KAPITEL 12
San Franciscoer fahren ähnlich wie New Yorker. Sie machen keine Gefangenen. Der Verkehr ist im Moment mittelstark bis stark, und Jenny konzentriert sich ganz auf ihre wilden Auseinandersetzungen mit anderen Fahrern auf dem Rückweg zum SFPD. Eine Symphonie aus Hupen und Flüchen erfüllt die Luft. Ich telefoniere mit einem Finger im Ohr, damit ich Callie auf dem anderen hören kann.
»Wie läuft es bei der Spurensicherung?«, frage ich.
»Die Jungs sind gut, Zuckerschnäuzchen. Verdammt gut. Ich gehe alles mit einem Staubkamm durch, aber ich denke, sie haben wirklich jeden Winkel forensisch abgedeckt.«
»Ich nehme an, das soll bedeuten, sie haben nichts gefunden?«
»Er hat aufgepasst.«
»Ja.« Ich spüre eine Depression anklopfen und schiebe sie beiseite. »Hast du schon mit den anderen geredet? Irgendwelche Neuigkeiten von Damien?«
»Ich hatte noch keine Zeit dazu.«
»Wir sind sowieso fast wieder beim SFPD. Mach weiter mit dem, was du gerade getan hast. Ich setze mich mit den anderen in Verbindung.«
Sie schweigt einen Moment, bevor sie fragt: »Wie geht es dem Kind, Smoky?«
Wie geht es dem Kind? Ich wünschte, ich hätte eine Antwort darauf. Doch die habe ich nicht, und ich will im Moment auch nicht darüber reden. »Nicht gut.«
Ich beende das Telefongespräch, bevor sie etwas erwidern kann, und starre durch das Fenster nach draußen, während Jenny uns durch San Francisco steuert. Die Stadt ist ein Labyrinth aus steilen Hügeln und Einbahnstraßen, voller aggressiver Fahrer und Straßenbahnen. Sie besitzt eine gewisse, neblige Schönheit, die ich stets bewundert habe, eine ganz eigene Atmosphäre. Es ist die Mischung aus den Kultivierten und den Dekadenten, die sich in hohem Tempo entweder auf den Tod oder auf den Erfolg zubewegen. In diesem Augenblick erscheint mir San Francisco allerdings gar nicht so einzigartig. Eine ganz normale Stadt, in der sich Morde ereignen. Das ist die Sache mit dem Mord. Er kann sich am Nordpol ebenso abspielen wie am Äquator. Männer wie Frauen können einen Mord begehen, Jugendliche wie Erwachsene. Die Opfer können sowohl Sünder als auch Heilige sein. Mord ist überall, und seine Kinder sind Legion. Ich bin erfüllt von Dunkelheit, während ich darüber nachdenke. Kein Weiß, kein Grau, sondern nur ein massives Kohlrabenschwarz.
Wir kommen vor dem SFPD an, und Jenny lenkt den Wagen aus dem geschäftigen Verkehrsstrom auf den stilleren Parkplatz, der zum SFPD gehört. Parkplätze sind ein kostbares Gut in San Francisco, und gnade Gott denen, die es wagen, sich unberechtigt auf einen dieser reservierten Plätze zu stellen.
Wir betreten das Gebäude durch einen Seiteneingang und gehen einen Korridor entlang. Alan ist zusammen mit Charlie in Jennys Büro. Beide sind in eine Akte vertieft, die ausgebreitet vor ihnen auf dem Schreibtisch liegt.
»Hey«, sagt Alan. Ich bemerke seinen forschenden, abschätzenden Blick. Ich reagiere nicht.
»Schon irgendwelche Neuigkeiten von den anderen?«
»Bei mir hat sich niemand gemeldet.«
»Und du? Hast du irgendwas gefunden?«
Er schüttelt den Kopf. »Bis jetzt nicht. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass die Kollegen hier Blindgänger sind, aber dem ist nicht so. Detective Chang hat ihr Boot fest im Griff.« Er schnippt mit den Fingern und grinst in Charlies Richtung. »O ja, sorry. Und ihr loyales Helferlein natürlich auch.«
»Du kannst mich mal«, antwortet Charlie, ohne vom Schreibtisch aufzublicken.
»Mach weiter. Ich werde Leo und James anrufen.«
Er zeigt mir den erhobenen Daumen und konzentriert sich wieder auf die Akte.
Mein Handy klingelt. »Barrett?«
Ich höre James’ missmutige Stimme. »Wo zur Hölle ist Detective Chang?«, schnarrt er.
»Was ist passiert, James?«
»Der Pathologe will erst anfangen zu schneiden, wenn deine kleine Freundin hier aufgetaucht ist. Sie soll ihren Hintern hier rüberschaffen, aber plötzlich.«
Er legt auf, bevor ich etwas erwidern kann. Arschloch.
»James braucht dich in der Pathologie«, informiere ich Jenny. »Der Gerichtsmediziner will nicht ohne dich anfangen.«
Sie lächelt schwach. »Ich nehme an, der Spinner ist sauer?«
»Ziemlich.«
Sie grinst. »Sehr gut. Ich mache mich gleich auf den Weg.«
Sie bricht auf. Zeit für mich, Leo anzurufen, unseren Neuling. Während ich wähle, schießt mir zusammenhanglos die Frage durch den Sinn, welchen Schmuck er wohl im Ohr trägt, wenn er nicht im Dienst ist? Das Telefon klingelt fünf- oder sechsmal, bevor er sich meldet, und als er es tut, lässt mich seine Stimme zusammenzucken. Sie klingt hohl und zutiefst erschüttert. Seine Zähne klappern.
»Ca-ca-carnes?«
»Ich bin es, Smoky. Was gibt’s, Leo?«
»Ein Vi-vi-vi-video …«
»Langsam, Leo, langsam. Atmen Sie tief durch, und erzählen Sie mir dann, was passiert ist.«
Als er endlich spricht, ist seine Stimme sehr leise. Und was er sagt, füllt meinen Kopf mit weißem Rauschen.
»Eine Vi-vi-vi-videoaufnahme vom Mo-mo-mo-mord. Furchtbar …«
Alan sieht mich an, Besorgnis in den Augen. Er spürt, dass etwas passiert ist.
Endlich finde ich die Sprache wieder. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Leo. Gehen Sie nirgendwohin. Wir sind so schnell wie möglich bei Ihnen.«