31

»Ist das Ihr Wagen?« Kelly schob das Foto eines schwarzen Lexus über den Tisch. Gordon Tillman nickte. »Fürs Protokoll, der Verdächtige nickt.« Kelly sah Tillman an, der weit weniger selbstsicher wirkte, nachdem sein schicker Anzug gegen einen grauen Trainingsanzug ausgetauscht wurde, aber immer noch arrogant genug, um die Leute, die ihn befragen, niederstarren zu wollen. Seinem Geburtsdatum nach war er siebenundvierzig, sah aber zehn Jahre älter aus, die Haut fleckig von jahrelangen Exzessen. Drogen? Alkohol? Alkohol und Frauen. Lange Abende, an denen er mit Geld um sich warf, um junge Frauen anzulocken, die ihn sonst keines zweiten Blickes würdigen würden. Kelly bemühte sich, ihren Ekel nicht offensichtlich zu machen.

»Fuhren Sie diesen Wagen gestern gegen Viertel vor neun?«

»Das wissen Sie doch.« Tillman hatte entspannt die Arme vor der Brust verschränkt, während er Kellys Fragen beantwortete. Er hatte keinen Anwalt verlangt, und Kelly konnte noch nicht abschätzen, wie die Befragung ausgehen würde. Ein volles Geständnis? Es sah danach aus, und doch … Da war etwas in Tillmans Blick, das ihr sagte, es würde nicht ganz so einfach. Plötzlich drängte sich die Erinnerung an eine andere Befragung in den Vordergrund – ein anderer Verdächtiger, das gleiche Verbrechen. Kelly ballte die Fäuste unter dem Tisch. Das war ein einmaliges Vorkommnis gewesen. Er hatte sie provoziert, und sie war jünger gewesen, weniger erfahren. Es würde nicht wieder passieren.

Trotzdem rann ihr Schweiß über den Rücken, und sie musste sich anstrengen, bei der Sache zu bleiben. Sie waren ihr nie wieder eingefallen, jene Worte, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte. Die Worte, die sie ausflippen ließen und bewirkten, dass sie vollkommen die Beherrschung verlor.

»Schildern Sie bitte möglichst genau, was gestern zwischen halb neun und zehn Uhr geschehen ist.«

»Ich kam von einer Tagung zurück, auf der ich den Abend vorher gewesen war. Hinterher gab es noch ein Essen, und ich habe in Maidstone übernachtet, also war ich auf der Rückfahrt nach Oxfordshire. Ich wollte den Rest des Tages von zu Hause arbeiten.«

»Wo arbeiten Sie?«

Tillman sah sie an und ließ seinen Blick kurz, aber sehr auffällig zu ihrer Brust wandern, bevor er antwortete. Kelly fühlte, wie Nick sich auf seinem Stuhl vorbeugte. Er würde jetzt hoffentlich nichts sagen. Sie gönnte Tillman die Genugtuung nicht, dass sie bemerkt hatte, wohin sein Blick fiel.

»In der City. Ich bin Vermögensverwalter bei NCJ Investors.«

Kelly war nicht überrascht gewesen, als der DI ihr sagte, dass er bei der Befragung dabei sein würde. Sie hatte förmlich gebettelt, Tillman befragen zu dürfen, und Nick daran erinnert, wie hart sie an dem Fall gearbeitet hatte und wie dringend sie beim Abschluss dabei sein wollte. Mit seiner Antwort hatte er sich ewig Zeit gelassen.

»Okay, aber ich bin dabei.«

Sie hatte genickt.

»Sie sind zu unerfahren, um das alleine zu machen, und es werden sich sowieso einige im Büro auf den Schlips getreten fühlen.«

Der andere Grund schwebte unausgesprochen zwischen ihnen. Er traute ihr nicht zu, die Fassung zu wahren. Konnte sie ihm das vorhalten? Sie traute sich ja selbst nicht.

Sie war auf der Stelle suspendiert worden, und neben dem internen Disziplinarverfahren hatte ihr auch noch ein Strafverfahren gedroht.

