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»Was für ein Spiel?«, frage ich. Melissa lächelt. Sie sitzt immer noch an ihrem Schreibtisch und dreht den Stuhl in unsere Richtung um, sieht aber weiter zum Monitor.
»Schon über einhundert Klicks.« Sie sieht Katie an. »Du bist sehr beliebt.«
Mein Magen verkrampft sich. »Du stellst sie nicht auf diese Website!«
»Sie ist schon drauf.« Melissa klickt wieder, und ich sehe Katies Foto auf dem Bildschirm, wie sie uns mit sorgloser Zuversicht entgegenblickt. Ein krasser Kontrast zu unserer gegenwärtigen Lage. Katie schreit auf, und ich lege meinen Arm um sie, ziehe sie so kräftig zu mir, dass ihr Stuhl über den Boden schabt.
»Also, das Spiel geht folgendermaßen.« Melissa benutzt ihre Geschäftsstimme, den Tonfall, den sie immer annimmt, wenn sie mit Lieferanten telefoniert oder Bankmanager zu einem weiteren Darlehen überredet. Ich habe noch nie gehört, dass sie so mit mir redet, und mir wird eiskalt. »Ich habe Katies Profil für begrenzte Zeit zum Gratis-Download gemacht und den Link an alle Mitglieder verschickt.«
Es kommt noch ein »Ping« aus dem Computer, und eine Benachrichtigung erscheint, dann eine zweite und noch eine.
Heruntergeladen.
Heruntergeladen.
Heruntergeladen.
»Wie ihr seht, sind die schnell dabei, was kein Wunder ist. Schließlich bezahlen sie normalerweise bis zu fünfhundert Pfund für etwas weit weniger …« Sie dehnt den Moment aus, bis sie schließlich ein Wort wählt, bei dem mir schlecht wird, »… Verlockendes.«
»Sie geht nirgends hin.«
»Ach, jetzt komm schon. Wo bleibt denn dein Abenteuergeist? Übrigens haben nicht alle meine Kunden schändliche Absichten. Manche von ihnen sind sogar richtig romantisch.«
»Sie geht nicht!«
»Dann wird es leider für euch beide böse enden.«
»Was soll das heißen?«
Sie ignoriert meine Frage. »Die Regeln sind wie folgt: Katie fährt ihre übliche Strecke, und falls sie ohne irgendwelche … sagen wir mal, Unterbrechungen … beim Restaurant ankommt, lasse ich dich gehen. Falls nicht … tja, dann habt ihr beide verloren.«
»Das ist krank«, sagt Katie.
Melissa sieht sie an und grinst hämisch. »Ach, wirklich, Katie? Es passt gar nicht zu dir, eine Gelegenheit auszulassen, im Rampenlicht zu stehen.«
»Was soll das denn heißen?«
»Das ist deine Chance, zum Star der Show zu werden. Wir alle wissen, dass du nur glücklich bist, wenn du im Mittelpunkt stehst. Dich hat nie gekümmert, dass Justin vielleicht mal eine Chance gewollt hätte oder eine deiner Freundinnen. Es drehte sich alles immer nur um dich, nicht wahr? Wie die Mutter, so die Tochter.«
Der Hass, der aus ihren Worten trieft, macht mich sprachlos. Katie weint. Sie ist genauso geschockt wie ich.
»Also«, sagt Melissa, »das ist das Spiel. Seid ihr bereit? Oder möchtet ihr lieber passen und direkt zu dem Teil übergehen, in dem ihr beide verliert?« Sie prüft die Messerschärfe an ihrem Daumennagel. Die Klinge ist zu scharf, um glatt über den roten Lack zu gleiten, den Melissa immer trägt.
»Du benutzt meine Tochter nicht als Köder für einen Haufen kranker Typen. Lieber sterbe ich.«
Melissa zuckt mit den Schultern. »Deine Entscheidung.« Sie steht auf und kommt auf mich zu, mit dem Messer in der Hand.
