht er einfach nur jung aus. Leo Carnes ist noch ein Baby, konfrontiert mit dem Mord und von nun an dazu verurteilt, alt zu werden, bevor seine Zeit gekommen ist. Willkommen im Club, Leo.

»Nun, dann berichten Sie.«

Seine Stimme klingt ruhig, als er zu sprechen anfängt. »Ich bin hergekommen und hab die ersten Checks gemacht und mich überzeugt, dass es keine Fallen und keine Computerviren gibt. Dann tat ich das, was man immer macht – nachsehen, welche Dateien zuletzt bearbeitet wurden. Es war eine Textdatei mit dem Namen Lies_mich_FBI.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Ich hab die Datei geöffnet. Sie enthielt einen einzelnen Satz. ›Seht in der Tasche der blauen Jacke nach.‹ Ich konnte nirgendwo eine blaue Jacke sehen, deswegen ging ich zum Schrank. Dort hing eine blaue Frauenjacke, und in der Tasche fand ich eine CD.«

»Also haben Sie beschlossen, einen Blick darauf zu werfen. Das ist okay. Ich hätte das Gleiche getan.«

Ermutigt fährt er fort: »Wenn man eine CD brennt, kann man ihr einen Titel geben. Als ich den Titel dieser CD sah, wurde ich hellwach.« Leo schluckt. »Der Titel lautet: ›Der Tod von Annie‹.«

Charlie schneidet eine Grimasse. »Dieser Hurensohn! Jenny wird stinksauer sein, dass wir die CD übersehen haben.«

»Fahren Sie fort«, fordere ich Leo auf.

»Ich habe nachgesehen, welche Dateien sich auf der CD befinden. Es gab nur eine einzige. Ein hochauflösendes AVI. Es füllt die gesamte CD.« Er schluckt erneut, und die Blässe kehrt in sein Gesicht zurück, wenngleich nicht so stark wie zuvor. »Ich hab auf die Datei geklickt und einen Mediaplayer gestartet, der die Datei abgespielt hat. Es war …« Er schüttelt den Kopf, während er sichtlich um Fassung ringt. »Entschuldigung. Der Täter hat dieses Video aufgenommen und gebrannt. Es geht nicht vom Anfang bis zum Ende der Tat – das hätte wahrscheinlich den Umfang der CD gesprengt … Es ist mehr eine … eine Montage.«

»Eine Montage vom Mord an Annie«, sage ich für ihn. Ich weiß, dass er es nicht selbst aussprechen möchte.

»Ja … Es ist … unbeschreiblich! Ich wollte nicht weiter hinsehen, doch ich konnte nicht anders. Dann fing ich an mich zu übergeben, und dann rief ich Agent Washington an. Ich verließ die Wohnung und wartete draußen vor der Tür, bis Sie kamen.«

»Sie haben hoffentlich nicht ins Schlafzimmer gekotzt, oder?«, fragt Charlie.

»Ich hab’s bis zur Toilette geschafft.«

Alan schlägt ihm mit seiner Riesenpranke auf die Schulter. Würde Leo ein Gebiss tragen, wäre es ihm von der Wucht wahrscheinlich aus dem Mund geflogen. »Siehst du?«, ruft er. »Du hast das Zeug dazu, Leo. Du hast einen klaren Kopf bewahrt, auch wenn dein Magen rebelliert hat. Das ist gut.«

Leo lächelt ihn verlegen an.

»Sehen wir es uns an«, sage ich. »Leo, Sie müssen nicht mitkommen, wenn Sie nicht wollen. Das meine ich ernst.«

Er sieht mir sehr direkt in die Augen. Sein Blick ist eine überraschende Mischung aus Reife und Nachdenklichkeit. Mir wird mit einem Schlag bewusst, was er denkt. Er denkt, dass Annie meine Freundin war. Dass, wenn ich imstande bin, reinzugehen und mir anzusehen, wie sie gestorben ist, jeder dazu imstande sein müsste. Ich kann seine Gedanken beinahe hören. Seine Augen bestätigen es; sie werden hart, und er schüttelt entschieden den Kopf. »Nein, Ma’am. Der Computer ist mein Job. Ich mache meinen Job.«

Ich erkenne seine Stärke auf die Weise an, wie wir derartige Dinge stets anerkennen – indem ich kein Aufhebens davon mache. »Meinetwegen. Dann führen Sie uns hinein.«