»Was haben Sie sich denn nur dabei gedacht?«, hatte Diggers gefragt, als Kelly aus dem Untersuchungstrakt geholt wurde, mit zerrissener Bluse und einem beginnenden Bluterguss seitlich im Gesicht – dass der Verdächtige sich gewehrt hatte, war nicht zu übersehen gewesen. Sie hatte heftig gezittert, und das Adrenalin hatte sich ebenso schnell abgebaut, wie es in die Höhe geschossen war.

»Ich habe überhaupt nicht nachgedacht.« Das stimmte nicht. Sie hatte an Lexi gedacht. Es war unvermeidlich gewesen, wie sie gewusst hatte, sobald der Fall reinkam. Eine Studentin, auf dem Rückweg von einer Vorlesung von einem Fremden vergewaltigt. »Ich übernehme das«, hatte sie direkt zu ihrem DS gesagt. Sie hatte das Opfer mit dem Mitgefühl behandelt, das sie sich für ihre Schwester gewünscht hätte, und das Gefühl gehabt, etwas wiedergutzumachen.

Wenige Tage später wurde der Täter verhaftet – ein DNA-Treffer bei einem bekannten Sexualstraftäter. Einen Anwalt lehnte er ab und saß hämisch grinsend in seinem Papieranzug im Verhörraum. Kein Kommentar. Kein Kommentar. Kein Kommentar. Dann hatte er gegähnt, als würde ihn die ganze Situation anöden, und Kelly hatte gefühlt, wie Zorn in ihr brodelte, der jeden Moment überkochen könnte.

»Sie waren also auf dem Weg nach Hause«, half Nick nach, als Kelly nichts sagte. Sie ermahnte sich, auf Tillman konzentriert zu bleiben.

»Ich kam am Bahnhof vorbei, als ich merkte, dass ich vom Abend vorher wohl noch über der Schallgrenze war.« Tillmans einer Mundwinkel bog sich zu einem Grinsen nach oben. Er schien sich sicher zu sein, dass ihm sein Geständnis keine Probleme bescheren würde. Kein Wunder, dachte Kelly. Sie würde ihre Pension verwetten, dass Gordon Tillman gewohnheitsmäßig betrunken fuhr. Er war genau die Sorte arrogantes Arschloch, die behauptete, nach einigen Pints besser zu fahren. »Ich dachte, dass ich lieber anhalte und einen Kaffee trinke, und da habe ich eine Frau gefragt, wo ein Café in der Nähe ist.«

»Können Sie die Frau beschreiben?«

»Mitte dreißig, blond, zierlich.« Wieder grinste Tillman. »Sie hat mir ein Café ganz in der Nähe empfohlen, und da habe ich gefragt, ob sie mitkommen will.«

»Sie haben eine völlig Fremde auf einen Kaffee eingeladen?«, fragte Kelly und machte keinen Hehl daraus, dass sie ihm nicht glaubte.

»Sie wissen doch, wie man so sagt«, antwortete Tillman, der immer noch sehr spöttisch dreinblickte. »Ein Fremder ist bloß ein Freund, den man noch nicht kennengelernt hat. Sie hat mich schon angesehen, als ich anhielt.«

»Laden Sie oft Frauen auf einen Kaffee ein, die Sie nicht kennen?«, hakte Kelly nach.

Tillman ließ sich Zeit, musterte Kelly von oben bis unten und schüttelte kaum merklich den Kopf, bevor er antwortete: »Keine Bange, meine Liebe, ich frage nur die Hübschen.«

»Wenn Sie dann bitte fortfahren«, unterbrach Nick, »mit Ihrer Version der Ereignisse.« Tillman entging die Betonung nicht, trotzdem machte er weiter.

»Sie ist eingestiegen, und wir sind zu dem Café, aber dann machte sie mir ein Angebot, das ich unmöglich ablehnen konnte.« Bei Tillmans Grinsen wurde Kelly schlecht. »Sie sagte, dass sie so etwas noch nie im Leben gemacht hätte, aber immer schon diese Fantasie von Sex mit einem Wildfremden hatte, und was ich meinen würde. Na ja«, er lachte, »was meinte ich wohl? Sie sagte, dass sie mir ihren Namen nicht verraten würde und meinen auch nicht wissen wolle, und dann dirigierte sie mich zu einem Gewerbegebiet am Rand von Maidstone.«

»Und was ist dort passiert?«

»Wollen Sie alle Details?« Tillman beugte sich vor und sah Kelly provozierend an. »Für die Sorte Frauen, die so was gerne hören, gibt es übrigens eine Bezeichnung.«

»Für Ihre Sorte auch«, entgegnete Kelly unbeirrt. In ihrem Bauch bildete sich ein Knoten, so wütend war sie, doch sie würde die Wut unter Kontrolle halten.

