KAPITEL 22

Bonnie wacht mitten in der Nacht schreiend auf.

Es ist nicht der Schrei eines Kindes. Es ist ein Heulen, wie jemand es von sich gibt, der in einem Raum in der Hölle eingesperrt ist. Hastig schalte ich die Nachttischlampe an. Zu meinem Entsetzen sehe ich, dass ihre Augen noch geschlossen sind. Ich werde immer wach, wenn ich anfange zu schreien. Bonnie schreit im Schlaf. Sie ist in ihren Träumen gefangen, kann ihrer Angst zwar eine Stimme verleihen, doch sie kann nicht aus ihr erwachen.

Ich packe sie und schüttele sie heftig. Das Schreien endet. Sie öffnet die Augen und schweigt wieder. Ihr Schreien hallt in meinem Kopf nach, und ich spüre ihr Zittern. Ich ziehe sie wortlos an mich, streichle ihr über das Haar. Sie klammert sich an mich. Bald darauf endet das Zittern. Kurz danach schläft sie wieder ein.

Ich löse mich von ihr, so sanft ich kann. Sie sieht friedlich aus. Während ich sie beobachte, schlafe ich ebenfalls wieder ein. Und zum ersten Mal seit sechs Monaten träume ich von Alexa.

 

»Hi Mommy«, sagt sie zu mir und lächelt.

»Was ist denn, Hühnerpo?«, frage ich. Als ich sie das erste Mal so nannte, musste sie so heftig lachen, dass sie Kopfschmerzen davon bekam und schließlich anfing zu weinen. Seitdem nenne ich sie so.

Sie sieht mich ernst an. Mit jenem Blick, der zugleich zu ihr passt und auch wieder nicht. Er passt nicht zu ihr, weil sie eigentlich zu jung dafür ist. Und er passt zu ihr, weil er echt ist, weil sie ein ernstes Wesen hat. Die warmen braunen Augen ihres Vaters sehen mich aus einem Gesicht heraus an, in dem ich unser beider Gene entdecke, durchsetzt mit Grübchen, die ganz allein die ihren sind. Matt hat ständig gewitzelt, der Postbote habe Grübchen und ich hätte vielleicht eine Spezialsendung von ihm erhalten, ha-ha-ha.

»Ich mache mir Sorgen wegen dir, Mommy.«

»Warum denn, meine kleine Süße?«

Ihre Augen werden traurig. Zu traurig für ihr Alter, zu traurig für diese Grübchen.

»Weil du mich so sehr vermisst.«

Ich werfe einen Seitenblick zu Bonnie, dann sehe ich wieder Alexa an. »Was ist mit ihr, Baby? Ist das in Ordnung für dich?«

Bevor sie antworten kann, wache ich auf. Meine Augen sind trocken, doch das Herz in meiner Brust zieht sich zusammen, und ich habe Mühe zu atmen. Nach einigen Sekunden beruhigt es sich wieder. Ich drehe den Kopf. Bonnies Augen sind geschlossen, und ihr Gesicht wirkt entspannt.

Ich schlafe erneut ein, während ich sie beobachte. Diesmal träume ich nicht.

 

Es ist Morgen. Ich betrachte mich im Spiegel, während Bonnie mich beobachtet. Ich habe meinen besten schwarzen Hosenanzug angezogen. Matt nannte ihn immer meinen »Killer-Anzug«. Er sitzt immer noch ausgezeichnet.

Ich habe meine Frisur monatelang ignoriert. Wenn ich überhaupt Aufmerksamkeit auf mein Haar verwandt habe, dann, um es so zu bürsten, dass es meine Narben verdeckte. Früher habe ich meine Haare offen getragen. Heute habe ich sie streng nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden, bei dem Bonnie mir geholfen hat. Statt meine Narben vor der Welt zu verbergen, betone ich sie auf diese Weise noch.

Es ist eigenartig, denke ich für mich, während ich mir im Spiegel in die Augen sehe. So schlecht sieht es gar nicht aus, wirklich nicht. Oh, sicher, es ist entstellend. Und schockierend. Aber … insgesamt betrachtet erwecke ich nicht den Eindruck, als gehörte ich in ein Kuriositätenkabinett. Ich frage mich, wieso mir das vorher nie aufgefallen ist, warum ich mir bis heute so viel hässlicher erschienen bin. Ich schätze, es liegt daran, dass ich zu viel Hässliches in mir hatte.

