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Mittags ist der Esstisch wieder frei, und das Haus sieht zumindest ansatzweise ordentlich aus. Ich sitze am Tisch und arbeite mich durch Grahams Buchungsbelege. Der Prozess, Taxiquittungen und Essensrechnungen zuzuordnen, hat etwas seltsam Entspannendes. Mein Telefon meldet eine Nachricht von PC Swift, die auf meinen Text von vorhin antwortet.

Entschuldigen Sie späte Antwort. Kurzes Update – versuche später anzurufen. Wir glauben, dass Täter Website von Café aus verwaltet hat – Espress Oh!, bei Leicester Square. Ermittlungen laufen noch. Luke Harris auf Kaution. Gebe Ihnen noch Bescheid, was SA sagt. Klingt gut, dass Sie von zu Hause arbeiten. Passen Sie auf sich auf.

Ich lese die Nachricht zweimal. Dann nehme ich die Akte mit verschiedenen Papieren vom Tisch und suche den Beleg von Espress Oh! heraus. Ich sehe die Nummer an, die auf die Rückseite gekritzelt ist, dann sehe ich auf der Vorderseite nach dem Datum. Die Druckertinte unten ist verschmiert, sodass ich es nicht erkennen kann. Wie lange liegt dieser Zettel schon hier? Es ist nicht kalt im Haus, trotzdem bibbere ich, und der Beleg flattert in meiner Hand. Ich gehe in die Küche.

»Katie?«

»Mmm?«

Sie buttert sich ein Brot auf der Arbeitsfläche, ohne einen Teller zu benutzen, schiebt mit der Hand die Krümel zusammen und schüttet sie in die Spüle. »Entschuldigung«, sagt sie, als sie mein Gesicht sieht. »Es sind bloß ein paar Krümel, Mum.«

Ich halte ihr die Quittung hin. »Warst du da schon mal?« Mir ist schwindlig, als wäre ich zu schnell aufgestanden. Ich kann meinen Puls spüren und zähle jeden Schlag, um ihn zu verlangsamen.

Katie rümpft die Nase. »Glaube ich nicht. Wo ist das?«

»Beim Leicester Square.« Wenn man mit Gefahr konfrontiert ist, soll der Körper angeblich auf eine von zwei Weisen reagieren: Kampf oder Flucht. Meiner tut weder das eine noch das andere. Er ist wie versteinert, will fliehen, kann sich aber nicht rühren.

»Ah, das kenne ich! Wenigstens glaube ich das. Ich war da noch nie, bin aber dran vorbeigekommen. Warum willst du das wissen?«

Ich möchte Katie keine Angst machen, also erzähle ich ihr sehr ruhig von PC Swifts E-Mail, als sei es nicht weiter wichtig. Das Brummen in meinen Ohren wird lauter. Es ist kein Zufall, das weiß ich.

»Es ist nur eine Quittung. Die muss nicht von dem sein, der hinter der Website steckt. Oder?« Sie sieht mich fragend an, versucht meinen Gesichtsausdruck zu deuten – wie besorgt ich bin.

Doch.

»Nein, natürlich nicht.«

»Die kann von jedem sein, aus einer Jackentasche, einer alten Plastiktüte, irgendwas.« Wir beide tun, als wäre es harmlos. Wie eine verwaiste Socke. Oder eine verirrte Katze. Irgendwas, nur kein Beleg, der einen Irren mit unserem Haus in Verbindung bringt. »Ich lasse dauernd Quittungen in Taschen.«

Ich will, dass sie recht hat, und denke an die vielen Male, die ich mir eine Tragetasche aus dem Haufen unten im Spülschrank gegriffen habe und darin die Bons von vorherigen Einkäufen fand.

Ich will, dass Katie recht hat, aber das Kribbeln in meinem Nacken sagt mir, sie hat es nicht. Dass dieser Beleg nur in unser Haus gelangen konnte, weil ihn jemand hergebracht hat.

»Trotzdem ein komischer Zufall, findest du nicht?« Ich will lächeln, was mir missglückt und zu einer Grimasse gerät.

Angst.

Da ist eine Stimme in meinem Kopf, auf die ich nicht hören will; ein ungutes Gefühl, das mir sagt, ich würde die Antwort in Händen halten.