Es entstand eine Pause, und Tillman lächelte spöttisch. »Sie hat mir einen geblasen, und dann habe ich sie gevögelt. Ich bot ihr an, sie zurückzufahren, aber sie sagte, dass sie dableiben will. Gehörte wohl zur Fantasie, schätze ich.« Er hielt Kellys Blick, als würde er spüren, welche Schlacht sie mit sich ausfocht und dass dies alles in ihr etwas freisetzte, was sie so lange erfolgreich unterdrückt hatte. »Sie mochte es grob, aber das tun ja eine Menge Frauen, nicht?« Wieder grinste er. »Den Geräuschen nach, die sie machte, hat sie es geliebt.«

Sie hat es geliebt.

Während der gesamten Befragung hatte der Verdächtige nie den Blick von Kelly abgewandt. Ein Kollege war bei ihr gewesen, und der Täter hatte nichts Provozierendes gesagt, keine Bewegung gemacht, die Kelly als bedrängend empfunden hatte. Es geschah, als die Bänder aus waren, und sie ihn allein zu seiner Zelle zurückführte. Da lehnte er sich zu ihr, sodass sie seinen Atem an ihrem Hals fühlte und den Gestank von Körperausdünstungen und Zigaretten roch.

»Sie hat es geliebt«, flüsterte er.

Hinterher kam es Kelly wie ein außerkörperliche Erfahrung vor, als wäre es eine andere Frau gewesen, die mit erhobener Faust herumschwang, ihm auf die Nase boxte und sein Gesicht zerkratzte. Als hätte eine andere die Kontrolle verloren. Ihr Kollege hatte sie zurückgerissen, doch es war zu spät gewesen.

Unwillkürlich schoss ihr jetzt wieder die Frage durch den Kopf, wann Lexi den Brief an die Polizei in Durham geschickt hatte und ob sie vielleicht damals schon weniger am Ausgang der Ermittlungen interessiert gewesen war als sie selbst. Ob sie vielleicht völlig grundlos ihren Job riskiert hatte.

»Das ist alles?«, fragte Kelly und verdrängte die Bilder aus ihrer Erinnerung. »Das ist Ihre Geschichte?«

»So war es.« Tillman verschränkte die Arme wieder und lehnte sich zurück, wobei die Kunststofflehne des Stuhls knarzte. »Aber lassen Sie mich raten: Sie hat ein schlechtes Gewissen gekriegt oder ihr Freund ist dahintergekommen, und jetzt heult sie rum, sie sei vergewaltigt worden. Stimmt’s?«

In den letzten Jahren hatte Kelly eine Menge gelernt. Unter anderem, dass man lieber nicht mit Wut auf Kriminelle reagierte. Sie lehnte sich gleichfalls zurück, hob beide Hände, als wollte sie sich geschlagen geben, und wartete auf das selbstzufriedene Grinsen, von dem sie sicher war, dass es kommen würde.

Und dann sagte sie: »Erzählen Sie mir von findtheone.com.«

Die Veränderung setzte sofort ein.

Panik blitzte in Tillmans Augen auf, und sein ganzer Körper verkrampfte sich.

»Was meinen Sie?«

»Wie lange sind Sie schon Mitglied?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Nun war es an Kelly zu grinsen. »Ach nein? Wenn wir also Ihr Haus durchsuchen – was wir tun werden, solange Sie in Untersuchungshaft sind – und uns Ihren Computer ansehen, finden wir keine Aufzeichnungen von Ihren Besuchen auf der Website?«

Schweißperlen traten auf Tillmans Stirn.

»Werden wir keine Auflistung der Wege des Opfers finden? Für deren Download Sie bezahlt haben?«

Tillman wischte sich mit der Hand übers Gesicht und rieb über die Trainingshose. Zurück blieb ein dunkler Schweißfleck auf seinem rechten Oberschenkel.

