17

Fünf Minuten später waren sie in der Sky Lobby - einem zwei Etagen hohen Raum im dreißigsten Stock, der von einer Reihe von Aufzügen umgeben war. Ein Ende des Raumes mündete in eine Angestellten-Cafeteria. Lash sah Gruppen von Arbeitern, die an Dutzenden von Tische saßen und etwas aßen und sich unterhielten.

»Hier gibt’s zehn Cafeterias«, sagte Mauchly. »Es ist uns lieber, wenn die Mitarbeiter zum Mittag- oder Abendessen das Haus nicht verlassen - und das ausgezeichnete Gratisessen trägt dazu bei.«

»Mittag- oder Abendessen?«

»Oder auch zum Frühstück. Wir haben Techniker, die rund um die Uhr Schichtarbeit leisten, besonders in der Abteilung Datenerfassung.« Mauchly ging zu einem Aufzug, der sich am Ende der nächstgelegenen Reihe befand. Er lag abseits von den anderen und wurde von einem Mann in einem beigefarbenen Overall bewacht. Als er sie kommen sah, trat er beiseite.

»Wohin soll’s denn gehen?«, fragte Tara.

»Ins Penthouse rauf.«

Tara schnappte nach Luft, dann riss sie sich zusammen. Sie gab einen Code ein. Kurz darauf öffnete sich die Aufzugtür.

Als Lash in die Kabine trat, spürte er, dass sich etwas verändert hatte. Es lag nicht an den Wänden, denn sie wiesen die gleiche glänzende Holzmaserung auf wie die anderen auch in diesem Gebäude. Es waren auch nicht der Bodenbelag, die Beleuchtung oder die Haltestangen. Dann wurde ihm plötzlich klar, woran es lag: Diese Aufzugkabine war nicht mit einer Lochkamera ausgerüstet. Die Schalttafel zeigte nur drei unbeschriftete Knöpfe. Mauchly drückte den obersten und hielt sein Armband unter den Scanner.

Der Aufzug schien eine Ewigkeit nach oben zu fahren. Endlich öffnete sich die Tür in einem hell erleuchteten Raum.

Es war jedoch nicht das künstliche Licht, das Lash überall in Eden sah: Es war durch die Fenster strömender Sonnenschein. Drei der vier Wände bestanden aus Glas. Lash trat auf einen luxuriösen blauen Teppich und schaute sich verwundert um. Hinter dem Glas lag unter einem wolkenlosen Himmel die dichte Stadtlandschaft des Zentrums von Manhattan. Links und rechts von ihm - alles schien weit weg zu sein - erlaubten weitere Fenster einen ungehinderten Ausblick auf Long Island und New Jersey. Statt der fluoreszierenden Beleuchtungskörper der tieferen Stockwerke hingen hier wunderschöne Lampen an der Decke. Bei dieser Explosion von Tageslicht waren sie momentan völlig überflüssig.

Lash fiel ein, dass er von der Straße aus das stilisierte Gitter gesehen hatte, das die obersten Etagen absetzte. Und er erinnerte sich an Mauchlys Worte: Der Turm besteht aus drei separaten Gebäuden. Oben auf dem inneren Turm befindet sich das Penthouse. Dieser den Firmenturm krönende Horst konnte nur eines sein - die Höhle des Unternehmensgründers Richard Silver, der hier zurückgezogen lebte.

Abgesehen von der Aufzugtür war die gesamte vierte Wand von edlen Mahagoni-Bücherregalen bedeckt. Doch die Bücher waren nicht die in Leder gebundenen Wälzer, die man in einer solchen Umgebung erwartete, sondern billige, allmählich vergilbende Science-Fiction-Taschenbücher mit aufgeplatztem Rücken, zerlesene technische Zeitschriften und überdimensionale Handbücher für Computer-Betriebssysteme und Programmiersprachen.

Tara Stapleton hatte den großen Raum durchquert und schaute sich etwas an, das vor einem der Fenster stand. Als Lashs Augen sich an das Licht gewöhnten, fielen ihm Dutzende von Gegenständen auf, die - manche groß, andere klein - vor den großen Fensterscheiben aufragten. Auch er ging neugierig heran und blieb vor einem Apparat stehen, der fast so groß war wie eine Telefonzelle. Der Holzsockel trug eine verwickelte Konstruktion aus Rotoren, die horizontal an Metallholmen montiert waren. Hinter den Rotoren konnte man ein kompliziertes Konglomerat von Rädern, Kolben und Hebeln sehen.