»Lass uns das logisch angehen«, sagt Katie. »Wer war in letzter Zeit im Haus?«

»Du, ich, Justin und Simon«, antworte ich. »Logischerweise. Und Melissa und Neil. Dann noch der Stapel Papiere, den ich gestern Abend auf den Tisch gepackt habe – die Belege und Rechnungen –, die Graham Hallow gehören.«

»Könnte die Quittung von ihm sein?«

»Möglich wär’s.« Mir fallen die fielen Gazette-Ausgaben auf Grahams Schreibtisch ein, ebenso wie seine völlig plausible Erklärung dazu. »Aber er war in letzter Zeit richtig verständnisvoll, hat mir sogar freigegeben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so etwas macht.« Mir kommt ein Gedanke. Die Polizei mag keine Beweise gegen Isaac entdeckt haben, aber das heißt nicht, dass es keine gibt. »Wir haben den Tisch vorm Sonntagsessen letzten Monat freigeräumt. Da war Isaac auch hier.«

Katie ist entsetzt. »Was unterstellst du ihm?«

Ich zucke mit den Schultern, was nicht einmal mir selbst glaubwürdig vorkommt. »Ich unterstelle niemandem irgendwas. Ich habe bloß aufgezählt, welche Leute in letzter Zeit im Haus waren.«

»Du kannst unmöglich glauben, dass Isaac mit dem Ganzen etwas zu tun hat. Mum, ich kannte ihn noch nicht mal, als das losging. Und du hast selbst gesagt, dass die Anzeigen seit September erscheinen.«

»Er hat ein Foto von dir gemacht, Katie. Ohne dass du es wusstest. Findest du das nicht unheimlich?«

»Um es an ein anderes Ensemble-Mitglied zu schicken! Nicht für eine Website!« Sie schreit mich an, denn jetzt ist sie wütend.

»Woher weißt du das?«, schreie ich zurück.

Wir beide verstummen, um uns wieder in den Griff zu bekommen.

»Es könnte irgendwer sein«, sagt Katie trotzig.

»Dann sollten wir das Haus absuchen«, sage ich. Sie nickt.

»Justins Zimmer zuerst.«

»Justin? Du kannst doch nicht …« Aber ich sehe ihre Reaktion. »Na gut.«

Schon als Junge mochte Justin Computer lieber als Bücher. Früher habe ich mich gefragt, ob ich etwas falsch gemacht habe – ihn zu viel fernsehen ließ –, doch als Katie kam und sich zu einem Bücherwurm entwickelte, wurde mir klar, dass die beiden schlicht zwei sehr verschiedene Menschen sind. Wir hatten nicht mal einen Computer zu Hause, als die Kinder kleiner waren, trotzdem war IT so ziemlich das einzige Fach, zu dem Justin freiwillig in die Schule ging. Er bettelte Matt und mich an, ihm einen Computer zu kaufen. Und weil wir es uns nicht leisten konnten, sparte er sein Taschengeld und kaufte sich die Teile, die er dann zusammen mit dem Metallbaukasten und seinen Legosteinen unter dem Bett versteckte. Den ersten Computer baute er sich selbst mit Anleitungen, die er in der Bücherei ausgedruckt hatte. Mit der Zeit vergrößerte er den Speicher, kaufte eine größere Festplatte und eine bessere Grafikkarte. Mit zwölf wusste Justin mehr über Computer und das Internet als ich mit dreißig.

Ich erinnere mich, wie ich mich eines Tages nach der Schule mit ihm hinsetzte, ehe er in seinem Zimmer oben verschwand, um in das Online-Spiel abzutauchen, das er gerade spielte, und ihn davor warnte, online zu viel von sich preiszugeben. Ich sagte ihm, dass die Teenager, mit denen er so lange chattete, womöglich gar keine Teenager waren, sondern fünfzigjährige Perverse, die sabbernd an ihrer Tastatur hockten.

»Ich bin zu schlau für Pädos«, sagte er lachend. »Die können mich nie kriegen.«

Ich war beeindruckt, glaube ich, und stolz, dass mein Sohn sich viel besser mit der Computertechnik auskannte als ich.

In all jenen Jahren der Sorge, Justin könnte einem Online-Täter zum Opfer fallen, kam mir nie der Gedanke, dass er selbst einer sein könnte. Kann er nicht, denke ich sofort. Das wüsste ich.