Leo öffnet die Tür zur Wohnung, und wir treten ein. Sie hat sich nicht sehr verändert, seit ich hier war. Es ist eine Vierzimmerwohnung, zwei Bäder, ein großes Wohnzimmer und eine sehr große Küche. Am bemerkenswertesten ist die Tatsache, dass Annie überall ist. Sie lebt durch die Einrichtung, das Wesen dieser Wohnung. Blau war schon immer ihre Lieblingsfarbe, und ich sehe Blau in den Vorhängen, eine blaue Vase, eine Fotografie mit einem strahlend blauen Himmel. Die Wohnung hat Stil. Sie besitzt eine mühelose Eleganz, ohne goldenen Firlefanz oder vergoldeten Zierrat. Alles passt, doch nicht auf jene irritierend zwanghafte Weise, es anderen unbedingt gleichtun zu müssen. Die Wohnung ist ein Beispiel unauffälliger Schönheit. Sie wirkt souverän.

Annie hatte schon immer diese Gabe. Die Fähigkeit zu schmücken, ohne darüber nachdenken zu müssen. Alles, angefangen bei ihrer Kleidung bis hin zur Uhr an ihrem Handgelenk, war immer ohne Ausnahme chic, ohne arrogant oder kopiert zu wirken. Elegant und unaufdringlich. Es war ihr angeboren, und ich habe es stets als Beweis für Annies innere Schönheit betrachtet. Sie hat die Dinge nicht wegen der Wirkung ausgewählt, die sie damit bei anderen erzielen konnte. Sie hat sie ausgewählt, weil sie sich von ihnen angesprochen fühlte. Weil sie zu ihr passten. Die Wohnung spiegelt dies wider. Sie atmet den Geist von Annies Seele.

Doch hier ist noch etwas präsent.

»Riecht ihr das?«, fragt Alan. »Was ist das?«

»Parfum und Blut«, murmele ich.

»Zum Computer geht es hier entlang«, sagt Leo. Er führt uns ins Schlafzimmer.

Hier stirbt die Harmonie. Dies ist der Ort, an dem er sein Werk getan hat. Es ist das bewusste Gegenteil zu Annies zwangloser Schönheit. Hier hat jemand absichtlich Dissonanz hervorrufen wollen. Die Erhabenheit zerbrechen. Etwas Exquisites zerstören.

Der Teppich ist blutbefleckt, und der starke Verwesungsgeruch, vermischt mit dem Duft von Annies Parfum, steigt mir in die Nase. Es sind zwei Gegensätze: einerseits der Duft des Lebens, zum anderen der Gestank des Todes. Ein Tisch liegt umgeworfen auf der Seite, eine Lampe ist zerschlagen. Die Wände sind zerkratzt, und das gesamte Zimmer strömt etwas Verzerrtes, Unrechtes aus. Der Mörder hat es durch seine Anwesenheit vergewaltigt.

Leo setzt sich an den Computer. Ich denke an Annie.

»Fangen Sie an«, sage ich zu ihm.

Leo wird blass. Dann bewegt er die Maus und schiebt den Pfeil auf eine Datei, die er mit einem Doppelklick öffnet. Der Schirm füllt sich, und der Film beginnt. Mir bleibt fast das Herz stehen, als ich Annie sehe.

Sie ist von Kopf bis Fuß nackt und mit den Händen ans Bett gefesselt. Übelkeit steigt in mir auf, als ich daran denke, dass ich in der gleichen Lage gewesen bin. Joseph Sands. Ich reiße mich zusammen.

Der Mörder ist ganz in Schwarz gekleidet. Er trägt eine Kapuze, die sein Gesicht verdeckt.

»Ist das etwa ein beschissenes Ninja-Kostüm?«, poltert Alan. Er schüttelt angewidert den Kopf. »Meine Güte! Es ist alles nur ein verdammter Witz für diesen Bastard!«

Mein Talent als Jägerin übernimmt automatisch die Führung. Der Killer scheint etwa eins achtzig groß zu sein. Er ist gut in Form – eine Mischung aus muskulös und drahtig. An der Haut um seine Augen erkenne ich, dass er ein Weißer ist.

Ich warte darauf, dass er spricht. Die Stimmerkennungstechnologie ist heutzutage hochentwickelt, und sie könnte einen entscheidenden Hinweis liefern. Doch dann verschwindet er aus dem Blickwinkel der Kamera. Ich höre leise Geräusche im Hintergrund, wo er mit irgendetwas hantiert. Als er wieder zu sehen ist, blickt er direkt in die Linse, und an den Fältchen um seine Augen hinter der Maske erkenne ich, dass er hinter seiner Maske grinst. Er hebt eine Hand und zählt mit den Fingern, 1, 2, 1 – 2 – 3 – 4 …

Musik erschallt im Zimmer. Sie ist so laut, dass sie jedes andere Geräusch übertönt. Es dauert nur einen Augenblick, bis ich sie einordnen kann. Als es geschieht, wird mir fast übel. Fast.