Lash ging zum nächsten Fenster. Dort lag etwas in einem Holzregal, das wie das metallene Innenleben der Spieldose eines Riesen aussah. Daneben stand ein monströses Gerät; offenbar eine Kreuzung zwischen einer uralten Druckmaschine und einer Großvateruhr. An der Seite erspähte er eine lange Eisenkurbel, die Vorderseite war mit polierten flachen Eisenscheiben aller Formate bedeckt. Große Papierrollen standen zwischen den Beinen des Geräts auf einem Holztablett.

Mauchly schien verschwunden zu sein. Doch nun kam ihnen aus der Tiefe des Raumes ein anderer Mann entgegen. Er war groß, sah jugendlich aus, und hinter seiner quadratischen Stirn wucherte ein gigantischer Schopf roter Haare. Er lächelte, und seine wasserblauen Augen lugten mit einem freundlichen Glitzern durch ein dünnes silbernes Brillengestell. Sein Tropenhemd hing ihm über die abgewetzten Jeans.

Obwohl Lash den Mann noch nie gesehen hatte, erkannte er ihn auf der Stelle: Richard Silver, das Genie hinter Eden und dem Computer, der das alles ermöglichte.

»Sie müssen Dr. Lash sein«, sagte der Mann und streckte die Hand aus. »Ich bin Richard Silver.«

»Nennen Sie mich Christopher«, sagte Lash.

Silver drehte sich zu Tara um, die sich ihm bei seinem Erscheinen wortlos zugewandt hatte. »Sie sind Tara Stapleton? Edwin hat mir ja tolle Sachen über Sie erzählt.«

»Ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Dr. Silver«, erwiderte Tara.

Lash lauschte überrascht dem Wortwechsel der beiden. Sie ist für die Sicherheit der Technik zuständig, aber sie sind sich noch nie begegnet.

Silver drehte sich zu Lash um. »Ihr Name kommt mir bekannt vor, Christopher. Ich weiß aber nicht genau, woher ich ihn kenne.«

Lash schwieg. Kurz darauf zuckte Silver die Achseln. »Na ja, vielleicht fällt es mir ja wieder ein. Ich bin, was Ihre theoretische Orientierung angeht, jedenfalls neugierig. Angesichts Ihres früheren Jobs schätze ich mal, dass Sie zur kognitiven Schule der Verhaltensforschung zählen?«

Das zu hören hatte Lash am wenigsten erwartet. »Mehr oder weniger. Ich bin Eklektiker. Ich übernehme auch mal ganz gern was von anderen Richtungen.«

»Ach so. Zum Beispiel aus dem Behaviorismus? Aus dem Humanismus?«

»Eher das Erstere, Dr. Silver.«

»Sagen Sie doch Richard zu mir.« Silver lächelte erneut.

»Es steht Ihnen ja zu, Ihre eigene Wahl zu treffen. Kognitive Verhaltenspsychologie hat mich immer fasziniert, weil man sie zur Informationsverarbeitung brauchen kann. Strenge Behavioristen gehen jedoch davon aus, dass jedes Verhalten angelernt ist, nicht wahr?«

Lash nickte überrascht. Silver passte nicht zu der Vorstellung, die er sich von einem Einsiedler machte.

»Sie haben eine bemerkenswerte Sammlung«, sagte er.

