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DCI Digby hatte sich in den vier Jahren, seit Kelly ihn zuletzt gesehen hatte, nicht sehr verändert. Er war vielleicht ein bisschen grauer um die Schläfen, sah aber immer noch jung für sein Alter aus, mit diesen wachen, aufmerksamen Augen, an die sie sich so gut erinnerte. Er trug einen perfekt sitzenden Anzug mit blassgrauen Nadelstreifen, und seine Schuhe waren so blank poliert, wie es einem nur das Militär eintrichterte.

»Golf«, beantwortete er Kellys Kompliment. »Ich habe mir immer geschworen, dass ich unter keinen Umständen meinen Ruhestand auf dem Golfplatz verbringe, aber Barbara meinte, entweder das oder ein Teilzeitjob – sie will mich auf keinen Fall den ganzen Tag im Weg haben. Wie sich herausstellt, genieße ich es richtig.«

»Wie lange haben Sie noch?«

»Bis zum April nächstes Jahr. Ich hatte überlegt, länger zu machen, aber so wie wir in letzter Zeit über den Tisch gezogen werden, bin ich ehrlich gesagt froh, dass ich gehen kann.« Er nahm seine Brille ab und stützte die Ellbogen auf den Tisch zwischen ihnen. »Doch Sie haben mich sicher nicht aus heiterem Himmel angerufen, um von meinen Ruhestandsplänen zu hören. Was gibt’s?«

»Ich möchte Operation FURNISS zugeteilt werden.«

Der DCI sagte nichts, musterte sie nur. Kelly bemühte sich, mit keiner Wimper zu zucken. Diggers war ihr Mentor gewesen, als sie neu war, und hatte sie als DC in der Abteilung für Sexualdelikte aufgenommen.

Eine außergewöhnliche Kandidatin, hatte in ihrer Bewertung gestanden. Eine beharrliche und aufmerksame Ermittlerin mit einem hohen Grad an Empathie für die Opfer und eindeutigem Aufstiegspotenzial.

»Sir, ich weiß, dass ich Mist gebaut hatte«, begann sie.

»Sie haben einen Gefangenen angegriffen, Kelly. Das ist mehr als Mist bauen. Wir reden hier über sechs Monate im D-Flügel bei den Junkies und Kinderschändern.«

Etwas in ihrem Bauch verkrampfte sich.

»Ich habe mich geändert, Sir.« Sie hatte eine Therapie gemacht: Sechs Monate Aggressionsbewältigung, die sie nur noch wütender gemacht hatten. Trotzdem hatte sie mit Bravour bestanden. Es war ein Leichtes, die richtigen Antworten zu geben, wenn man wusste, wie das Spiel funktionierte. Die ehrlichen Antworten waren beim Polizeitherapeuten gar nicht gut angekommen. Er behauptete zwar, nicht zu urteilen, war allerdings sehr blass geworden, als sie seine Frage, Wie fühlte es sich an, ihn zu schlagen? mit Gut beantwortete.

Von da an behielt sie die Wahrheit für sich. Bereuen Sie, was Sie getan haben? Kein bisschen. Hätten Sie anders handeln können? Hätte ich, es wäre aber weniger befriedigend gewesen. Würden Sie es wieder tun?

Würde sie?

Sie wusste es nicht.

»Ich bin jetzt seit zwei Jahren wieder dabei, Chef«, sagte sie zu Diggers und versuchte zu lächeln. »Ich war für drei Monate bei der Dip Squad, und ich würde gerne Erfahrungen in der Mordermittlung sammeln.«

»Warum können Sie das nicht in Ihrer Behörde?«

»Ich glaube, dass ich bei der Met eine Menge lernen könnte«, antwortete Kelly. Sie hatte sich die Gründe vorher genau überlegt, entsprechend kamen sie ihr nun leicht über die Lippen. »Und ich weiß, dass Sie eines der stärksten Teams haben.«

Diggers’ Mundwinkel zuckten. Natürlich konnte sie ihm nichts vormachen, also hob sie beide Hände.

»Ich habe schon bei der Mordermittlung der British Transport Police angefragt«, gestand sie. »Die wollen mich auf keinen Fall.« Sie hatte Mühe, den Augenkontakt zu halten und ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie sich schämte und wie es sie kränkte, dass ihre eigenen Kollegen ihr nicht trauten.

»Verstehe.« Er stockte kurz. »Das ist übrigens nicht persönlich gemeint.«

Kelly nickte. Es fühlte sich allerdings persönlich an. Andere Uniformierte wurden sehr wohl ans CID oder MIT ausgeliehen, wenn zusätzliche Kräfte nötig waren. Sie nicht.

»Kein Rauch ohne Feuer, das wissen die auch, und es macht ihnen Sorge. Sie fürchten um ihre eigenen Jobs, um ihren Ruf.« Diggers machte eine Pause, als müsste er sich überlegen, ob er noch mehr sagen wollte. »Und vielleicht haben sie auch schlicht das Gefühl, sich zu Komplizen zu machen.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme, bis Kelly ihn kaum noch verstehen konnte. »Immerhin gibt es niemanden in diesem Job, der nicht mindestens schon einmal tun wollte, was Sie getan haben.«

Sekunden vergingen, ehe Diggers sich wieder zurücklehnte und lauter sprach. »Warum dieser Fall? Warum Tania Beckett?«

Hier bewegte Kelly sich auf weniger heiklem Terrain. »Der Fall hängt mit einem Diebstahl in der U-Bahn zusammen, den ich bei der Dip Squad bearbeitet habe. Ich habe schon einen Bezug zu dem Opfer, und ich möchte den Fall gerne weiter im Blick haben. Ohne meine Einmischung hätte man die Serie noch gar nicht als solche erkannt.«

»Was soll das heißen?«

Kelly zögerte. Sie wusste nicht, wie das Verhältnis zwischen dem DCI und Nick Rampello war. Letzteren mochte sie nicht sonderlich, trotzdem würde sie keinen Kollegen anschwärzen.

