50
Der Streifenwagen raste mit Blaulicht und Sirene die Marylebone Street entlang und vermied nur knapp einen Zusammenstoß mit einem Touristen-Bus, als sie an Madame Tussauds vorbeikamen. Kelly hörte den beiden Officers vorn zu, die über den Lärm des Martinshorns hinweg irgendein Spiel im Old Trafford diskutierten.
»Wie Rooney den verschießen konnte, ist mir ein Rätsel. Würde ich jemandem dreihundert Riesen die Woche bezahlen, würde ich verdammt nochmal dafür sorgen, dass der auch gerade schießen kann.«
»Unter Druck bringt er es nicht, das ist das Problem.«
Die Ampel am Euston Square sprang auf Rot. Der Fahrer drückte zusätzlich zum Lärm der Sirene auf die Hupe, und die Wagen vorn wichen zu den Seiten aus, um sie durchzulassen. Sie bogen nach Bloomsbury ab, und Kelly drehte ihr Funkgerät auf und wartete auf das Update, das sie alle so dringend wollten. Es kam, als sie sich dem West End näherten. Kelly schloss die Augen und ließ für einen Moment den Kopf an die Sitzlehne sinken.
Es war vorbei. Zumindest für Katie Walker.
Kelly beugte sich zwischen die beiden Vordersitze vor. »Sie können jetzt wieder langsamer fahren.«
Der Fahrer hatte es schon gehört, schaltete die Sirene ab und drosselte auf ein normales Tempo, da sie jetzt nicht mehr in Eile waren. Es galt nicht mehr, jemanden zu retten.
Am Leicester Square setzten die beiden Officers Kelly vor dem Hippodrome ab, und sie lief zur U-Bahn-Station, wo sie ihren Ausweis einer gelangweilt dreinblickenden Frau vor den Ticketsperren zeigte. Kelly war durch einen anderen Eingang gekommen als beabsichtigt und sah sich ein wenig orientierungslos um.
Da.
Die Tür zum Wartungsraum war unten abgestoßen, wo Leute sie mit den Füßen aufgeschoben hatten, und mit einem Plakat beklebt, das Fahrgäste anhielt, verdächtige Gepäckstücke zu melden. Ein Schild sagte der Öffentlichkeit, dass sie hier keinen Zutritt hatte.
Kelly klopfte zweimal und ging hinein. Zwar wusste sie, was sie drinnen erwartete, dennoch bekam sie Herzklopfen.
Der Raum war dunkel und fensterlos. Auf einer Seite befand sich ein Schreibtisch mit einem Metallstuhl, auf der anderen waren Schilder aufgestapelt. Ein gelber Rolleimer mit schmierig grauem Wasser stand in der Ecke. Neben ihm hockte eine junge Frau auf einer Plastikkiste und hielt einen Becher Tee in den Händen. Auch ohne den selbstbewussten Schmollmund von dem Foto auf der Website war Katie sofort zu erkennen. Ihr gesträhntes Haar fiel ihr lang über die Schultern; und der weiße Daunenmantel ließ sie fülliger wirken, als sie war.
Weiß.
18 Jahre alt. Langes blondes Haar, blaue Augen.
Jeans, Halbstiefel, schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt, weite, in der Mitte gegürtete graue Strickjacke. Weißer, knielanger Steppmantel, auch mit Gürtel. Schwarze Handtasche mit vergoldetem Träger.
Konfektionsgröße 34–36.
Hinter Katie lehnte ein breitschultriger, dunkelhaariger Mann an der Wand. Er trat vor und streckte Kelly seine Hand hin.
»John Chandler, verdeckter Ermittler der British Transport Police.«
»Kelly Swift.« Sie hockte sich hin. »Hi, Katie, ich bin Kelly, einer der Detectives, die diesen Fall bearbeiten. Ist alles okay mit Ihnen?«
»Ich denke schon. Ich mache mir Sorgen um Mum.«
»Es sind schon Beamte unterwegs zu ihr.« Kelly drückte sanft Katies Arm. »Sie haben das richtig gut gemacht.« DC Chandlers Funknachricht, dass Katie in Sicherheit war, war schnell die Bestätigung dessen gefolgt, was Kelly vermutet hatte: Zoe wurde von Melissa West festgehalten, Besitzerin mehrerer Cafés in London, einschließlich des Espress Oh!
»Es war schrecklich.« Katie sah zu John auf. »Ich wusste nicht, ob ich Ihnen glauben sollte oder nicht. Als Sie mir ins Ohr flüsterten, wollte ich weglaufen. Ich dachte: ›Was ist, wenn er gar kein Undercover-Polizist ist? Was, wenn das nur eine Lügengeschichte ist?‹ Aber ich wusste, dass ich Ihnen vertrauen musste. Ich hatte Angst, dass Melissa erkennt, was los ist, und Mum etwas tut.«
»Sie haben das großartig gemacht«, sagte John. »Eine oscar-reife Vorstellung.«
Katie versuchte zu lächeln, aber Kelly sah, dass sie immer noch zitterte.
»Viel schauspielen musste ich ja nicht. Obwohl Sie mir gesagt hatten, was kommen würde, war ich in dem Moment, in dem Sie mich hier reingezerrt haben, sicher, dass Sie lügen. Ich dachte, das war’s. Game over.«
»Tut mir leid, dass wir Ihnen das zumuten mussten«, sagte Kelly. »Wir wussten, dass unsere Videoüberwachung gehackt wurde, aber wir konnten nicht einschätzen, in welchem Ausmaß, also hatten wir keine Ahnung, wie viel zu sehen war. Als wir Ihr Profil auf der Website sahen, war uns klar, dass wir Sie aus der U-Bahn und weg von jedem schaffen mussten, der Ihnen etwas tun wollte, ohne Melissa wissen zu lassen, dass wir ihr auf der Spur sind.«
»Wie lange müssen wir hier noch warten? Ich möchte zu Mum.«
»Tut mir leid, wir brauchten die Bestätigung aus dem Kontrollraum, dass sie die Übertragung ausgeschaltet haben.«
Craig hatte schnell auf Kellys Sorge reagiert, dass Melissa sehen könnte, wie Katie und DC Chandler den Wartungsraum gemeinsam verließen. Er hatte den Live-Feed gegen eine Aufnahme vom Vortag um die gleiche Zeit ausgetauscht, als der Betrieb am Leicester Square ungefähr gleich stark gewesen war und das Risiko entsprechend gering, dass Melissa etwas merkte. Kelly hoffte, dass er recht behielt. »Jetzt ist alles gut. Wir können hier rausgehen, ohne dass sie uns sieht.«
Als sie die Tür öffnete, knisterte Kellys Funkgerät.
»Wir brauchen einen Krankenwagen in der Anerley Road«, kam eine blecherne Stimme. »Dringend!«
Katie riss die Augen weit auf.
»Sagen Sie Bescheid, dass sie ohne Sirene kommen und warten sollen, wenn sie an der Adresse sind.«
»Reine Vorsichtsmaßnahme«, sagte Kelly schnell, als der jungen Frau die Tränen kamen. Sie drehte ihr Funkgerät leiser, bis fast nichts mehr zu hören war. »Ihrer Mum geht es gut.«
»Woher wissen Sie das?«
Kelly öffnete den Mund, um noch mehr Plattitüden von sich zu geben, schloss ihn jedoch gleich wieder. Tatsächlich wusste sie nicht mal, ob Zoe Walker noch lebte.