Justins Zimmer riecht nach abgestandenem Zigarettenqualm und schmutzigen Socken. Auf dem Bett liegt ein Haufen sauberer Wäsche, die ich gestern dorthin gepackt habe, ordentlich zusammengelegt und aufgestapelt. Inzwischen ist der Stapel zur Seite gekippt, denn Justin hat ihn kurzerhand aus dem Weg gestoßen, als er sich schlafen legte, zu faul, die Sachen woanders hinzulegen oder sie gar einzusortieren. Ich öffne die Vorhänge, damit Licht hereinfällt, und finde sechs Becher, von denen drei als Ascher benutzt wurden. Ein sorgfältig gedrehter Joint liegt neben einem Feuerzeug.

»Sieh du in die Kommode«, sage ich zu Katie, die in der offenen Tür steht und sich nicht bewegt. »Jetzt! Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.« Ich setze mich aufs Bett und klappe Justins Laptop auf.

»Mum, das fühlt sich total falsch an.«

»Und eine Website zu betreiben, die Wegedaten von Frauen an Männer verkauft, die sie vergewaltigen oder umbringen wollen, nicht?«

»Das würde er nicht tun!«

»Glaube ich auch nicht. Trotzdem müssen wir sicher sein. Such schon.«

»Ich weiß nicht mal, wonach ich suchen soll«, sagt Katie, doch sie öffnet die Kleiderschranktüren und fängt an, die Regale drinnen durchzugehen.

»Mehr Quittungen von Espress Oh!«, sage ich und überlege, was sonst noch verräterisch sein könnte. »Fotos von Frauen, Informationen über ihre Arbeitswege …« Justins Laptop ist passwortgeschützt. Ich blicke auf den Bildschirm mit seinem Benutzernamen, Game8oy– 94 neben einem winzigen Avatar von Justins Hand, die sich der Kamera entgegenreckt.

»Geld?«, fragt Katie.

»Auf jeden Fall. Alles, was ungewöhnlich ist. Was könnte Justins Passwort sein?« Ich versuche es mit seinem Geburtsdatum und es erscheint: »ZUGRIFF VERWEIGERT – NOCH ZWEI VERSUCHE«.

»Geld«, sagt Katie wieder, und mir wird klar, dass es keine Frage ist. Ich blicke auf. Sie hält einen Umschlag in der Hand. Er gleich dem, den Justin mir gegeben hat, um einen Mietanteil zu bezahlen. Der Umschlag ist so prall gefüllt mit Zwanzigern und Zehnern, dass er sich nicht mehr schließen lässt. »Meinst du, das ist sein Lohn aus dem Café?«

Katie weiß nichts von Melissas Steuerschummelei, und obwohl ich bezweifle, dass es sie stören würde, habe ich nicht vor, ihr davon zu erzählen. Je mehr Leute davon wissen, desto wahrscheinlicher wird, dass die Steuerbehörde etwas erfährt, und den Ärger brauchen weder Melissa noch ich.

»Ich schätze, ja«, sage ich ausweichend. »Leg es wieder zurück.« Ich unternehme noch einen Passwortversuch und gebe diesmal ein Durcheinander aus unserer Adresse und dem Namen seines ersten Haustiers ein – ein Hamster namens Gerald, der aus dem Käfig entkam und mehrere Monate unter den Dielenbrettern unseres Badezimmers lebte.

ZUGRIFF VERWEIGERT – NOCH EIN VERSUCH.

Ich wage es nicht. »Ist sonst noch etwas im Schrank?«

»Ich kann nichts finden.« Katie geht zur Kommode, zieht alle Schubladen einzeln raus und tastet sogar die Böden von unten ab, ob dort etwas festgeklebt ist. Sie fühlt zwischen den Sachen, und ich klappe den Laptop zu und lasse ihn auf dem Bett – hoffentlich an derselben Stelle, an der er vorher war. »Was ist mit dem Laptop?«

»Da komme ich nicht rein.«

»Mum …« Katie sieht mich nicht an. »Dir ist klar, dass die Quittung auch von Simon sein könnte, oder?«

Ich antworte prompt. »Simon ist es nicht.«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Doch.« Noch nie war ich mir irgendeiner Sache sicherer. »Simon liebt mich. Er würde mir nie wehtun.«

Katie knallt eine Schublade zu, sodass ich zusammenzucke. »Du zeigst mit dem Finger auf Isaac, willst aber nicht mal darüber nachdenken, dass Simon etwas damit zu tun haben könnte?«