»Nein!«, schreit Katie, die sich an mich klammert. Tränen laufen ihr über die Wangen. »Ich mach’s, ich gehe. Sie darf dir nichts tun!«
»Katie, ich lasse das nicht zu. Du könntest verletzt werden.«
»Und wenn ich es nicht tue, werden wir beide verletzt! Verstehst du denn nicht? Sie ist wahnsinnig!«
Ich sehe zu Melissa, an der Katies Worte abzuprallen scheinen. Da ist keine Spur von Unruhe oder Wut, was ihr Verhalten umso beängstigender macht. Mir ist klar, dass sie das Messer in mich hineinrammen würde, ohne auch nur ins Schwitzen zu kommen. Es fällt mir schwer zu begreifen, dass die Frau, die ich für meine Freundin hielt – die ich so gut zu kennen glaubte –, eine vollkommen andere Person ist. Eine, die mich hasst und mich so abgrundtief dafür verachtet, Mutter zu sein, dass sie gewillt ist, mich zu verletzen – und meine Tochter zu verletzen.
Katie drückt meine Schulter. »Ich kann das, Mum. In der Bahn wird viel los sein. Da sind überall Leute. Keiner kann mir was tun.«
»Aber Katie, ihnen wurde etwas getan! Frauen wurden ermordet. Sie wurden vergewaltigt! Du darfst nicht gehen.« Noch während ich es sage, denke ich über die Alternative nach. Was passiert mit Katie, wenn sie hierbleibt? Fest steht, dass Melissa mich umbringen wird, aber ich lasse nicht zu, dass sie Katie auch ermordet.
»Die anderen Frauen wussten nicht, dass sie beobachtet wurden. Ich schon. Das ist mein Vorteil. Und ich kenne die Strecke, Mum. Ich werde es merken, wenn mir jemand folgt.«
»Nein, Katie.«
»Ich schaffe das. Und ich will es machen.« Sie weint nicht mehr, und sie hat diesen entschlossenen Ausdruck, der mir den Atem stocken lässt. Sie denkt, dass sie mich retten kann. Sie glaubt ernsthaft, dass sie dieses Spiel beherrscht – dass sie quer doch London fahren kann, ohne erwischt zu werden – und dass Melissa mich dann verschonen wird.
Sie irrt sich. Melissa wird mich nicht gehen lassen. Doch wenn ich mich selbst rette, kann ich Katie retten. Da draußen hat sie eine reelle Chance. Hier drinnen sind wir beide so gut wie tot.
»Okay«, sage ich. Es fühlt sich wie Verrat an.
Sie steht auf und sieht Melissa an. Ihr Kinn ist trotzig nach vorn geschoben, und für einen Moment erinnert sie mich an ihre Figur in dem Shakespeare-Stück, die ihre Identität unter Männerkleidung und klugen Worten verbirgt. Falls Katie Angst hat, zeigt sie es nicht.
»Was muss ich machen?«
»Du fährst zur Arbeit. Ganz einfach. Du gehst in«, Melissa sieht zum Computerbildschirm, »fünf Minuten und nimmst die übliche Strecke zum Restaurant. Dein Handy behalte ich, und du wirst nirgends anhalten oder deinen normalen Ablauf ändern. Du wirst auch nichts Dämliches machen, wie um Hilfe schreien oder versuchen, die Polizei zu kontaktieren.«
Katie gibt Melissa ihr Handy, und Melissa geht zum Computer, wo sie einige Tasten drückt. Der Bildschirm wechselt zu einem farbigen Kamerabild, das mir bekannt vorkommt; es ist der Blick aus dem Bahnhof Crystal Palace. Ich kann den Taxistand links und das Graffiti an der Wand sehen, das schon ewig dort war. Während wir zusehen, eilt eine Frau in den Bahnhof und sieht auf ihre Uhr.
»Eine falsche Bewegung«, fährt Melissa fort, »und ich werde es wissen. Ich brauche dir wohl nicht zu erklären, was dann mit deiner Mutter passiert.«
Katie nagt an ihrer Unterlippe.
»Du musst das nicht machen«, sage ich leise.
Sie wirft ihr Haar nach hinten. »Ist schon gut. Ich pass auf, dass mir nichts passiert, Mum. Oder dir.« Sie wirkt entschlossen, doch ich kenne sie zu gut und weiß, dass sie sich nicht so sicher fühlt, wie sie sich gibt. Sie spielt eine Rolle, nur ist dies hier kein Spiel – egal, was Melissa sagt. Was auch geschieht, jemand wird verletzt werden.