Ich mag es, wie ich aussehe. Ich sehe tough aus. Ich sehe verdammt hart aus. Ich sehe phantastisch aus. All das passt zu meiner gegenwärtigen Sicht des Lebens. Ich wende mich vom Spiegel ab. »Was meinst du? Gut?«

Nicken. Lächeln.

»Dann wollen wir mal los, Honey. Wir haben heute ein paar Dinge zu erledigen.«

Sie nimmt meine Hand, und wir gehen nach draußen.

 

Mein erster Stopp ist Dr. Hillsteads Praxis. Ich habe angerufen und meinen Besuch angekündigt, und er erwartet mich bereits. Als wir in der Praxis ankommen, überrede ich Bonnie, bei Imelda zu bleiben, Dr. Hillsteads Arzthelferin, und dort auf mich zu warten. Imelda ist eine Latina mit einer herben Art, sich um Menschen zu kümmern, und Bonnie scheint auf ihre Mischung aus Wärme und Schroffheit anzuspringen. Ich kann sie verstehen. Wir lebenden Verwundeten hassen Mitleid. Wir wollen einfach nur ganz normal behandelt werden.

Ich betrete das Sprechzimmer, und Dr. Hillstead kommt um den Schreibtisch herum, um mich zu begrüßen. Er sieht vollkommen niedergeschmettert aus.

»Smoky, ich kann gar nicht sagen, wie Leid mir tut, was passiert ist. Ich wollte ganz bestimmt nicht, dass Sie es auf diese Weise herausfinden.«

Ich zucke die Schultern. »Ja, sicher. Er war in meiner Wohnung. Er hat mich beim Schlafen beobachtet. Ich schätze, er hat ein richtig hübsches Dossier über mich. Das können Sie wohl kaum gewollt haben.«

Er starrt mich schockiert an. »Er … er war in Ihrer Wohnung?«

»Ja.« Ich verzichte darauf, das Pronomen zu korrigieren. Die Information, dass »er« in Wirklichkeit zwei sind, bleibt einstweilen auf das Team beschränkt. Es ist unser heimlicher Trumpf.

Dr. Hillstead fährt sich mit der Hand durch das Haar. Er sieht erschüttert aus. »Das ist wirklich zutiefst beunruhigend, Smoky. Ich habe normalerweise nur aus zweiter Hand mit diesen Dingen zu tun, mit Erzählungen davon, aber das hier ist das erste Mal, dass ich tatsächlich mit so etwas konfrontiert werde.«

»So ist das eben manchmal.«

Vielleicht ist es meine Gelassenheit, die ihn aufhorchen lässt. Zum ersten Mal, seit ich sein Büro betreten habe, sieht er mir in die Augen. Er bemerkt die Veränderung, und das scheint den Arzt in ihm zu wecken.

»Warum nehmen Sie nicht Platz?«

Ich setze mich in einen der Ledersessel vor dem Schreibtisch. Er betrachtet mich nachdenklich. »Sind Sie wütend auf mich, weil ich den ballistischen Bericht zurückgehalten habe?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein. Das heißt, ich war es. Doch ich verstehe, warum Sie es gemacht haben, und ich denke, es war richtig.«

»Ich wollte es Ihnen erst sagen, wenn Sie so weit gewesen wären, es zu verarbeiten.«

Ich lächle knapp. »Ich weiß nicht, ob ich bereit war oder nicht, aber ich bin dadurch gewachsen.«

Er nickt. »Ja. Ich bemerke eine Veränderung an Ihnen. Erzählen Sie mir davon.«

»Es gibt nicht viel zu erzählen«, antworte ich schulterzuckend. »Es hat mich schwer getroffen. Im ersten Augenblick konnte ich es nicht glauben. Dann kam die Erinnerung wieder. Ich erinnerte mich, dass ich Alexa erschossen habe. Dass ich versucht habe, Callie zu erschießen. Es war, als hätte mich all der Schmerz, der mich seit sechs Monaten verfolgt, auf einmal getroffen. Ich wurde ohnmächtig.«

»Das hat Callie mir erzählt.«

»Die Sache ist die, dass ich nicht sterben wollte, als ich aufwachte. Und das weckte Schuldgefühle in mir. Und trotzdem wollte ich nicht sterben. Ich will es immer noch nicht.«

»Das ist gut, Smoky«, sagt er mit leiser Stimme.