»Für welche Mitgliedschaft hatten Sie sich entschieden? Platin, richtig? Ein Mann wie Sie nimmt doch nur das Beste.«

»Schluss jetzt«, sagte Tillman. »Ich habe es mir anders überlegt. Ich will einen Anwalt.«

Kelly überraschte nicht, dass Gordon Tillman nach seinem Anwalt verlangte, keinem Pflichtverteidiger, und es störte sie auch nicht weiter, dass sie deshalb drei Stunden warten mussten. In der Zwischenzeit beschlagnahmte die Polizei in Oxfordshire Tillmans Laptop sowie die Unterhose, die über dem Rand des Wäschekorbs in seinem Badezimmer hing. Officers der Metropolitan Police fuhren zu Tillmans Büro, wo sie seinen Computer und den Inhalt seiner Schreibtischschubladen konfiszierten. Es war tröstlich, dass Tillmans Karriere vorbei wäre, egal ob er für schuldig befunden würde oder nicht.

»Wie lange brauchen Sie für den Laptop?«, fragte Nick Andrew. Kelly und er waren wieder im Büro, während Tillman sich mit seinem Anwalt beriet.

»Drei bis fünf Tage, wenn Sie es dringend machen. Vierundzwanzig Stunden, falls Ihr Budget es hergibt.«

»Dafür sorge ich. Ich will seine Suchverläufe der letzten sechs Monate und jeden Besuch auf der Website dokumentiert haben. Ich will wissen, welche Profile er sich angesehen, was er sich runtergeladen hat und ob er die Ortsangaben bei Google Earth recherchiert hat. Und durchsuchen Sie die Festplatte nach Pornos – er muss welche haben, und wenn irgendwas davon auch nur ansatzweise illegal ist, kriegen wir ihn dafür dran. Arrogantes Arschloch.«

»Demnach war Tillman Ihnen nicht sympathisch?«, fragte Kelly, als Andrew in sein Kabuff abgetaucht war. »Dabei war er doch so charmant.« Sie zog eine Grimasse. »Was glauben Sie, wie viel er weiß?«

»Schwer zu sagen. Genug jedenfalls, um dichtzumachen, als ihm klar wurde, dass wir von der Website wissen. Aber ich bin nicht sicher, ob er weiß, wer dahintersteckt. Wenn sein Anwalt etwas taugt, wird er ihm raten, jede Aussage zu verweigern, also hängt alles an den Forensikern. Haben wir schon den Bericht von der ärztlichen Untersuchung?«

»Vor der Befragung habe ich mit der Abteilung in Kent gesprochen, und sie haben den vollständigen Bericht gefaxt. Es gibt klare Hinweise auf Geschlechtsverkehr, aber der war ja sowieso nicht fraglich.«

Sie gab Nick das Fax, der es überflog.

»Keine Abwehrverletzungen und keine offensichtlichen Anzeichen von Gewalt?«

»Das hat nichts zu sagen.«

Lexi war nicht verletzt gewesen. Sie war wie versteinert gewesen, erzählte sie Kelly, und das hielt sie sich am meisten vor – dass sie sich nicht gewehrt hatte.

»Nein, aber es macht es verdammt schwer, Tillmans Behauptung, der Sex wäre einvernehmlich gewesen, zu widerlegen. Jetzt kommt es darauf an, dass wir eine Verbindung zwischen Gordon Tillman und dem Profil des Opfers auf der Website nachweisen. Wenn wir das können, fällt seine Geschichte von der zufälligen Begegnung in sich zusammen.«

»Und wenn wir es nicht können?«, fragte Kelly.