»Zeit zu gehen«, sagt Melissa.
Ich umarme Katie so fest, dass mir die Luft wegbleibt. »Sei vorsichtig.« Dasselbe dürfte ich an die tausend Male gesagt haben, seit ich Mutter bin, und jedes Mal ist es eine Kurzformel für viel mehr.
»Sei vorsichtig«, als sie zehn Monate alt war und über die Möbel stieg. Tu dir nicht weh, meinte ich eigentlich.
»Sei vorsichtig«, als sie Radfahren lernte. Achte auf die Autos, hätte ich sagen können.
»Sei vorsichtig«, als sie das ersten Mal einen festen Freund hatte. Lass dir nicht wehtun, meinte ich. Werde nicht schwanger.
»Sei vorsichtig«, sage ich jetzt. Halte die Augen offen. Sei schneller als die. Renn schneller.
»Bin ich. Ich hab dich lieb, Mum.«
Tu so, als sei es ein normaler Tag, ermahne ich mich, als mir die Tränen kommen. Tu so, als ginge sie bloß zur Arbeit, als käme sie später nach Hause, wo wir uns Desperate Housewives auf Netflix ansehen und Pizza essen. Tu so, als sei dies nicht das letzte Mal, dass du sie siehst. Trotzdem weine ich, genauso wie Katie, denn ihre gespielte Courage hält diesen Gefühlen nicht stand. Ich will ihr sagen, dass sie auf Justin aufpassen soll, wenn ich nicht mehr da bin. Dass sie darauf achten soll, dass Matt ihn nicht auf die schiefe Bahn geraten lässt. Aber damit würde ich aussprechen, was sie auf keinen Fall denken darf: dass ich bei ihrer Rückkehr nicht mehr hier sein werde. Falls sie zurückkehrt.
»Ich hab dich auch lieb.«
Ich präge mir jedes Detail ein: den Duft ihres Haars, den verschmierten Lipgloss in ihrem Mundwinkel. Dieses Bild halte ich in meinem Kopf fest, und was immer in der nächsten Stunde geschieht, es wird ihr Gesicht sein, das ich im Geiste sehe, wenn ich sterbe.
Mein kleines Mädchen.
»Das reicht.« Melissa öffnet die Küchentür, und Katie geht durch den schmalen Flur nach vorn. Dies ist meine Chance, denke ich. Ich überlege, Katie hinterherzustürmen, wenn die Haustür aufgeht, beide aus dem Weg zu stoßen und zu rennen. Zu fliehen, mich in Sicherheit zu bringen. Doch auch wenn das Messer an Melissas Seite hängt, umfasst sie den Griff so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten. Sie würde es sofort benutzen.
Messer!
Daran hätte ich gleich denken müssen. Im Messerblock fehlt jetzt ein Messer, aber es gibt immer noch ein Tranchier- und drei Gemüsemesser in unterschiedlichen Größen. Ich höre, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wird, und dann schlägt die Tür viel zu schnell wieder zu, und in meinem Kopf taucht ein Bild von Katie auf, die zur Bahn geht. Die sich in Gefahr begibt. Lauf weg, flehe ich sie stumm an. Geh in die andere Richtung. Such eine Telefonzelle. Ruf die Polizei.
Ich weiß, dass sie es nicht tun wird. Sie denkt, dass Melissa mich umbringt, wenn sie nicht in genau acht Minuten auf dem Bildschirm erscheint.
Ich weiß, dass sie mich auch umbringen wird, wenn Katie dort auftaucht.
Als Melissa zurückkommt, bin ich auf halbem Weg zwischen dem Tisch und der Küchenarbeitsfläche. Sie hat etwas bei sich, das sie aus dem Flur mitgebracht haben muss. Eine Rolle Klebeband.
»Wo willst du hin? Da rüber.« Sie zeigt mit der Messerspitze in die Richtung, und ich brauche keine weitere Aufforderung. Melissa rückt meinen Stuhl vor den Computer, und ich setze mich hin.
