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Matt fährt vorsichtig, nimmt jede Kurve langsam und kriecht über die Temposchwellen, als hätte ich mir was gebrochen. Im Krankenhaus haben sie darauf bestanden, mich gründlich zu untersuchen, obwohl ich immer wieder sagte, dass Melissa mich – bis auf den Schnitt am Hals, der nicht mal genäht werden musste – nicht angerührt hat.

Ich wurde in ein Bett neben Katie gelegt. Sie haben sie wegen Schock behandelt; ansonsten war sie unversehrt. Die Stationsschwester gab es auf, uns trennen zu wollen, und öffnete schließlich den Vorhang zwischen unseren Betten, damit wir uns sehen konnten. Wir waren gerade mal eine halbe Stunde da, als Isaac durch die Stationstüren gerannt kam. Von seiner üblichen Selbstsicherheit war nichts zu sehen.

»Kate! Geht es dir gut? Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Er setzte sich auf ihre Bettkante, ergriff ihre Hände und musterte ängstlich ihr Gesicht und ihren Körper. »Bist du verletzt?«

»Mir geht es gut. Es tut mir so leid wegen der Vorstellung heute Abend.«

»Mach dir deshalb keine Sorgen! Ich kann nicht fassen, was du durchgestanden hast.«

»Aber die ganzen Karten …«

»Die erstatte ich. Vergiss das Stück, Katie. Das ist nicht wichtig. Du bist wichtig!« Er küsste sie auf die Stirn, und zum ersten Mal sah er nicht so aus, als würde er etwas vorspielen. Er mag sie wirklich, dachte ich. Und sie ihn.

Als er aufsah, begegneten sich unsere Blicke, und ich wünschte, der Vorhang wäre doch noch da. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten und wusste nicht, ob meiner alles sagte, was ich sagen wollte.

»Das war eine ziemlich heftige Nummer«, murmelte er.

»Ja.«

»Ich bin froh, dass Sie es hinter sich haben.« Er stockte und betonte, was als Nächstes kommt: »Hoffentlich können Sie das alles jetzt vergessen. Das Geschehene hinter sich lassen.« Falls Katie sich fragte, warum ihr Freund so mit ihrer Mutter redete, ließ sie es sich nicht anmerken. Isaac hielt meinen Blick, als wollte er sichergehen, dass ich ihn verstand. Ich nickte.

»Das hoffe ich auch, danke.«

»Fast da«, sagt Matt. Simon, der auf der Rückbank des Taxis neben mir sitzt, legt einen Arm um mich. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter.

Im Krankenhaus habe ich ihm gesagt, dass ich dachte, er wäre derjenige, der hinter der Website steckte. Ich musste, weil mich die Schuldgefühle auffraßen.

»Es tut mir so leid«, sage ich jetzt.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, was du durchgemacht hast. Dir muss es vorgekommen sein, als könntest du keinem mehr vertrauen.«

»Das Notizbuch und diese Ringbuch-Blätter …« Mir fallen die kurzen Einträge wieder ein, die ich gesehen habe: die Namen der Frauen, ihre Kleidung. Wie überzeugt ich war, dass ich die Beweise für ein Verbrechen in Händen hielt!

»Notizen für meinen Roman«, sagt Simon. »Ich entwerfe Charaktere.«

Ich bin froh, dass er es so gelassen nimmt. Dass er kein bisschen gekränkt wirkt, weil ich ihm so etwas Entsetzliches unterstellt habe. Auf der anderen Seite von Simon sieht Katie aus dem Fenster, als wir uns Crystal Palace nähern. Justin sitzt vor mir auf dem Beifahrersitz neben Matt. Nur Isaac ist nicht hier, sondern in die Stadt gefahren, um sich der enttäuschten Theaterbesucher anzunehmen und ihnen zu versichern, dass sie das Stück morgen sehen könnten, wenn Katie unbedingt wieder auf die Bühne will.

Wie kann es sein, dass alles aussieht, als wäre nichts gewesen?

Am Straßenrand häuft sich grauer Schneematsch, der auch die Gehwege verdreckt, und es tropft von den Dächern. Ein bedauernswert mitgenommener Schneemann steht auf dem ummauerten Pausenhof der Grundschule, seine Möhrennase längst verloren. Leute gehen aus, während andere erst von der Arbeit heimkehren, beim Gehen auf ihre Telefone sehen und die Welt um sich herum ignorieren.

Wir fahren an Melissas Café vorbei, und ich kann nichts dagegen tun, dass ich nach Luft ringe und mir ein winziger Schrei entfährt. Wie oft habe ich dort nach der Arbeit noch einen Tee mit ihr getrunken oder ihr morgens bei den Vorbereitungen für den Mittagsansturm geholfen. Drinnen brennt eine Lampe, und die Tische und Stühle sind nicht aufgestapelt, sodass sie im ganzen Raum dunkle Schatten werfen.

»Willst du nicht hingehen und richtig abschließen?«, frage ich Justin. Er sieht mich an.

»Ich will da nicht reingehen, Mum.«

Das verstehe ich. Ich will es auch nicht. Allein schon in der Anerley Road zu sein beschleunigt meinen Puls, und eine frische Hasswelle brandet in mir auf, weil Melissa mir die Erinnerungen an einen Ort verdorben hat, an dem ich so gerne gelebt habe. Nie hätte ich gedacht, dass ich von hier wieder wegziehen würde, doch jetzt frage ich mich, ob wir das nicht sollten. Ein Neuanfang für Simon und mich. Natürlich auch mit Platz für Katie und Justin. Ja, ein neues Kapitel für uns alle.

