21
Es hatte sich zunehmend verfinstert und zugezogen. Als die Aufzugtür sich öffnete, war die Aussicht ganz anders als jene, die Lash am Tag zuvor gesehen hatte. Eine Hand voll Deckenlampen warf kleine Lichtkreise in den riesigen Raum.
Hinter den Fensterscheiben breitete sich eine graue Wolkenkratzer-Gewitterlandschaft aus. Die museale Denkmaschinensammlung stand vor ihnen: klotzige Objekte vor einem sich senkenden Himmel.
Richard Silver stand an einem der Fenster. Er hatte die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Als der Lift bimmelte, drehte er sich um.
»Christopher«, sagte er und schüttelte Lash die Hand.
»Schön, Sie wiederzusehen. Möchten Sie was trinken?«
»Kaffee wäre ganz nett.«
»Ich hol ihn«, sagte Mauchly und ging zu dem Getränkefach, das in eines der Bücherregale eingebaut war.
Silver winkte Lash zu dem gleichen Tisch, an dem sie am Tag zuvor gesessen hatten. Die Zeitschriften und Zeitungen waren weg. Silver wartete, bis Lash Platz genommen hatte, dann setzte er sich ihm gegenüber hin. Er trug eine Cordhose und einen schwarzen Kaschmirpullover mit hochgeschobenen Ärmeln.
»Ich habe viel über das nachgedacht, was Sie gestern erzählt haben«, sagte er. »Dass es sich bei diesen Fällen nicht um Selbstmord handelt. Ich wollte es anfangs nicht glauben, aber jetzt bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Sie Recht haben.«
»Ich sehe einfach keine andere Möglichkeit.«
»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, dass Sie gesagt haben, Eden habe irgendwie mit der Sache zu tun.« Silver blickte an Lash vorbei. Seine Miene wirkte besorgt. »Ich war in meinem Elfenbeinturm zu sehr mit meinen eigenen Projekten beschäftigt. Reine Wissenschaft hat mich immer mehr fasziniert als angewandte. Der Versuch, eine Maschine zu bauen, die denken und aus eigener Kraft Probleme lösen kann: mein Herz hat stets in diese Richtung geschlagen. Die Probleme haben mich immer weniger Interessiert als die Fähigkeit, sie zu lösen. Erst als mir die Idee kam, Eden zu gründen, wurde ich persönlich involviert. Endlich hatte ich eine Aufgabe, die Liza würdig war: das Glück der Menschen. Trotzdem habe ich mich aus alltäglichen Dingen herausgehalten. Und jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war.«
Silver hielt inne. Sein Blick richtete sich erneut auf Lash.
»Mir ist nicht ganz klar, warum ich Ihnen das erzähle.«
»Manche Leute behaupten, mein Gesicht flößt Vertrauen ein.«
Silver lachte leise. »Jedenfalls bin ich endlich zu dem Schluss gekommen, dass ich - auch wenn ich mich früher um nichts gekümmert habe - doch etwas tun kann. Und zwar sofort.«
»Und was?«
Mauchly kehrte mit dem Kaffee zurück. Silver stand auf.
»Kommen Sie bitte mit?«
Er geleitete Lash in die hintere Ecke, an der die an drei Seiten des Raumes verlaufende Fensterscheibe an den Regalen der vierten endete. Hier ging Silvers Sammlung von Rechenmaschinen offenbar in eine musikalische über: ein Farfisa-Keyboard, ein Mellotron, ein Moog-Synthesizer.
Silver drehte sich zu Lash um. »Sie haben gesagt, der Mörder sei möglicherweise ein abgelehnter Eden-Kandidat.«
»Das Profil deutet es an. Vielleicht ein Schizoider, der die Ablehnung nicht verarbeiten konnte. Es besteht auch eine geringe Möglichkeit, dass er nach der Annahme aus dem Programm ausgestiegen ist. Oder dass er zu den Klienten gehört, die innerhalb von fünf Zyklen kein Ebenbild fanden.«
Silver nickte. »Ich habe Liza angewiesen, sämtliche greifbaren Bewerberdaten zu analysieren und nach Anomalien zu suchen.«
»Anomalien?«
»Es ist nicht ganz einfach zu erklären. Stellen Sie sich eine mit Bewerberdaten bevölkerte dreidimensionale Scheintopologie vor. Man komprimiert die Daten und vergleicht sie.