Diggers nahm seinen Kaffee, trank geräuschvoll einen großen Schluck und stellte den Becher wieder ab. »Kelly, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann raus damit. Wäre diese Sache hier völlig korrekt, würden Sie sich in meinem Büro mit mir unterhalten, statt mich zum ersten Mal in vier Jahren auf meinem Mobiltelefon anzurufen und ein Kaffeetrinken vorzuschlagen in diesem …«, er blickte sich in dem Café mit dem schäbigen Tresen und den abblätternden Postern an den Wänden um, »… noblen Lokal.« Sein nach oben gebogener Mundwinkel milderte die Worte ein wenig, und Kelly atmete tief durch.

»Eine Frau namens Zoe Walker hat sich bei mir gemeldet und gesagt, dass ein Foto von Cathy Tanning in den Kleinanzeigen der Gazette erschienen ist. Ihr eigenes Foto ist wenige Tage vorher dort aufgetaucht.«

»Das weiß ich. Worauf wollen Sie hinaus, Kelly?«

»Es war nicht das erste Mal, dass sie der Polizei von den beiden Fotos erzählte. Zoe Walker rief das MIT an dem Tag an, als Tania Becketts Ermordung bekannt wurde.« Kelly mied es sorgfältig, DI Rampello namentlich zu nennen. »Das Team reagierte auf die Information, indem es nach Verbindungen zur Erotikindustrie bei Tania suchte. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass Mrs. Walkers eigenes Foto ohne deren Wissen oder Erlaubnis in einer ähnlichen Anzeige benutzt wurde und sie keinerlei Verbindung zu Sex-Hotlines oder Dating-Agenturen hat. Keiner wollte einsehen, dass wir eine mögliche Serie haben. Das änderte sich erst, als ich darauf bestand, Mrs. Walkers Fall auch zu berücksichtigen.«

Diggers sagte nichts, und Kelly hoffte, dass sie keine Grenze übertreten hatte.

»Wer sah es nicht ein?«, fragte er schließlich.

»Ich weiß nicht, mit wem Zoe Walker gesprochen hat«, sagte sie und trank von ihrem Kaffee, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.

Diggers dachte einen Moment nach. »Wie lange würden Sie zu dem Team wollen?«

Kelly strengte sich an, ihre Begeisterung zu verbergen. »So lange, wie es dauert.«

»Das könnten Monate sein, Kelly. Jahre womöglich. Bleiben Sie realistisch.«

»Na gut, dann drei Monate. Ich kann wirklich zu den Ermittlungen beitragen, Chef, und wäre keine Belastung. Ich kann mich um die Beziehungen zur BTP kümmern, alles im Zusammenhang mit der U-Bahn übernehmen …«

»Wird die BTP Sie so lange abtreten?«

Kelly konnte sich Sergeant Powells Reaktion lebhaft vorstellen. »Weiß ich nicht. Ich habe noch nicht gefragt, denn vermutlich wäre eine Anfrage von einem leitenden Ermittler …«, sie brach ab und sah Diggers an.

»Ah, Sie erwarten von mir, dass ich nicht bloß Ihre Mitarbeit autorisiere, sondern auch noch Ihren Vorgesetzten überrede? Oh Mann, Kelly, Sie machen wirklich keine halben Sachen, was?«

»Ich will das wirklich unbedingt, Chef.«

Der DCI sah sie so aufmerksam an, dass sie den Blick senkte. »Werden Sie damit umgehen können?«

»Ja, ich bin sicher, dass ich es schaffe.«

»Ich habe ein exzellentes Team in der Balfour Street. Die Leute kennen sich gut, und sie sind erfahrene Detectives, die eigenständig arbeiten. Sie alle sind dem Druck einer anstrengenden Ermittlung gewachsen.«

»Ich bin eine gute Polizistin, Chef.«

»Meine Leute werden mit emotional schwierigen Fällen fertig«, fuhr er fort, und diesmal war nicht zu überhören, was er meinte.

»Es kommt nicht wieder vor. Ich gebe Ihnen mein Wort.«

Diggers trank seinen Kaffee aus. »Also schön. Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber ich werde mit ein paar Leuten telefonieren. Und falls die BTP Sie freistellt, nehme ich Sie für drei Monate.«

»Danke. Ich werde Sie nicht enttäuschen, Chef. Ich …«

»Unter zwei Bedingungen.«

»Alles.«

»Erstens: Sie arbeiten nicht allein.« Kelly öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie keinen Babysitter brauchte, aber Diggers ließ sie nicht zu Wort kommen. »Das ist nicht verhandelbar, Kelly. Ja, Sie sind eine erfahrene Polizistin und ein guter Detective, aber in meinem Team sind Sie auf Probe. Haben Sie das verstanden?« Sie nickte.

»Was ist die andere Bedingung?«

»In dem Augenblick, in dem Sie das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren – in der Sekunde – will ich Sie da raushaben. Ich habe Sie einmal gerettet, Kelly. Nochmal tue ich es nicht.«