»Werden wir. Wo ist Lucinda?«

»In einer Besprechung.«

»Ich will, dass sie die anderen Frauen auf der Website identifiziert, die bisher noch nicht zu Opfern wurden. Wir haben ihre Namen nicht, aber wir haben ihre Fotos, und wir wissen genau, wo sie sich zwischen Arbeit und Zuhause aufhalten. Ich will, dass sie identifiziert, hergeholt und gewarnt werden.«

»Ist so gut wie erledigt.«

Nick machte eine kurze Pause. »Das war eine heftige Befragung. Sie haben das gut gemacht. Ich bin beeindruckt.«

»Danke.«

»Nehmen wir ihn uns nochmal vor. Es wird wohl nicht lange dauern.«

Mit seiner Prophezeiung lag der DI richtig. Auf Empfehlung seines Anwalts, eines hageren, unsicher wirkenden Mannes mit dünner Metallrahmenbrille, verweigerte Tillman die Antwort auf ihre Fragen.

»Ich gehe davon aus, dass Sie meinen Mandanten auf Kaution freilassen«, sagte der Anwalt, als Tillman wieder in seine Zelle gebracht worden war.

»Nein, ich fürchte, das haben wir nicht vor«, antwortete Kelly. »Es besteht ein dringender Tatverdacht, und wir müssen ausgedehnte forensische Untersuchungen vornehmen. Ihr Mandant wird es sich hier eine ganze Weile lang gemütlich machen müssen.« Nicks positives Feedback hatte ihr Selbstvertrauen gestärkt, und bei der zweiten Befragung fühlte sie sich mehr wie ihr altes Ich. Wie der DC, der sie gewesen war, bevor sie alles versaute.

Sie könnten Tillman bis zu vierundzwanzig Stunden lang festhalten, doch Nick hatte schon mit dem zuständigen Superintendent gesprochen und um eine Verlängerung gebeten. Angesichts des Zeitrahmens, den Andrew genannt hatte, würden auch die zusätzlichen zwölf Stunden, die der Superintendent genehmigen konnte, kaum reichen. Und um Tillman länger hinter Gittern zu halten, bräuchten sie einen richterlichen Beschluss.

Kelly ging die Fallunterlagen durch, während sie darauf wartete, den Sergeant im Zellentrakt auf den neuesten Stand bringen zu können. Die Aussage des Opfers war beklemmend zu lesen. Der schwarze Lexus hatte neben ihr gehalten, und der Mann nach dem Weg zur M 20 gefragt, wobei er die Beifahrertür aufstieß, weil »das Fenster nicht aufgeht«.

»Ich fand das merkwürdig«, stand in der Aussage, »denn der Wagen sah ziemlich neu aus, aber ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, misstrauisch zu sein.« Kathryn hatte sich in den Wagen gelehnt, um den Weg zu beschreiben, da ihr der Mann zunächst freundlich und harmlos vorgekommen war.

»Er entschuldigte sich, dass er mich aufhielt«, sagte sie, »und dankte mir für meine Hilfsbereitschaft.«

Kathryn hatte die Wegbeschreibung wiederholt (»Er sagte, dass er ein miserables Gedächtnis hat«), als Gordon Tillmans wahre Absichten klar wurden.

»Plötzlich schnellte sein Arm vor, und er griff nach mir. Er packte den grauen Poncho, den ich trug, irgendwo an meiner rechten Schulter, und zerrte mich in den Wagen. Es ging so schnell, dass ich, glaube ich, nicht mal schreien konnte. Er fuhr los, während meine Füße noch aus der offenen Autotür hingen, und mein Kopf war auf seinen Schoß gedrückt. Ich konnte das Lenkrad an meinem Hinterkopf fühlen, und mit der freien Hand drückte er meinen Kopf auf sein Glied.«

Irgendwann hielt der Wagen lange genug, dass Tillman über das Opfer hinweglangen und die Beifahrertür zuziehen konnte, doch er presste ihren Kopf weiter auf seinen Schritt. Der Wagen fuhr in einem niedrigen Gang, den Tillman nicht wechselte.

»Ich habe versucht, meinen Kopf wegzudrehen, aber er ließ mich nicht«, hatte sie dem Detective in Kent erzählt. »Mein Gesicht war gegen seinen Penis gepresst, und ich fühlte, wie er immer härter wurde. Da wusste ich, dass er mich vergewaltigen würde.«

Einer Notiz von dem Officer, der auf den Notruf reagiert hatte, entnahm Kelly, dass das Opfer zwei Kinder hatte, das jüngste erst achtzehn Monate alt. Sie arbeitete Vollzeit als Personalberaterin und war seit elf Jahren verheiratet.