»Die Hände auf den Rücken.«
Ich gehorche und höre das unmissverständliche Reißen von Isolierband. Einen Streifen wickelt Melissa um meine Handgelenke, dann um die Holzstreben des Stuhls, sodass ich meine Arme nicht bewegen kann. Sie reißt noch zwei Streifen ab und fesselt meine Knöchel an die Stuhlbeine.
Ich beobachte die Uhr oben rechts auf dem Bildschirm.
Noch sechs Minuten.
Mich tröstet der Gedanke, dass Katies Strecke zur Arbeit sehr belebt und es noch hell ist. Unterwegs gibt es keine dunklen Gassen, in denen sie abgefangen werden könnte. Wenn sie die Augen offen hält, wird alles gut gehen. Die Frauen, die zu Opfern wurden – Tania Beckett, Laura Keen, Cathy Tanning – wussten nicht, dass sie Ziele waren. Katie weiß es, und damit ist sie im Vorteil.
»Bereit für die Show?«, fragt Melissa.
»Ich sehe nicht hin.« Aber ich kann nicht wegsehen. Auf einmal erinnere ich mich, wie ich Katie als Baby ins Krankenhaus brachte und mich zwang hinzusehen, als sie ihr eine Kanüle in die winzige Hand legten, um sie nach einem schlimmen Brechdurchfall mit Flüssigkeit zu versorgen. Ich wollte ihr so dringend all das abnehmen, aber wenn ich das schon nicht konnte, musste ich wenigstens aushalten, sie so leiden zu sehen, und es mit ihr zusammen durchstehen.
Der Schnitt vorn an meinem Hals ist schon getrocknet, sodass sich die Haut dort juckend spannt. Ich strecke den Hals ein bisschen, um das Gefühl loszuwerden, worauf mir frisches Blut auf den Schoß tropft.
Vier Minuten.
Stumm sehen wir auf den Bildschirm. Es gibt so vieles, was ich wissen möchte, aber ich will Melissas Stimme nicht hören. Lieber fantasiere ich davon, dass die Polizei in diesem Moment zur Anerley Road gerast kommt. Dass ich jeden Augenblick höre, wie die Haustür krachend aufgebrochen wird. Ich steigere mich so sehr in diese Fantasie herein, dass ich angestrengt nach Polizeisirenen lausche. Doch natürlich sind keine zu hören.
Zwei Minuten.
Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis Katie auf dem Bild der Kamera erscheint. Sie bleibt nicht stehen, sieht aber hinauf zur Linse, als sie näher kommt, blickt uns direkt an, bis sie vorbei und außer Sicht ist. Ich sehe dich, sage ich stumm. Ich bin bei dir. Es ist unmöglich, die Tränen aufzuhalten.
»Wir können ihr leider nicht durch die Ticketsperre folgen.« Melissa spricht in einer Art Plauderton, als würden wir an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Es ist gruselig, schlimmer als wenn sie mich anschreien oder mir drohen würde. »Aber wir kriegen sie wieder, wenn sie auf dem Bahnsteig ist.«
Sie bewegt ihre Maus über den Bildschirm, und ich erhasche einen Blick auf eine Liste, die vermutlich die einzelnen Kameras aufführt: Aldgate East – Eingang; Angel – Eingang; Angel – Bahnsteig Richtung Süden; Angel – Bahnsteig Richtung Norden; Bakerloo – Ticketsperre … Die Liste ist schier endlos.
»Ziemlich viele von den frühen Profilen sind nicht im richtigen Bereich für die Kameras, auf die ich zugreifen kann«, erklärt Melissa, »aber von Katies Strecke können wir fast alles bekommen. Guck mal, da ist sie.«
Katie steht auf dem Bahnsteig, die Hände in den Taschen vergraben. Sie blickt sich um, und ich hoffe, dass sie nach Kameras sucht oder nachschaut, ob einer der anderen Fahrgäste eine Bedrohung sein könnte. Ich sehe einen Mann in Anzug und Mantel auf sie zugehen. Katie tritt ein wenig zurück, und ich bohre die Fingernägel in meine Handflächen, bis er ohne zu zögern an ihr vorbeigeht. Mein Herz rast.