»Mein Gott!«, flüstert Charlie. »Sind das die Rolling Stones?«

»Genau. ›Gimme Shelter‹«, bestätigt Alan. Seine Stimme klingt gepresst vor Wut. »Das findet dieser kranke Drecksack witzig. Ein wenig Stimmungsmusik für sein widerliches Tun.«

Die Lautstärke ist hoch, das Lied laut. Als es schneller wird, fängt der Mörder vor der Kamera zu tanzen an. Er hält ein Messer in der Hand, und er tanzt für Annie und die Kamera. Es ist rasend, wahnsinnig, doch er bewegt sich im Takt. Irresein im Rhythmus.

»… raaaape and murder …«

Das ist der Grund, weshalb er dieses Stück ausgewählt hat. Das ist seine Botschaft. Sie passt zu meinen Gedanken, die ich vorhin gehabt habe. Was er tun kann, liegt immer nur einen Schritt weit weg. Ich schließe für einen Moment die Augen, als ich sehe, dass Annie dies ebenfalls erkannt hat. Ich kann es an ihrem Gesicht ablesen, an ihren Augen. Namenloses Entsetzen, gemischt mit Hoffnungslosigkeit.

Der Mörder hat aufgehört zu tanzen, auch wenn er sich noch im Rhythmus der Musik bewegt, beinahe unbewusst, wenigstens sieht es so aus. Wie jemand, der mit dem Fuß den Rhythmus zu einem Lied tappt, ohne es zu merken. Er steht neben dem Bett, die Augen auf Annie gerichtet. Er scheint fasziniert. Annie kämpft gegen ihre Fesseln. Ich kann nichts hören wegen der Musik, doch ich sehe, dass sie durch ihren Knebel hindurch schreit. Er wirft einen weiteren Blick in die Kamera. Dann beugt er sich mit dem Messer vor.

Der Rest ist genauso, wie Leo es gesagt hat. Eine Montage. Ein Schnitt folgt dem anderen: Annies Folter, ihre Vergewaltigung, ihr Entsetzen. Das Messer ist sein Werkzeug, und er benutzt es beinahe bedächtig. Er liebt es, langsam zu schneiden, und er liebt lange Schnitte. Er berührt sie überall mit seiner Klinge. Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn neue Bilder über den Schirm blitzen. Es fährt mir durch Mark und Bein, als würde ich einen Stromschlag von einer Autobatterie bekommen. Szene, Schock, Zusammenzucken, Annie wird gefoltert. Szene, Schock, Zusammenzucken, Annie wird vergewaltigt. Szene, Schock, Zusammenzucken, er schneidet, er schneidet, gütiger Gott, er hört überhaupt nicht mehr auf zu schneiden. Ihre Augen füllen sich mit Todesqual, ihre Augen füllen sich mit nacktem Entsetzen, und schließlich werden sie leer, ein starrer Blick ins Nichts. Sie lebt noch, doch sie ist nicht länger bei klarem Bewusstsein. Der Mörder ist außer sich, in Hochstimmung. Er führt einen Regentanz auf, und sein Regen ist Blut, Annies Blut. Ich sehe zu, wie meine Freundin stirbt. Sie stirbt langsam und furchtbar und ohne jede Würde. Als er endlich fertig ist, ist sie längst tot, ein ausgeweideter Fisch. Zuzusehen wie sie stirbt, diese Frau, die ich als Teenager in den Armen gehalten habe, diese Frau, mit der ich zusammen aufgewachsen bin, die ich geliebt habe – das ist, als wäre ich zurück in jenem Bett und müsste zusehen, wie Matt schreit.

Ich habe nicht richtig um Annie geweint, seit sie gestorben ist. Ich merke, dass ich jetzt weine. Dass ich schon die ganze Zeit über geweint habe.

Es sind lautlose Tränen, Ströme, die mir über die Wangen rinnen. Ströme, die den Tod des einzigen Menschen außer Matt betrauern, der mich voll und ganz kannte. Jetzt bin ich allein auf der Welt. Ich habe keine Wurzeln mehr, und es ist unerträglich.

Ich wische meine Tränen nicht ab. Ich schäme mich ihrer nicht. Sie haben ihre Berechtigung.

Die Videoaufzeichnung endet, und rings um mich herum herrscht betroffene Stille.

»Spielen Sie es noch mal ab«, sage ich.

Spielen Sie es noch mal ab, weil in mir ein Drache lauert. Ein Drache, der langsam erwacht.

Ich brauche ihn wach, und ich brauche ihn wütend.