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»Katie!«, schreie ich so laut, dass meine Stimme bricht, und mein Mund ist plötzlich wie ausgetrocknet. Ich reiße an dem Klebeband und fühle, wie es an den Härchen auf meinen Unterarmen zieht. In mir regt sich eine Kraft, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie besitze, und ich spüre, wie das Band ein kleines bisschen nachgibt. Melissa lächelt.
»Ich gewinne.« Sie dreht sich zu mir, verschränkt die Arme vor der Brust und betrachtet mich nachdenklich. »Aber das war ja von Anfang an klar.«
»Du Schwein. Wie konntest du das tun?«
»Ich habe überhaupt nichts getan. Das warst du. Du hast sie losgeschickt, obwohl du wusstest, welche Gefahr da draußen lauert. Wie konntest du das deinem eigen Fleisch und Blut antun?«
»Du …« Ich breche ab. Melissa hat mich nicht gezwungen. Sie hat recht: Ich habe Katie gehenlassen. Es ist meine Schuld.
Ich kann sie nicht ansehen. Der Schmerz in meiner Brust macht das Atmen schwierig. Katie. Meine Katie. Wer war dieser Mann? Was macht er mit ihr?
Ich versuche, ruhig und vernünftig zu klingen. »Du hättest Kinder haben können. Ihr hättet adoptieren können, eine künstliche Befruchtung probieren.« Ich sehe wieder zum Bildschirm, aber die Tür zu dem, was vermutlich eine Art Kammer oder Technikraum ist, bleibt geschlossen. Warum hat keiner etwas bemerkt? Überall sind Leute. Ich sehe U-Bahn-Arbeiter in Neonwesten, und ich möchte so dringend, dass meine Tochter die Tür aufmacht, dass sie schreit, irgendwas tut – um das zu stoppen, was in diesem Moment mit meinem kleinen Mädchen geschieht.
»Neil weigerte sich.« Melissa starrt auf den Bildschirm, sodass ich ihre Augen nicht sehe. Ich kann nicht sehen, ob sich in ihnen irgendein Gefühl spiegelt oder sie genauso tot sind wie ihre Stimme. »Er sagte, dass er ein eigenes Kind will, nicht das von einem anderen.« Sie stößt ein verbittertes Lachen aus. »Schon witzig, bedenkt man, wie viel wir uns um deine gekümmert haben.«
Auf dem Bildschirm geht das Leben weiter wie immer; Leute geraten sich gegenseitig in den Weg, suchen nach ihren Oyster-Karten, eilen zu ihren Bahnen. Doch für mich ist die Welt stehengeblieben.
»Du verlierst«, sagt sie, als würden wir Karten spielen. »Zeit zu bezahlen.« Sie nimmt das Messer auf und gleitet mit einem Finger über die Klinge.
Ich hätte Katie nie gehenlassen dürfen, egal was sie sagte. Ich dachte, dass ich ihr eine Chance gebe, doch ich habe sie in die Gefahr geschickt. Melissa hätte versucht, uns beide zu töten, aber wäre es ihr gelungen, wenn wir gemeinsam gegen sie gekämpft hätten?
Und jetzt bringt sie mich sowieso um. Innerlich fühle ich mich bereits tot, und ein Teil von mir wünscht sich, dass sie es beendet, dass die Dunkelheit, die seit Katies Verschwinden an meinen Blickrändern lauert, sich endgültig über mich senkt.
Mach schon, Melissa. Töte mich.
Mein Blick fällt auf den Stiftebecher auf Melissas Schreibtisch – den Katie für sie im Werkunterricht gemacht hat – und Zorn überkommt mich. Katie und Justin haben Melissa angebetet. Für die beiden war sie eine Ersatzmutter, der sie vertrauten. Wie kann sie es wagen, uns so zu verraten?
Im Geiste schüttle ich mich. Falls Katie stirbt, wer ist dann für Justin da? Ich zerre wieder an den Fesseln, drehe meine Hände in entgegengesetzte Richtungen und empfinde den Schmerz als pervers angenehm. Er lenkt mich ab. Nach wie vor sehe ich zum Bildschirm, als könnte ich telepathisch jene Tür auffliegen lassen.
