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Es ist drei Uhr in der Früh, doch das Schlafzimmer ist in gnadenloses Licht getaucht. Die beiden Fenster gegenüber vom Dach des Pool-Hauses sind gänzlich schwarze Rechtecke. Das Licht wirkt so hell, dass der gesamte Raum auf die strenge Geometrie rechter Winkel reduziert ist: das Bett, der Nachttisch, die Frisierkommode ... Nur ist es diesmal nicht das Schlafzimmer eines Opfers. Es ist ein vertrautes Zimmer. Es gehört Lash.
Nun geht er im Zimmer umher und schaltet alle Lampen aus. Das helle Licht verblasst, die Konturen des Raums werden weicher.
Langsam nimmt die nächtliche Landschaft hinter den Fenstern Form an, blau, unter dem Vollmond. Ein gepflegter Garten, ein Schwimmbecken, dessen Oberfläche schwach schimmert. Dahinter: eine hohe Ligusterhecke. Einen Augenblick lang fürchtet er, dass in der Hecke Gestalten stehen - drei Frauen, drei Männer, nun alle tot -, doch es ist nur eine Täuschung, die der Mondschein erzeugt, und er dreht sich um.
Hinter dem Bett ist die Tür zum Bad einen Spalt offen. Er schlendert auf sie zu. Im Bad steht eine Frau vor dem Spiegel und kämmt wie in Zeitlupe ihr Haar. Sie dreht ihm zwar den Rücken zu, doch die Stellung ihrer Schultern und der Schwung ihrer Hüften machen sie sofort erkennbar. Als die Bürste durch ihr Haar gleitet, ist das leise Knistern von Elektrizität zu vernehmen.
Er schaut in den Spiegel, und die Reflexion seiner Ex-Frau erwidert seinen Blick.
»Was machst du hier, Shirley?«
»Ich will nur ein paar Sachen mitnehmen. Ich verreise.«
»Du verreist?«
»Natürlich.« Sie spricht mit der Autorität der Träume. »Schau auf die Uhr. Es ist nach Mitternacht. Ein neuer Tag.«
Das Geräusch der Bürste verwandelt sich nun in etwas anderes: etwas Langsames, Rhythmisches, wie das regelmäßige Pulsieren der Störgeräusche von einem Funkgerät. »Wohin fährst du?«
»Rate mal.« Da dreht sie sich um und schaut ihn an. Nur hat sie jetzt das Gesicht von Diana Minen. »Jeder Tag ist eine Reise.«
»Jeder Tag ist eine Reise«, wiederholt er.
Sie nickt. »Unddie Reise an sich ist das Ziel.«
Als er sie anschaut, begreift er, dass etwas nicht stimmt. Diese Stimme ist nicht Dianas Stimme. Sie ist auch nicht mehr die Stimme seiner Ex-Frau. Mit einem Schreck, der ihn bis ins Mark erschüttert, begreift er, dass die Stimme Liza gehört. Liza spricht durch Dianas Mund.
»Silver!«, schreit er.
»Ja, Christopher, ich kann Sie hören.« Die Traumgestalt lächelt schwach.
Das eigenartig rhythmische Geräusch wird nun lauter. Er verbirgt sein Gesicht in den Händen. »Oh, nein. Nein.«
»Ich bin noch hier«, sagt Liza.
Aber er will nicht aufschauen, er will nicht aufschauen, er will nicht aufschauen .
»Christopher ...«
Lash öffnete die Augen. Es war dunkel. In der Schwärze der Nacht glaubte er einen Moment, er läge zu Hause in seinem Bett. Er richtete sich auf, atmete langsam und ließ die Traumfetzen vom rhythmischen Auf und Ab des Rauschens der Brandung fortspülen.
Doch dann wehte der exotische mitternächtliche Wohlgeruch von Hyazinthenblüten und Eukalyptus durch das offene Fenster herein, und ihm fiel ein, wo er war.
Er stand langsam auf und schob den dünnen Vorhang beiseite. Dahinter erstreckte sich der Dschungelbaldachin bis zum tropischen Meer hinab, eine von flüssigen Topasen umgebene dunkle Smaragddecke. Dünne Wolken trieben vor einem aufgeblähten Mond daher. Manchmal, dachte er, sind Träume trotz alledem nur Schäume.
Er ging zum Bett zurück und schlug die Laken auf. Ein paar Minuten lag er wach da, musterte die Bambusdecke und lauschte der Brandung. Seine Gedanken verweilten in der Vergangenheit, eine halbe Welt entfernt. Dann drehte er sich herum, schloss wieder die Augen und fiel in einen traumlosen Schlaf.