»Du kennst Isaac seit ungefähr fünf Minuten.«

»Wenn wir Justins Sachen durchwühlen und Isaac beschuldigen, müssen wir auch Simon überprüfen. Das ist nur fair, Mum. Wir müssen sein Zimmer durchsuchen.«

»Das mache ich nicht, Katie! Wie kann ich dann jemals wieder erwarten, dass er mir vertraut?«

»Echt jetzt, ich behaupte ja gar nicht, dass er was damit zu tun hat oder diese Quittung von ihm ist. Aber sie könnte es sein.« Ich schüttle den Kopf, und sie wirft die Hände in die Höhe. »Mum, es könnte sein! Zieh es doch wenigstens mal in Erwägung.«

»Wir warten, bis er zu Hause ist, und dann gehen wir alle zusammen nach oben.«

Katie ist hartnäckig. »Nein, Mum. Jetzt.«

Die Treppe ins Dachgeschoss ist schmal, und die Tür im ersten Stock sieht aus, als befände sich dahinter nur ein Wandschrank – bestenfalls ein Bad oder ein halbes Zimmer. Bevor Simon einzog, benutzte ich den Dachboden als eine Art Zuflucht. Er war nicht richtig möbliert, aber ich hatte dort oben Kissen, und manchmal schloss ich die Tür und legte mich für eine halbe Stunde hin, um neue Kraft für das aufreibende Leben als Alleinerziehende zu schöpfen. Ich habe es da oben geliebt. Jetzt hingegen fühlt es sich gefährlich an, als würde mich jede Stufe nach oben weiter wegbringen von dem offenen, sicheren Rest des Hauses.

»Was ist, wenn Simon zurückkommt?«, frage ich. Simon und ich haben nichts voreinander zu verbergen, aber wir sind beide erwachsen. Wir waren uns immer einig, dass jeder seinen Freiraum braucht. Sein eigenes Leben. Vermutlich wäre er total schockiert, wenn er Katie und mich jetzt sehen könnte, wie wir in seinem Arbeitszimmer herumschnüffeln.

»Wir machen nichts Falsches. Er weiß nicht, dass wir die Quittung gefunden haben, und wir müssen cool bleiben.«

Ich fühle mich alles andere als cool.

»Wir holen die Weihnachtsdekoration nach unten«, sage ich unvermittelt.

»Was?«

»Falls er nach Hause kommt und fragt, was wir hier machen. Wir sind hier, um die Weihnachtsdekoration zu holen.«

»Klar, okay.« Katie interessiert es nicht, aber mir geht es besser damit, einen Vorwand parat zu haben.

Die Tür unten an der Treppe fällt mit einem Knall zu, und ich schrecke zusammen. Es ist die einzige Tür im Haus, die so laut ist, weil sie gemäß den Feuerschutzbestimmungen einen Schließmechanismus hat. Simon wollte ihn abbauen, weil er meinte, er hätte die Tür lieber offen, sodass er das Leben unten hören kann. Ich bestand darauf, dass der Mechanismus blieb, weil ich mich vor Feuer fürchte – eigentlich vor allem, was meine Familie bedrohen könnte.

Kann es sein, dass die wahre Bedrohung die ganze Zeit vor unserer Nase war?

In unserem Haus lebte?

Mir wird schlecht, doch ich strenge mich an, nicht zu würgen, einen Bruchteil der Stärke aufzubringen, die meine neunzehnjährige Tochter beweist. Katie steht mitten im Raum und blickt sich langsam, aber gründlich um. An den Wänden ist nichts, denn die neigen sich so steil nach oben, dass nur in der Mitte ein schmaler Bereich bleibt, in dem man aufrecht stehen kann. Durch das eine Velux-Fenster fällt fahles Wintersonnenlicht herein, das den Raum kaum erhellt. Ich schalte die Lampe an.

»Da.« Katie zeigt auf den Aktenschrank, auf dem Simons Samsung-Tablet steht. Sie gibt es mir, mit entschlossener, fast finsterer Miene. Wüsste ich doch nur, was sie denkt!

»Katie«, sage ich, »glaubst du wirklich, dass Simon fähig wäre …« Ich beende den Satz nicht.