Vielleicht ist Katie nicht tot. Vielleicht wurde sie vergewaltigt oder verprügelt. Was wird mit ihr, sollte ich nicht mehr da sein, wenn sie mich am meisten braucht? Ich darf nicht zulassen, dass Melissa mich umbringt.
Plötzlich fühle ich kühle Luft auf einem winzigen Stück frisch befreiter Haut.
Ich lockere das Klebeband. Ich kann mich befreien.
Hektisch überlege ich und lasse dabei den Kopf auf die Brust sinken, um Melissa glauben zu machen, dass ich aufgebe. Meine Gedanken überschlagen sich. Die Türen sind verriegelt, und die einzigen Fenster im Küchenanbau sind die riesigen Oberlichter, die zu hoch für mich sind. Wenn ich verhindern will, dass Melissa mich umbringt, kann ich das nur auf eine Art: indem ich sie zuerst töte. Die Vorstellung ist so lächerlich, dass mir schwindlig wird. Was ist denn mit mir los? Wie wurde ich zu einer Frau, die darüber nachdenkt, ob sie jemanden töten kann?
Aber ich kann Melissa töten. Und ich werde. Meine Beine sind zu stramm gefesselt, um sie zu befreien, was bedeutet, dass ich mich nicht schnell bewegen kann. Das Klebeband an meinen Handgelenken habe ich so weit gelockert, dass ich vorsichtig eine Hand herausziehen kann. Dabei muss ich aufpassen, nicht die Oberarme zu bewegen. Ich bin überzeugt, dass mir mein Plan – sofern man es so nennen kann – ins Gesicht geschrieben steht. Deshalb sehe ich zum Bildschirm. Auch wenn ich nicht mehr hoffe, Katie zu sehen, warte ich verzweifelt auf irgendeine Bewegung an der Tür.
»Das ist seltsam«, sage ich, ehe ich darüber nachdenken kann, ob ich meine Gedanken lieber für mich behalten soll.
Melissa sieht zum Monitor. »Was?«
Nun sind meine Hände beide frei, doch ich lasse sie auf meinem Rücken.
»Dieses Schild.« Ich nicke zur oberen linken Ecke des Bildschirms. »Oben an der Rolltreppe. Das war eben noch nicht da.« Es ist ein gelbes Klappschild, das vor nassem Boden warnt. Da muss etwas ausgelaufen sein. Aber wann? Nicht, solange ich hinsah.
Melissa zuckt mit den Schultern. »Dann hat jemand ein Schild aufgestellt, na und?«
»Das hat keiner aufgestellt. Es ist einfach aufgetaucht.« Ich weiß, dass das Schild nicht dort war, als Katie die Rolltreppe hinaufkam, denn dann wäre es für eine Sekunde vor ihr gewesen. Wann es aufgetaucht ist … tja, da bin ich nicht sicher, aber ich habe den Blick höchstens ein paar Sekunden vom Bildschirm abgewandt, seit Katie verschwand. Und jedes Mal, wenn jemand in einer Neonweste erschien, habe ich ihn aufmerksam beobachtet und gebetet, dass er in den Raum geht, in dem Katie ist.
Ein Anflug von Besorgnis schimmert in Melissas Augen auf. Sie beugt sich näher zum Bildschirm. Das Messer hält sie noch in der rechten Hand. Meine Hände sind nun frei, und langsam bewege ich eine von ihnen – erst zur Stuhlseite, dann Millimeter für Millimeter nach unten zu meinen Beinen. Dabei behalte ich Melissa im Blick. In dem Augenblick, in dem sie sich bewegt, setze ich mich gerade auf und lege die Hände auf meinen Rücken. Aber es ist zu spät; sie hat die Bewegung aus dem Augenwinkel mitbekommen.
Schweißperlen treten mir auf die Stirn, rinnen mir über das Gesicht und brennen in meinen Augen.
Ich weiß nicht, was Melissa dazu bringt, zur Küche zu sehen, aber es ist klar, dass sie erkennt, was ich getan habe. Ihr Blick wandert zum Messerblock, zählt die Messer. Eines fehlt.
»Du hältst dich nicht an die Regeln«, sagt sie.
»Du auch nicht.«
Ich beuge mich nach unten, packe den Messergriff und fühle einen stechenden Schmerz, als die Klinge beim Rausziehen in meinen Knöchel schneidet.
Das ist es, denke ich. Das ist die einzige Chance, die ich bekomme.