Es ist fast so wie bei der Avatar-Abgleichung, die Liza jeden Tag vornimmt, nur umgekehrt. Unsere Bewerber wurden ja schon psychologisch geprüft; sie müssten sich alle innerhalb enger Normen bewegen. Ich habe nach Bewerbern gesucht, deren Verhalten und Persönlichkeit außerhalb dieser Normen liegen.«
»Abweichler«, sagte Lash.
»Ja.« Silver sah aus, als litte er Schmerzen. »Oder Menschen, deren Verhaltensmuster nicht mit ihren Aussagen synchron laufen.«
»Wie konnten Sie das so schnell schaffen?«
»Habe ich ja eigentlich nicht. Ich habe Liza hinsichtlich der Natur des Problems instruiert, und sie hat eine eigene Methode entwickelt.«
»Indem sie die Daten der Bewerberprüfungen verwendet hat?«
»Nicht nur sie. Liza hat auch jene Datenspuren aufgerufen, die abgewiesene Bewerber und freiwillig Zurückgetretene in den Monaten oder Jahren nach ihrem Antrag hinterlassen haben.«
Lash war entsetzt. »Meinen Sie Daten, die gesammelt wurden, nachdem diese Leute keine potenziellen Klienten mehr waren? Wie ist denn so etwas möglich?«
»Es wird Aktivitätsüberwachung genannt und von Großunternehmen durchgeführt. Die Regierung macht das auch.
Wir sind den anderen nur ein paar Jahre voraus. Mauchly hat Ihnen ja vielleicht schon ein paar grundlegende Anwendungsgebiete gezeigt.« Silver strich seinen Pullover glatt.
»Jedenfalls hat Liza drei Namen markiert.«
»Aber das muss doch eine ungeheure Datenmenge gewesen sein .«
»Schätzungsweise eine halbe Million Petabytes. Ein Cray hätte ein Jahr daran zu analysieren gehabt. Liza hat die Sache in einigen Stunden erledigt.« Silver deutete auf etwas an der Wand.
Lash warf mit neuer Verblüffung einen Blick auf ein Objekt, das er für eine Antiquität aus Silvers Sammlung gehalten hatte. Auf einem Tischchen befand sich eine handelsübliche Tastatur vor einem altmodischen Monochrom-VDT-Rechner. Daneben stand ein Drucker.
»Das ist sie?«, sagte Lash fassungslos. »Das ist Liza?«
»Was haben Sie erwartet?«
»Das jedenfalls nicht.«
»Liza - beziehungsweise ihr Rechenzentrum - belegt die Stockwerke direkt unter uns. Aber warum soll eine Schnittstelle komplizierter sein als nötig? Sie wären überrascht, wie viel ich mit diesem einfachen Gerät erreichen kann.«
Lash dachte an das Rechenkunststück, das Liza gerade bewältigt hatte. »Mich wundert nichts mehr.«
Silver zögerte. »Sie haben noch eine andere Möglichkeit erwähnt, Christopher: dass der Mörder jemand von unseren Mitarbeitern ist. Ich habe Liza also befohlen, auch nach allen internen Unregelmäßigkeiten zu suchen.« Seine Miene wurde so steinern, als litte er körperliche Schmerzen. »Sie hat einen Namen ausgespuckt.«
Silver wandte sich dem Tischchen zu, nahm zwei gefaltete Bögen Papier an sich und drückte sie Lash in die Hand.
»Viel Glück - falls es das passende Wort ist.«
Lash nickte und wandte sich zum Gehen.
»Da ist noch was, Christopher.«
Lash schaute um.
»Ich weiß, Sie verstehen, warum ich dies zu Lizas höchster Priorität gemacht habe.«
»Klar. Und danke.«
Lash ließ sich von Mauchly zum Aufzug geleiten und dachte über Silvers letzte Worte nach. Der gleiche Gedanke war auch ihm gekommen. Die Thorpes waren vor elf Tagen an einem Freitag gestorben. Die Wilners am Freitag danach.
Serienkiller standen auf System und Ordnung.
Sie hatten noch drei Tage.