»Weiß ich nicht, Mum. Sieh dir den Suchverlauf an.«

Ich klappe die Hülle auf, gebe Simons Passwort ein und klicke den Browser an. »Wie kriege ich raus, was er sich angesehen hat?«

Katie sieht mir über die Schulter. »Klick das an.« Sie zeigt hin. »Da sollte eine Liste der Websites erscheinen, auf denen er war, und alles, wonach er gesucht hat.«

Ich atme erleichtert auf. Da ist nichts Offensichtliches. Neue Websites und ein paar Reiseanbieter. Ein Valentinstag-Kurzurlaub. Ich frage mich, wie Simon darüber nachdenken kann, einen Urlaub zu buchen, wenn er so hoch verschuldet ist. Willkürliches Herumblättern, vermute ich und denke an die Abende, die ich damit verbringe, mir auf Immobilienseiten Häuser für eine Million Pfund anzusehen, von denen ich höchstens träumen kann.

Katie sieht in den Aktenschrank und holt ein Blatt Papier hervor. »Mum«, sagt sie langsam, »er hat gelogen.«

Wieder wird mir schlecht.

»Sehr geehrter Mr. Thornton«, liest sie vor, »bezugnehmend auf Ihr jüngstes Gespräch mit der Personalabteilung, möchten wir hiermit Ihre Kündigung im Rahmen eines größeren Stellenabbaus bestätigen.« Sie sieht mich an. »Der Brief ist vom 1. August.«

Ich bin unglaublich erleichtert.

»Ja, das weiß ich schon. Tut mir leid, dass ich es euch nicht erzählt habe. Ich fand es selbst erst vor ein paar Wochen heraus.«

»Du wusstest das? Hat er deshalb angefangen, von zu Hause aus zu arbeiten?« Ich nicke. »Und vorher? Ich meine, seit August? Er hatte seinen Anzug an, ist jeden Tag losgegangen …«

Meine Loyalität gegenüber Simon erlaubt nicht, dass ich zugebe, er hätte die meiste Zeit nur vorgespielt, er ginge zur Arbeit. Das muss ich auch gar nicht. Ich sehe Katie an, dass sie von selbst darauf gekommen ist.

»Aber du weißt es nicht sicher, oder?«, fragt sie. »Du weißt nicht, was er macht – nicht, was er wirklich macht. Du weißt bloß, was er dir erzählt. Er könnte genauso gut seine Zeit damit verbracht haben, Frauen in die U-Bahn zu folgen, sie zu fotografieren, ihre Zeiten im Internet zu posten.«

»Ich vertraue Simon.« Wie hohl das selbst in meinen Ohren klingt!

Sie sucht weiter, wirft Akten auf den Boden. Die oberste Schublade des Aktenschranks ist voll mit Simons Papieren, Arbeitsverträge, Lebensversicherung … Ich weiß nicht genau, was da drin ist. In der mittleren Schublade bewahre ich alle Papiere für das Haus auf: Gebäude- und Hausratversicherung, Auszüge für mein Hypothekenkonto, Genehmigung für den Dachausbau. In einem anderen Ordner sind die Geburtsurkunden der Kinder und meine Scheidungsurkunde, sowie alle unsere Reisepässe. Ein dritter Ordner enthält alte Kontoauszüge, die ich nur aufbewahre, weil ich nicht weiß, was ich sonst mit ihnen anfangen soll.

»Sieh im Schreibtisch nach«, sagt Katie im gleichen Ton, in dem ich ihr befohlen habe, Justins Zimmer zu durchsuchen. Genervt davon, wie lange es dauert, jedes Dokument einzeln anzusehen, zieht sie die ganzen Schubladen heraus und kippt den Inhalt auf den Boden, wo sie mit einer Hand darüberstreicht, bis alles verteilt vor ihr liegt. »Da ist etwas, das weiß ich.«

Meine Tochter ist stark. Und besitzt eine Menge Kampfgeist.

»Das hat sie von dir«, sagte Matt früher immer, wenn Katie trotzig den vollen Löffel verweigerte, den ich vor ihr schwenkte, oder darauf bestand, zum Einkaufen mitzugehen, obwohl ihre kleinen Beine noch gar nicht kräftig genug waren. Diese Erinnerung tut weh, und ich verdränge sie umgehend. Ich bin hier die Erwachsene. Die Starke. Simon lebt bei uns, weil ich mich von seiner Aufmerksamkeit und seiner Großzügigkeit hinreißen ließ. Also muss ich jetzt auch die Verantwortung übernehmen.