»Mein kleines Museum. Diese Gerätschaften sind meine Schwäche. Zum Beispiel die Schönheit, die Sie gerade bewundert haben: Kelvins Gezeiten-Prophet. Er konnte jede Ebbe und Flut vorhersagen. Achten Sie auf die Papiertrommeln am Fundament. Sie sind möglicherweise das erste Beispiel für einen Drucker. Oder das Gerät auf dem Ständer daneben. Es wurde zwar vor über dreihundertfünfzig Jahren gebaut, beherrscht aber noch immer alle Funktionen - Subtraktion, Multiplikation, Division - der heutigen Rechenmaschinen. Es ist um etwas herumgebaut, das Leibnitz-Rad heißt. Später hat es den Rechenmaschinenherstellern zu einem Senkrechtstart verholfen.«

Silver schritt an der Glaswand entlang, deutete auf die unterschiedlichsten Apparate und erläuterte mit sichtlichem Vergnügen ihre historische Wichtigkeit. Er bat Tara, sie zu begleiten, und als sie neben ihnen her ging, lobte er ihre Arbeit und fragte sie, ob sie mit ihrer Position in der Firma zufrieden sei. Trotz ihrer erst kurzen Bekanntschaft merkte Lash, dass er sich für den Mann erwärmte. Er wirkte freundlich und war ganz und gar nicht hochnäsig.

Silver blieb vor dem großen Apparat stehen, der Lash zuerst aufgefallen war. »Dies«, sagte er fast ehrfürchtig, »ist Babbages Analytische Maschine. Sein ehrgeizigstes Werk, das durch sein Ableben unvollendet blieb. Es ist der Vorläufer von Mark I, Colossus und ENIAC, all den wirklich wichtigen Rechnern.« Er streichelte das eiserne Ding fast liebevoll.

All diese uralten Artefakte, die vor der atemberaubenden Aussicht auf Manhattan da auf ihren Gestellen hockten, waren in diesem eleganten Raum trotzdem bemerkenswert fehl am Platze. Dann begriff Lash plötzlich. »Das sind alles Denkmaschinen«, sagte er. »Versuche, Geräte zu erbauen, die dem Menschen das Kopfrechnen abnehmen sollten.«

Silver nickte. »Genau. Einige ...« - er deutete auf die Analytische Maschine - »sorgen dafür, dass ich bescheiden bleibe.

Andere . « - seine Hand wies durch den Raum, wo ein viel modernerer 128 K Macintosh auf einer marmornen Säulenplatte stand - »schenken mir Hoffnung. Und noch andere sorgen dafür, dass ich ehrlich bleibe.« Er deutete auf eine große Holzkiste, auf deren Vorderseite sich ein Schachbrett befand.

»Was ist das?«, fragte Tara.

»Ein Schachcomputer. Er wurde zur Zeit der Spätrenaissance in Frankreich gebaut. Es stellte sich heraus, dass der >Rechner< eigentlich nur ein kleinwüchsiges Schachgenie war, das sich in die Kiste quetschte und die Bewegungen der.

Maschine steuerte. Aber kommen Sie, setzen wir uns.« Silver geleitete sie an einen niedrigen, von Ledersesseln umgebenen Tisch. Auf ihm stapelten sich Zeitschriften: die Times, das Wall Street Journal, Ausgaben von Computerworld und The Journal of Advanced Psychocomputing.

Als sie Platz genommen hatten, hatte Silvers Lächeln mit einem Mal etwas Zögerliches. »Es ist schön, Ihre Bekanntschaft zu machen, Christopher. Aber es wäre mir unter erfreulicheren Umstände lieber gewesen.«

Er beugte sich vor, neigte leicht den Kopf und faltete die Hände. »Die Sache ist ein abscheulicher Schock. Nicht nur für den Vorstand, sondern auch für mich.« Als Silver aufschaute, bemerkte Lash die Qual in seinem Blick. Es ist eine harte Sache, dachte er. Das Unternehmen, das er gegründet hat, seine guten Werke sind in tödliche Gefahr geraten.

»Wenn ich an die Paare denke, die Thorpes und die Wilners ... Tja, ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Es ist einfach unfassbar.«

Dann begriff Lash, dass er sich geirrt hatte. Silver dachte nicht an die Firma: Seine Gedanken galten den vier Toten und der grausamen Ironie, die ihr Leben so plötzlich beendet hatte.