»Und es ist nicht nur das. Sie hatten Recht mit meinem Team. Es ist meine Familie. Und es geht ihm verdammt schlecht. Alans Frau hat Krebs. Callie hat irgendwelche Probleme, über die sie mit niemandem reden will, und mir wurde bewusst, dass ich das nicht einfach ignorieren kann. Ich liebe sie. Ich muss für sie da sein, wenn sie mich brauchen. Verstehen Sie das?«

Er nickt. »Das tue ich. Und ich gestehe, dass ich es gehofft habe. Nicht dass die Mitglieder Ihres Teams Schwierigkeiten haben, das meine ich nicht. Aber Sie haben in einem Vakuum gelebt, Smoky. Ich habe gehofft, dass der Kontakt mit den anderen Sie an das eine erinnern würde, wovon ich weiß, dass es Ihnen einen Grund zum Weiterleben gibt.«

»Und das wäre?«

»Pflichtgefühl. Es ist eine treibende Kraft bei Ihnen. Sie haben eine Pflicht gegenüber Ihrem Team. Und gegenüber den Opfern.«

Dieser Gedanke überrascht mich. Weil mir sofort klar wird, dass er den Nagel auf den Kopf trifft. Ich mag vielleicht niemals wieder ganz geheilt werden, und ich mag bis zum letzten Tag meines Lebens nachts schreiend aus dem Schlaf schrecken – doch solange meine Freunde mich brauchen, solange diese Monster zuschlagen, muss ich bleiben. Ich habe keine andere Wahl. »Es hat funktioniert«, sage ich.

Er lächelt sanft. »Das freut mich.«

»Ach ja.« Ich seufze. »Auf dem Weg von San Francisco nach Hause hatte ich eine Menge Zeit zum Nachdenken. Mir wurde klar, dass ich etwas ausprobieren musste. Falls ich es nicht konnte, war ich erledigt. Dann hätte ich heute mein Entlassungsgesuch eingereicht.«

»Und was war das?«, fragt er, obwohl ich glaube, dass er die Antwort weiß. Er will, dass ich es selbst sage.

»Ich war auf einer Schießbahn. Habe mir eine Glock geben lassen und wollte herausfinden, ob ich noch schießen kann. Ob ich sie überhaupt in die Hand nehmen kann, ohne wieder ohnmächtig zu werden.«

»Und?«

»Es ist alles noch da. Als wäre es nie weg gewesen.«

Er legt die Fingerspitzen aneinander und sieht mich an. »Es steckt noch mehr dahinter, nicht wahr? Ihr gesamtes Erscheinungsbild hat sich verändert.«

Ich blicke diesem Mann in die Augen; ihm, der versucht hat, mir in den vergangenen Monaten zu helfen. Mir wird bewusst, dass seine Fähigkeit, Leute wie mich zu unterstützen, ein erstaunlicher Tanz ist, eine Mischung aus Chaos und Präzision. Er muss wissen, wann er zurückweichen, wann er kämpfen, wann er antäuschen muss, um einen Verstand wieder zum Funktionieren zu bringen. Ich jage lieber Serienmörder.

»Ich bin kein Opfer mehr, Dr. Hillstead. Ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll. Es ist nichts, das sich in viele Worte kleiden ließe. Es ist einfach so; ich bin kein Opfer mehr.« Ich lehne mich zurück. »Sie haben viel dazu beigetragen, und dafür möchte ich Ihnen danken. Ohne Sie wäre ich vielleicht tot.«

Jetzt lächelt er. Und schüttelt den Kopf. »Nein, Smoky. Ich glaube nicht, dass Sie tot wären. Ich freue mich natürlich darüber, dass Sie der Meinung sind, ich hätte Ihnen geholfen, aber Sie haben ein angeborenes Talent zum Überleben. Ich glaube nicht, dass Sie sich selbst getötet hätten. Bestimmt nicht.«

Vielleicht, vielleicht auch nicht, denke ich.

»Wie soll es nun weitergehen? Wollen Sie mir sagen, dass Sie mich nicht mehr brauchen?« Es ist eine ehrliche Frage. Ich habe nicht das Gefühl, dass er bereits weiß, wie die richtige Antwort lautet.