Wir fahren am S-Bahnhof vorbei, und mich holt das Bild von Katie ein, die auf den Eingang zugeht und hinauf zu den Kameras sieht. Sie war verängstigt, aber entschlossen, es zu schaffen. Entschlossen, mich zu retten.

Ich sehe zu ihr und frage mich, was in ihr vorgeht, doch ihr Profil verrät nichts. Sie ist so viel stärker, als ich sie eingeschätzt hatte.

»Und was passiert jetzt?«, fragt Matt. Es war alles vorbei, bis ich ihn anrief. Als er ins Krankenhaus kam, um uns abzuholen, fand er Katie und mich in einer bizarren Kleiderauswahl vor, die Simon hastig von zu Hause gebracht hatte. Die Polizei hatte alle Sachen beschlagnahmt, die wir bei Melissa anhatten. Sie erklärten sehr einfühlsam, dass alles streng nach Vorschrift laufen müsse und ich mir keine Sorgen machen solle. Alles würde gut.

»Ich muss nächste Woche zu einer freiwilligen Vernehmung«, antworte ich. »Dann sieht sich die Staatsanwaltschaft alles an und entscheidet in wenigen Tagen.«

»Die klagen Sie nicht an«, hatte PC Swift mir versichert. So wie sie sich dabei über die Schulter umsah, vermutete ich, dass sie das eigentlich nicht hätte sagen dürfen. »Es ist vollkommen klar, dass Sie in Notwehr gehandelt haben.« Sie verstummte abrupt, als DI Rampello auf der Station erschien, doch er nickte zustimmend.

»Reine Formsache«, erklärte er.

Als wir uns dem Ende der Anerley Road nähern, sehe ich einen Polizisten in fluoreszierender Jacke an der Straße stehen. Eine Reihe von Verkehrshütchen sperrt eine Spur ab, und der Polizist winkt die Autos durch. Matt fährt so nahe an unser Haus heran, wie es geht. Er steigt aus, öffnet die hintere Tür und hilft Katie heraus. Dann legt er einen Arm um sie, als er mit ihr zum Haus geht. Justin folgt ihnen, wobei sein Blick auf das blau-weiße Absperrband der Polizei fixiert ist, das vor Melissas Haus im Wind flattert.

»Schwer zu glauben, was, Schatz?« Ich löse mich aus Simons Arm und nehme Justins Hand. Er sieht mich an. So ganz hat er noch nicht begriffen, was heute geschehen ist.

»Melissa«, beginnt er, findet jedoch keine Worte. Ich weiß, wie er sich fühlt, denn auch ich tue mich schwer damit, es in Worte zu fassen.

»Ich weiß.«

Wir warten an der Pforte, bis Simon da ist und die Tür aufschließt. Ich sehe nicht zu Melissas Haus, doch auch so kann ich mir die weiß verhüllten Gestalten in ihrer wunderschönen Küche vorstellen.

Wird Neil dort wohnen bleiben? Inzwischen müsste das Blut getrocknet sein, denke ich, und sich dunkler gefärbt haben. Die Ränder jedes Spritzers dürften zu Flocken zerfallen sein. Jemand muss das alles saubermachen, und ich male mir das Schrubben und Bleichen aus. In den Fliesen wird für immer ein Schatten von der Frau bleiben, die dort gestorben ist.

Meine Haustür schwingt auf. Drinnen ist es einladend warm. Mich beruhigen der vertraute Jackenstapel auf dem Treppengeländer und die unordentliche Schuhsammlung neben der Fußmatte. Simon tritt beiseite, und ich folge Katie und ihm hinein.

»Dann lasse ich euch mal allein«, sagt Matt. Er dreht sich zum Gehen, aber Simon hält ihn zurück.

»Möchtest du noch etwas mit uns trinken?«, fragt er. »Ich denke, wir können alle einen Drink vertragen.«

Matt zögert nur kurz. »Klar. Das wäre super.«

Ich warte in der Diele, ziehe meinen Mantel aus und vergrößere den Jacken- und Schuhhaufen. Justin, Katie und Matt gehen zum Wohnzimmer durch, und ich höre Matt fragen, wann wir den Tannenbaum aufstellen und ob die Kinder sich dieses Weihnachten etwas Bestimmtes wünschen. Simon kommt mit einer Flasche Wein und Gläsern aus der Küche. Die dünnen Glasstiele hat er sich zwischen die Finger einer Hand geklemmt, sodass die Kelche bedenklich aneinanderstoßen und klimpern.

»Kommst du rein?«, fragt er und sieht mich besorgt an. Er ist merklich unsicher, wie er mir helfen soll. Ich lächle und verspreche, gleich da zu sein.

Die Tür ist noch einen Spalt offen, und ich öffne sie etwas weiter, so dass mir die kalte Luft ins Gesicht bläst. Trotzdem zwinge ich mich, nach nebenan zu sehen, zu Melissas Vorgarten mit dem flatternden Absperrband.

Nicht um mich an das zu erinnern, was passiert ist, sondern daran, dass es vorbei ist.

Dann schließe ich die Tür und gehe zu meiner Familie.