»Eine echte kleine Schauspielerin, nicht?«
Ich ignoriere sie. Die S-Bahn kommt, Katie steigt ein, und die Türen schließen sich zu schnell, verschlucken sie. Ich will, dass Melissa die nächste Kamera anklickt, aber sie rührt sich nicht. Sie zupft ein Fadenstück von ihrer Jacke, sieht es stirnrunzelnd an und lässt es auf den Boden fallen. Wieder fantasiere ich. Ich male mir aus, wie Simon von seinem Gespräch zurückkommt; wie er das Haus leer vorfindet – die Haustür unverschlossen – und irgendwie ahnt, dass ich nebenan bin. Wo er mich rettet. Je mehr meine Hoffnung schwindet, desto detaillierter werden die Fantasiebilder.
Keiner kommt. Ich werde hier in Melissas Haus sterben. Wird sie meine Leiche wegschaffen oder sie einfach liegenlassen, verwesend, sodass Neil sie findet, wenn er von seiner Geschäftsreise zurückkommt?
»Wo willst du hin?«, frage ich sie. Sie sieht mich an. »Wenn du mich umgebracht hast. Wohin gehst du dann?« Sie will etwas antworten – oder abstreiten, dass ich sterben werde –, bricht aber gleich wieder ab. Für einen Sekundenbruchteil blitzt so etwas wie Respekt in ihren Augen auf und verschwindet sofort wieder. Dann zuckt sie mit den Schultern.
»Costa Rica. Japan. Die Philippinen. Es gibt jede Menge Länder ohne Auslieferungsabkommen.«
Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis sie mich finden. Ob Melissa es bis dahin ins Ausland schaffen könnte. »Sie werden dich an der Passkontrolle abfangen«, sage ich mit einer Sicherheit, die ich nicht fühle.
Sie wirft mir einem spöttischen Blick zu. »Nur, wenn ich meinen eigenen Pass benutze.«
»Wie …« Mir fehlen die Worte. Ich bin in ein Paralleluniversum gestolpert, in dem Leute mit Messern fuchteln, falsche Pässe benutzen und ihre Freunde ermorden. Plötzlich wird mir etwas klar. Melissa ist klug, aber nicht so klug. »Wie hast du das alles gelernt?«
»Was alles?« Sie ist abgelenkt, denn sie tippt wieder auf die Tastatur ein. Außerdem scheint sie die Unterhaltung zu langweilen.
»Das Einhacken in die Überwachungskameras, ein falscher Pass. PC Swift sagte, dass die Anzeigen von einem Mann aufgegeben wurden und dass er einen Briefkasten auf seinen Namen gebucht hat. Die Website ist nicht nachzuverfolgen. Du hattest Hilfe. Die musst du gehabt haben.«
»Das ist ziemlich beleidigend, Zoe. Ich glaube, du unterschätzt mich.« Sie sieht mich nicht an, und ich weiß, dass sie lügt. Dies hier kann sie nicht alleine gemacht haben. Ist Neil wirklich beruflich unterwegs? Oder ist er oben und hört alles mit? Wartet er, bis er zur Verstärkung gerufen wird? Nervös blicke ich zur Decke auf. Habe ich mir das Knarren der Bodendielen eingebildet?
»Das waren fünfzehn Minuten«, sagt Melissa unvermittelt und sieht auf ihre Uhr. »Ich kann die S-Bahnen nicht sehen, aber die nächste Kamera müsste sie zeigen, wie sie bei Canada Water umsteigt.« Sie klickt die nächste Kamera an, und ich sehe noch einen Bahnsteig. Eine Schulklasse wird von drei Lehrern in grellen Neonwesten von der Bahnsteigkante zurückgescheucht. Eine Bahn kommt, und ich suche nach Katie, kann sie aber nicht finden. Mein Herz schlägt noch schneller. Ist ihr schon etwas passiert? Auf der kurzen Fahrt von Crystal Palace nach Canada Water? Aber dann entdecke ich einen weißen Daunenmantel, und da ist sie, die Hände nach wie vor in den Taschen vergraben. Sie sieht sich nach rechts und links um, schaut jeden an, an dem sie vorbeigeht. Ich atme auf.