»Nein, das sage ich nicht.« Ich lächle ihn an. »Es ist eigenartig. Hätten Sie mich vor einem Jahr gefragt, ob ich zu einem Therapeuten muss, hätte ich einen abfälligen Kommentar gemacht und mich den Leuten gegenüber überlegen gefühlt, die meinen, einen zu brauchen.« Ich schüttele den Kopf. »Das sehe ich nicht mehr so. Es gibt immer noch Dinge, die ich bewältigen muss. Der Tod meiner Freundin …« Ich sehe ihn an. »Sie wissen, dass ich ihre Tochter bei mir aufgenommen habe?«

Er nickt ernst. »Callie hat mich über das informiert, was ihr zugestoßen ist. Ich bin froh, dass Sie sie aufgenommen haben. Sie fühlt sich jetzt wahrscheinlich sehr allein.«

»Sie spricht nicht. Sie nickt nur oder schüttelt den Kopf. Letzte Nacht hat sie im Schlaf geschrien.«

Er verzieht das Gesicht. Niemanden bei klarem Verstand freut das Leid eines Kindes. »Ich schätze, es wird eine lange Zeit dauern, bis sie dieses Trauma überwunden hat, Smoky. Möglicherweise redet sie noch jahrelang nicht. Das Beste für sie ist, was Sie bereits tun – einfach da zu sein für sie. Versuchen Sie nicht, mit ihr über das zu reden, was passiert ist. Dazu ist sie noch nicht bereit. Ich bezweifle, dass sie es in den nächsten Monaten sein wird.«

»Tatsächlich?« Meine Stimme ist tonlos. Seine Augen sind freundlich.

»Ja. Hören Sie, am dringendsten benötigt dieses Kind jetzt das Wissen, dass es in Sicherheit ist und dass Sie für es da sind. Dass das Leben weitergeht. Sein Vertrauen in die für jedes Kind grundlegenden Dinge – die Sicherheit eines Zuhauses, Eltern, die für es da sind –, dieses Vertrauen ist erschüttert. Auf eine sehr persönliche, grauenvolle Weise. Es wird eine Weile dauern, bis dieses Vertrauen wieder aufgebaut werden kann.« Er sieht mich prüfend an. »Sie sollten das wissen, Smoky.«

Ich schlucke und nicke.

»Ich würde sagen, lassen Sie ihr Zeit. Beobachten Sie sie, seien Sie für sie da. Ich denke, Sie werden spüren, wann die Zeit für sie reif ist, darüber zu reden. Und wenn diese Zeit kommt …« Er scheint zu zögern, doch nur für einen Moment. »Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, lassen Sie es mich wissen. Ich würde Ihnen mit Freuden einen Therapeuten für sie empfehlen.«

»Danke sehr.« Mir kommt ein weiterer Gedanke. »Was ist mit der Schule?«

»Damit sollten Sie noch etwas warten. Ihre seelische Gesundheit ist das wichtigere Problem.« Er runzelt die Stirn. »Es ist schwer zu sagen, wie sie sich entwickeln wird. Sie haben sicher das Klischee gehört, und es stimmt: Kinder sind sehr strapazierfähig. Sie könnte sich erholen und bereit sein für die Komplexitäten des schulischen Lebens, oder …« Er zuckt die Schultern. »Möglicherweise benötigt sie Privatunterricht, bis sie die Schule abgeschlossen hat. Doch ich würde sagen, zumindest für den Augenblick, dass das die geringste Ihrer Sorgen ist, Smoky. Die einfache Wahrheit lautet: Seien Sie für sie da. Sorgen Sie dafür, dass es ihr besser geht. Wenn ich Ihnen dabei helfen kann, werde ich es tun.«

Eine gewisse Erleichterung überkommt mich. Ich habe einen vorgezeichneten Weg und muss die Entscheidung nicht allein treffen. »Danke. Vielen Dank.«

»Was ist mit Ihnen, Smoky? Welche Auswirkungen hat es auf Ihren Gemütszustand, dass Sie das Kind bei sich aufgenommen haben?«

»Ich fühle mich schuldig. Glücklich. Schuldig, dass ich mich glücklich fühle. Glücklich, dass ich mich schuldig fühle.«

»Warum ist das so ein starker Konflikt?«, fragt er leise.