Ich unterstütze die polizeilichen Ermittlungen, so gut ich kann, und bin bereit, vor Gericht auszusagen, sollte es nötig sein.

Natürlich tat sie das. Warum sollte sie nicht?

Warum wollte es Lexi nicht?

»Ich brauche frische Luft«, sagte sie zu Nick, der kaum von seinem Schreibtisch aufsah. Kelly verließ das Büro, lief die Treppe hinunter und raus in den abgezäunten Hof hinter dem Gebäude. Ihr wurde bewusst, dass sie die Fäuste geballt hatte. Sie zwang sich, die Finger zu lösen und tief einzuatmen.

Lexi meldete sich, als Kelly schon glaubte, sie würde zur Mailbox weitergeleitet.

»Warum hast du der Polizei in Durham gesagt, du willst nicht vor Gericht aussagen?«

Kelly hörte, wie ihre Schwester nach Luft rang.

»Warte kurz.«

Er folgte eine gedämpfte Unterhaltung, und Kelly erkannte die Stimmen von Lexis Mann und einem der Kinder. Fergus, vermutete sie. Eine Tür wurde geschlossen. Als Lexi wieder sprach, tat sie es ruhig, aber streng.

»Woher weißt du das?«

»Warum hast du denen gesagt, du würdest eine Anklage nicht unterstützen, Lexi?«

»Weil ich es nicht würde.«

»Das verstehe ich nicht. Wie kannst du der größten Sache, die dir jemals passiert ist, einfach den Rücken zukehren?«

»Weil sie nicht das Größte ist, was mir je passiert ist! Das ist mein Mann. Das sind Fergus und Alfie. Du, Mum, Dad … ihr alle seid wichtiger als das, was vor einer Ewigkeit in Durham geschehen ist.«

»Was ist mit anderen? Wie würdest du dich fühlen, wenn er eine andere vergewaltigt, weil er wegen des Angriffs auf dich nicht schuldig gesprochen wurde?«

Lexi seufzte. »Das fände ich schrecklich, ehrlich. Aber es geht um Selbstschutz. Ich wäre sonst zusammengebrochen, und was wäre dann? Was würde ich dann den Jungs nützen?«

»Ich verstehe nicht, warum du es nur schwarz oder weiß darstellst. Es könnten Jahre vergehen, bis er gefasst wird – falls überhaupt –, und dann siehst du es vielleicht ganz anders.«

»Aber begreifst du denn nicht, dass gerade das der Grund ist?« Kelly hörte, dass die Stimme ihrer Schwester kippte, und spürte selbst einen Kloß im Hals. »Wenn ich keinen Schlussstrich gezogen hätte, hätte ich nie wissen können, wann es passieren würde. Ich hätte nie gewusst, ob ich plötzlich einen Anruf bekommen würde, dass jemand verhaftet wurde oder sich jemand mit Informationen gemeldet hat. Was, wenn es am Tag vor einem Vorstellungsgespräch passiert wäre? Oder am Geburtstag von einem der Kinder? Ich bin glücklich, Kelly. Ich habe ein gutes Leben, eine Familie, die ich liebe, und was in Durham war, ist eine Million Jahre her. Ich will das nicht alles wieder aufwühlen.«

Kelly sagte nichts.

»Du musst das verstehen. Du musst doch begreifen, warum ich das gemacht habe.«

»Nein, ich verstehe es kein bisschen. Und ich verstehe auch nicht, warum du es mir nie erzählt hast.«

»Wegen der Art, wie du auch jetzt wieder reagierst, Kelly! Weil du nie zugelassen hast, dass ich damit abschließe, nicht mal, als ich es wollte. Du bist Polizistin. Du verbringst dein Leben damit, in der Vergangenheit zu graben und nach Antworten zu suchen. Aber manchmal gibt es keine. Manchmal passiert eben richtiger Mist, und mit dem muss man so gut fertig werden, wie man kann.«

»Leugnen ist nicht der beste Weg …«

»Du lebst dein Leben, Kelly. Lass mich meines leben.«

Dann war die Leitung tot, und Kelly stand in dem eiskalten Hof, halb im Schatten verborgen.