Katie geht aus dem Bild, und obwohl Melissa zwei andere Kameras aufruft, sehen wir sie erst wieder, als sie auf dem Bahnsteig der Jubilee Line wartet. Sie steht nahe an der Bahnsteigkante, und ich möchte ihr sagen, dass sie zurücktreten soll, dass jemand sie vor den Zug stoßen könnte. Sie so zu beobachten ist, als würde man einen Film sehen und bereits wissen, dass der Hauptfigur etwas Furchtbares passieren wird. Man möchte sie anschreien, nicht so blöd zu sein.
Geh nicht raus, nimm das Geräusch ernst, das du gehört hast … hast du das Drehbuch nicht gelesen? Weißt du nicht, was als Nächstes passiert?
Ich sage mir, dass Katie das Skript sehr wohl gelesen hat. Sie weiß, in welcher Gefahr sie schwebt, nur nicht genau, woher sie kommt.
Da steht ein Mann links hinter Katie. Er beobachtet sie. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, weil die Kamera zu weit weg ist, aber sein Kopf ist in ihre Richtung gedreht und bewegt sich ein wenig, als er sie von oben bis unten mustert. Er geht einen Schritt näher, und ich kralle mich an der Stuhlkante fest, beuge mich vergebens vor, um mehr zu erkennen. Es sind andere Leute auf dem Bahnsteig. Warum sehen die nicht in die richtige Richtung? Sie werden es nicht mitbekommen, wenn er etwas tut. Früher fühlte ich mich in der U-Bahn so sicher. So viele Kameras, so viele Menschen um mich herum. Aber keiner sieht hin, nicht richtig. Jeder reist in seiner eigenen kleinen Blase, ohne wahrzunehmen, was mit den Mitfahrenden geschieht.
Ich hauche ihren Namen, und als hätte sie mich gehört, dreht Katie sich um. Sieht den Mann an. Er kommt näher, und sofort weicht Katie zurück. Ich kann ihre Körpersprache nicht lesen. Hat sie Angst? Sie geht ans andere Ende des Bahnsteigs. Melissa verlagert ihre Sitzposition, und ich sehe sie an. Sie blickt konzentriert auf den Bildschirm, doch ihre Haltung ist nicht angespannt, ihr Körper nicht vorgebeugt. Stattdessen lehnt sie sich zurück, die Ellbogen auf den Armlehnen ihres Stuhls, die Fingerspitzen zusammengepresst. Ein kleines Lächeln umspielt ihren Mund.
»Faszinierend«, sagt sie. »Mir gefällt es, dass die Frauen nichts von ihren Verfolgern wissen, aber dies hier macht es recht interessant. Katz und Maus in der U-Bahn. Das könnte gut als Zusatzpaket für Mitglieder funktionieren.« Ihre Gefühllosigkeit ekelt mich an.
Der Mann auf dem Bahnsteig ist Katie nicht zum anderen Ende gefolgt, doch als die Bahn kommt und ein Schwall von Touristen und Pendlern aussteigt, sehe ich, wie er sich durch das Gewühl zu ihr drängt. Er steigt nicht an derselben Stelle ein wie sie, und ich bin erleichtert, bis ich erkenne, dass er trotzdem im selben Wagen ist.
»Kriegst du die Kameras in der Bahn rein? Ich will es sehen. Ich will sehen, was in der Bahn passiert!«
»Es macht süchtig, nicht? Nein, ich habe es versucht, aber die sind zu gut gesichert. Wir haben«, sie tippt ein anderes offenes Fenster an, »sieben Minuten, bis sie in Waterloo ist.« Sie trommelt mit den Fingern auf dem Schreibtisch.
»Der Wagen ist voll. Keiner versucht irgendwas in einem vollen Wagen«, sage ich mehr zu mir selbst als zu Melissa.