»Sie müssen verstehen, Christopher ...« Silver blickte wieder auf den Tisch. »Das, was wir hier tun, geht über jeden Service hinaus. Es ist eine Pflicht - wie die Pflicht, die ein Chirurg empfindet, wenn er auf seinen Patienten auf dem Operationstisch zugeht. Bei uns allerdings dauert diese Pflicht den Rest des Lebens unserer Klienten: Sie haben uns ihr künftiges Glück anvertraut. Darauf wäre ich nie gekommen, als in mir die Idee keimte, aus der später Eden wurde. Und so ist es jetzt unsere Pflicht, in

Erfahrung zu bringen, was wirklich geschehen ist. Ob ... ob wir in dieser Tragödie eine Rolle spielen - oder nicht.«

Lash empfand erneut Überraschung. Diese Offenheit hatte er bisher bei niemandem in diesem Unternehmen gesehen.

Eine Ausnahme machte vielleicht der Vorstandsvorsitzende Lelyveld.

»Ich habe gehört, dass die Wilners erst vor ein paar Tagen gestorben sind. Haben Sie vielleicht schon etwas Nützliches herausgefunden?« Silver schenkte Lash einen fast bittenden Blick.

»Es ist so, wie ich es Mauchly erzählt habe: In den Monaten vor ihrem Tod weist absolut nichts auf die Möglichkeit eines Selbstmords hin.«

Silver hielt Lashs Blick eine Weile stand, dann schaute er weg. Einen unglaublichen Moment lang glaubte Lash wirklich, das Computergenie würde in Tränen ausbrechen.

»Ich hoffe, dass ich in Kürze einen Blick auf die psychologischen Bewertungen werfen kann, die von den beiden Paaren angelegt wurden«, sagte Lash schnell, als wolle er Silver beruhigen. »Vielleicht weiß ich dann mehr.«

»Ich möchte, dass Eden Ihnen jede mögliche Unterstützung gewährt«, erwiderte Silver. »Sagen Sie Edwin, ich hätte es angeordnet. Falls Liza und ich irgendwas tun können, lassen Sie es mich wissen.«

Liza?, dachte Lash leicht verdutzt. Meint er Tara? Tara Stapleton?

»Haben Sie irgendwelche Theorien?«, fragte Silver leise.

Lash zögerte. Er wollte nicht noch mehr schlechte Nachrichten zur Sprache bringen. »Momentan sind es wirklich nur Theorien. Aber falls hier nicht irgendein unbekannter emotionaler oder physiologischer Wirkstoff am Werke ist, weisen die Anzeichen zunehmend auf Mord hin.«

»Mord?«, wiederholte Silver jäh. »Wie ist das möglich?« »Wie schon gesagt, es sind nur Theorien. Es besteht eine geringe Möglichkeit, dass jemand aus dem Zentrum in die Angelegenheit verstrickt ist: ein Angestellter. Oder ein ehemaliger Angestellter. Aber es ist weitaus wahrscheinlicher, dass der Täter jemand ist, der aufgrund des Auswahlverfahrens abgewiesen wurde.«

Ein eigenartiger Ausdruck legte sich auf Silvers Miene. Er sah aus wie ein Kind, das für etwas getadelt worden war, das es gar nicht angestellt hatte. Es wirkte wie verletzte Unschuld.

»Ich kann’s nicht fassen«, murmelte er. »Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind doch so streng. Tara kann es bestätigen.

Man hat mir versichert .« Er brach ab.

»Wie schon gesagt, es ist nur eine Theorie.«

Erneut machte sich am Tisch Schweigen breit. Diesmal dauerte es länger. Dann stand Silver auf.

»Tut mir Leid«, sagte er. »Ich schätze, ich halte Sie nur von wichtigeren Dingen ab.« Als er die Hand ausstreckte, kehrte etwas von seinem herzlichen Lächeln zurück.

Mauchly tauchte aus dem Nichts auf. Er führte Tara und Lash zum Aufzug zurück.

»Christopher?«, meldete Silver sich noch einmal. Als Lash sich umdrehte, stand Silver an der Analytischen Maschine.

»Ja, Sir?«

»Danke, dass Sie raufgekommen sind. Es ist beruhigend zu wissen, dass Sie uns zur Seite stehen. Wir werden uns bestimmt bald wieder begegnen.«

Als der Aufzug sich öffnete, wandte Silver sich mit nachdenklicher Miene ab. Seine Hand strich fast geistesabwesend über die metallene Flanke der uralten Rechenmaschine.