Ich brauche Klarheit, und zwar sofort.

Entschlossen ziehe ich die oberste Schreibtischschublade heraus und werfe den Inhalt auf den Boden, wobei ich alles durchschüttle, falls irgendwas Interessantes zwischen den Seiten der ansonsten langweiligen Dokumente verborgen ist. Dabei sehe ich Katie an, und sie nickt zustimmend.

»Diese Schublade ist abgeschlossen.« Ich rüttle an dem Griff. »Ich weiß nicht, wo der Schlüssel ist.«

»Kannst du die aufbrechen?«

»Versuch ich ja gerade.« Ich stemme eine Hand gegen die Schreibtischkante und reiße mit der anderen kräftig an dem Griff. Es tut sich nichts. Ich suche auf dem chaotischen Schreibtisch nach dem Schlüssel und kippe den Stiftebecher aus, doch darin finde ich nur eine Sammlung von Büroklammern und Anspitzerkrümeln. Mir fällt wieder ein, wie Katie Justins Kommode abgesucht hat. Ich streiche mit der Hand über die Unterseite der Schreibtischplatte und sehe alle offenen Schubladen von unten an.

Nichts.

»Wir müssen das Schloss aufbrechen«, sage ich bestimmt, auch wenn ich keineswegs sicher bin. Ich habe ja noch nie ein Schloss geknackt. Entschlossen hebe ich eine spitze Schere aus dem ausgekippten Inhalt der anderen Schubladen auf und ramme sie ins Schloss. Unbeholfen bewege ich sie hin und her, heble kräftig von einer Seite zur anderen und von oben nach unten. Gleichzeitig ziehe ich am Griff. Es ist ein kurzes Knirschen zu hören, und zu meinem Erstaunen geht die Schublade tatsächlich auf. Ich lasse die Schere fallen.

Wie sehr wünschte ich mir, dass die Schublade leer ist. Dass sich nichts darin befindet außer einer staubigen Büroklammer und einem zerbrochenen Bleistift. Denn das wäre für Katie – und mich – ein weiterer Beweis, dass Simon nichts mit der Website zu tun hat.

Sie ist nicht leer.

Ein Stapel mit Blättern, die aus einem Spiralblock gerissen wurden, befindet sich darin. Grace Southeard ist das oberste Blatt überschrieben; darunter folgen Stichpunkte

36
Verheiratet?
London Bridge

Ich nehme den Zettelstapel heraus und sehe das zweite Blatt an.

Alex Grant
52
Graues Haar, Bob. Schlank. Sieht in Jeans gut aus.

Mir wird übel. Ich erinnere mich, wie Simon mich beruhigte, als wir den Abend zum Essen ausgingen und ich mir solche Sorgen wegen der Anzeigen machte.

Identitätsdiebstahl, mehr ist es nicht.

»Was hast du gefunden, Mum?« Katie kommt zu mir. Ich drehe die Papiere um, doch es ist zu spät. Sie hat sie schon gesehen. »Oh mein Gott …«

Da ist noch etwas anderes in der Schublade. Es ist das Moleskine-Notizbuch, das ich Simon zu unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt habe. Ich nehme es heraus und fühle das weiche Leder unter meinen Fingern.

Die ersten Seiten ergeben wenig Sinn. Halbsätze, unterstrichene Wörter, Pfeile, die von einem eingerahmten Namen zu einem anderen führen. Ich blättere weiter, und das Buch klappt auf einer Seite mit einem Diagramm auf. In der Mitte steht »wie?«, umrahmt von einer gezeichneten Wolke. Drum herum sind mehr Wörter, jedes in seiner eigenen Wolke.

erstechen
Vergewaltigung
erwürgen

Das Buch fällt mir aus der Hand und landet mit einem dumpfen Knall in der offenen Schublade. Ich höre Katies erstickten Schrei und drehe mich zu ihr, um sie zu beruhigen, doch ehe ich etwas sagen kann, ertönt ein Geräusch, das ich sofort erkenne. Wie versteinert sehe ich Katie an, deren Gesichtsausdruck mir verrät, dass sie es ebenfalls erkannt hat.

Es ist das Knallen der Tür unten an der Treppe.