Wenn Katie schreit, würde jemand eingreifen? Ich habe ihr immer beigebracht, Krach zu schlagen, wenn etwas passiert. »Sei richtig laut«, habe ich ihr gesagt. »Wenn irgendein Perverser sich an dich drängt, sag es nicht ihm, sondern allen. Schrei, ›Hören Sie sofort auf, mich anzugrapschen!‹ Lass es die ganze Bahn wissen. Vielleicht machen die anderen nichts, aber er hört sofort auf, glaub mir.«
Es sind nur vier Minuten von Waterloo zum Leicester Square. Ich weiß das, weil Melissa es mir gesagt hat – auch wenn sich jede Sekunde wie eine Stunde anfühlt. Sobald wir Katie in der Northern Line in Waterloo verlieren, ruft Melissa das nächste Bild auf. Die Kamera filmt das untere Ende der Rolltreppe hinauf zum Leicester Square.
Wir schauen schweigend hin, bis sie wieder auftaucht.
»Da ist sie.« Melissa zeigt auf Katie. Ich sehe nach dem Mann, der sich ihr auf dem Bahnsteig genähert hatte, und als ich ihn ein paar Meter hinter ihr erkenne, fühlt sich mein Brustkorb wie eingeklemmt an.
»Dieser Mann …«, sage ich, mehr nicht, denn was gibt es zu sagen?
»Er ist hartnäckig, was?«
»Weißt du, wer das ist? Woher er kommt? Wie alt er ist?« Ich weiß selbst nicht, warum irgendwas davon eine Rolle spielt.
»Das Profil ist fast hundertmal heruntergeladen worden«, sagt Melissa. »Es kann jeder von ihnen sein.«
Der Mann überholt eine Frau mit einem Buggy. Katie tritt auf die Rolltreppe.
Geh weiter, sage ich im Geiste, doch sie bleibt stehen, während der Mann auf der linken Seite die Rolltreppe hinaufsteigt, bis er unmittelbar hinter Katie steht. Er legt eine Hand an ihren Arm und beugt sich zu ihr. Sagt etwas zu ihr. Katie schüttelt den Kopf, und dann sind sie oben und außer Sicht.
»Die nächste Kamera! Ruf die nächste Kamera auf!«
Melissa reagiert absichtlich langsam, kostet meine Panik aus. Am Leicester Square sind haufenweise Leute, und als sie endlich ein anderes Kamerabild aufruft, kann ich Katie nicht gleich sehen. Aber dann entdecke ich sie, wie sie neben dem Mann aus der Bahn hergeht. Mein Herz rast. Etwas stimmt nicht. Katies Körperhaltung ist seltsam, zur einen Seite geneigt. Ihr Kopf ist gesenkt, und obwohl sie nicht aussieht, als würde sie sich gegen ihn wehren, bin ich mir sicher, dass sie nicht von ihm wegkann. Ich schaue näher hin und erkenne, dass er ihren linken Oberarm mit der rechten Hand festhält. Mit der anderen Hand umklammert er ihr Handgelenk. Es ist der Druck auf den Arm, der sie so schief gehen lässt. Er muss eine Waffe haben. Er muss sie bedrohen. Warum würde sie sonst nicht schreien? Nicht wegrennen? Nicht kämpfen?
Ich beobachte, wie Katie mit diesem Mann zur Ticketschranke geht, den Arm seltsam vor ihrem Oberkörper. Zwei Kontrolleure stehen am U-Bahn-Plan und unterhalten sich. Ich bete, dass sie etwas merken, aber sie passen überhaupt nicht auf. Wie kann dies hier am helllichten Tag geschehen? Warum sieht keiner, was ich sehe? Ich kann nicht aufhören hinzustarren.
Sicher muss der Mann sie loslassen, wenn sie an der Sperre sind. Das wird ihre Chance, von ihm wegzukommen. Ich kenne Katie, sie wird es jetzt schon planen, wird überlegen, zu welchem Ausgang sie rennt. Mein Adrenalinpegel schnellt in die Höhe. Sie wird es machen. Sie wird von ihm wegkommen.
Aber sie erreichen die Sperren gar nicht. Der Mann führt sie vorher schon nach links weg, wo ein unbesetzter Informationsschalter ist und daneben eine Tür mit der Aufschrift »Zutritt verboten«. Er blickt sich nach hinten um, als wollte er sich vergewissern, dass sie nicht beobachtet werden.
Und dann wird mir eiskalt, denn er öffnet die Tür und nimmt Katie mit nach drinnen.