Er sagt nicht, dass der Konflikt falsch ist. Er fragt lediglich nach dem Grund.

Ich streiche mir mit der Hand durch die Haare. »Ich denke, ›warum nicht?‹ wäre die angemessenere Frage, Doc. Ich habe Angst. Ich vermisse Alexa. Ich habe Angst, Mist zu bauen. Suchen Sie sich’s aus.«

Er beugt sich vor und sieht mich intensiv an. Er hat etwas gefunden, das spüre ich, und er wird nicht locker lassen. »Gehen Sie der Sache auf den Grund, Smoky. Ich verstehe, es gibt zahlreiche Faktoren, jede Menge Gründe für Ihre Emotionen. Zerlegen Sie sie. Analysieren Sie sie, bis Sie etwas haben, womit Sie arbeiten können.«

Noch während er die Worte sagt, dämmert es mir. »Es ist, weil sie zugleich Alexa ist und es doch nicht ist«, sage ich.

So einfach ist das. Ganz einfach. Bonnie ist eine zweite Chance für mich, eine zweite Chance auf eine Alexa, eine zweite Chance auf eine Tochter. Aber sie ist nicht Alexa, und Alexa ist tot.

Nicht alle Wahrheiten sind gute Wahrheiten, zumindest oberflächlich betrachtet nicht. Manche Wahrheiten sind schmerzlich. Andere sind lediglich Startpunkte für einen langen steinigen Weg nach oben, für eine Menge qualvolle Arbeit. Diese Erkenntnis weckt in mir ein Gefühl von Leere. Wie eine Glocke, die auf einem windstillen Feld geläutet wird.

Wenn es mir gelingt, diese Wahrheit zu verarbeiten, dann werden sich die Dinge ändern, das weiß ich. Doch die Arbeit ist gewaltig und anstrengend und wird mir wehtun.

»Ja«, stoße ich hervor. Meine Stimme klingt abgehackt. Ich setze mich auf, verdränge den Schmerz. »Ich weiß Ihre Mühe zu schätzen, aber im Augenblick habe ich keine Zeit dafür, Doc.« Es klingt schroff. Zu schroff. Doch ich brauche meinen Ärger für andere Dinge. Den harten Teil von mir.

Dr. Hillstead ist nicht gekränkt. »Ich verstehe. Vergessen Sie nur nicht, sich irgendwann Zeit dafür zu nehmen.«

Ich nicke.

Er lächelt. »So, kommen wir zu meiner ursprünglichen Frage zurück. Was werden Sie jetzt tun?«

»Jetzt«, sage ich, und in diesem Moment wird meine Stimme eiskalt, genau wie mein Herz, »jetzt kehre ich zur Arbeit zurück. Und ich werde den Mann finden, der Annie ermordet hat.«

Dr. Hillstead sieht mich für eine lange, lange Zeit an. Es ist ein Blick so scharf wie ein Laser. Er schätzt mich ab, versucht zu entscheiden, ob er mit meinem Entschluss einverstanden ist. Dies wird offensichtlich, als er in seine Schreibtischschublade greift und meine Glock hervorzieht. Sie ruht noch immer in dem transparenten Beweismittelbeutel. »Ich dachte mir bereits, dass Sie so etwas sagen würden, deswegen habe ich das hier für Sie bereitgelegt.« Er neigt den Kopf. »Das ist der eigentliche Grund, aus dem Sie zu mir gekommen sind, habe ich Recht?«

»Nein«, entgegne ich lächelnd. »Teilweise, aber nicht nur.« Ich nehme die Waffe, schiebe sie in meine Handtasche, stehe auf und schüttele Dr. Hillstead die Hand. »Sie sollten auch sehen, dass es mir wieder besser geht.«

Er hält meine Hand ein wenig länger als nötig. Ich spüre den sanftmütigen Geist dieses Mannes, der mir durch die Augen entgegenkommt. »Ich werde hier sein, wenn Sie wieder mit mir reden möchten. Jederzeit.«

Zu meiner Überraschung kommen mir die Tränen. Ich habe gedacht, ich hätte das hinter mir. Vielleicht ist es gut so, dass es nicht so ist. Ich möchte niemals innerlich derart verhärten, dass mich Freundlichkeit kalt lässt, ob sie nun von Fremden kommt oder von Freunden.