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Auf einem weiteren Wachposten im dritten Stock des inneren Turms beobachtete Edwin Mauchly die Kontrollstelle I durch eine Spiegelglasscheibe. Ihm bot sich der Anblick eines gesteuerten Pandämoniums. Mindestens hundert Eden-Angestellte hatten sich in einer Schlange aufgereiht und warteten darauf, die Ausgangstür zu passieren. Ein Dutzend Mann vom Wachpersonal hielten sie mehr oder weniger in Schach.
Mauchlys Blick wanderte vom Fenster zu einem Monitor in der Nähe. Er zeigte die Haupthalle aus der Vogelperspektive.
Dort hatte sich eine noch längere Menschenschlange an dem provisorischen Kontrollpunkt an der Drehtür gebildet. Uniformierte Wachen überprüften Ausweise, ließen die Leute einzeln oder zu zweit passieren und hielten nach Christopher Lash Ausschau. Mauchly registrierte zufrieden, dass Angehörige der Sicherheit sich in Zivil unter die Wartenden gemischt hatten, subtil den Klatsch unterbanden und Bewerber von Mitarbeitern getrennt hielten. Selbst in einer Krise und bei diesem in der Geschichte des Unternehmens bisher noch nie vorgekommenen Delta-Zustand genossen Sicherheit und Intimsphäre der Klienten oberste Priorität.
Mauchly ging auf und ab. Die Situation war abscheulich und ging ihm persönlich auf die Nerven. Als Verbindungsmann zwischen Richard Silver und der übrigen Firma hatte er Eden auf seine ruhige Art seinen äußerst persönlichen Stempel aufgedrückt. Er hatte alle Sicherheitsvorkehrungen - bis auf die des Penthouse, die Silver persönlich vorgenommen hatte - selbst installiert. Mauchly war das starke Bedürfnis nach Geheimhaltung und absoluter Vertraulichkeit praktisch schon bewusst gewesen, bevor ein schützenswertes Produkt überhaupt existierte.
Und er hatte als Erster verstanden, dass der größtmögliche Netzwerk-Datenaustausch - zwischen Kommunikationskonglomeraten, Finanzdienstleistern und der Bundesregierung - ihr Produkt nicht nur weiter verfeinerte, sondern auch bisher unvorstellbare Steuergelder in ihre Kasse fließen ließ.
Mauchly hatte keine besondere Verwendung für Titel oder Anerkennung, die übliche Augenwischerei der Großunternehmen. Trotzdem war er, was die Firma anging, sehr stolz und ebenso beschützend. Aus diesem Grund ging er nun im Wachposten auf und ab und spürte, wie sein Zorn zunahm.
Er hatte Lash selbst vorgeschlagen. Es war nach Plan abgelaufen: Das Unternehmen wurde bedroht. Lash war ihm die geeignete Kraft erschienen, um die Bedrohung zu identifizieren.
Doch statt Eden zu retten, hatte er einer Schlange Zutritt verschafft.
Es erstaunte Mauchly noch immer, wie gut Lash die Vorwürfe an sich hatte abprallen lassen. Er verstand zwar nur wenig von Psychologie, wusste aber, dass es den meisten Menschen, die so krank waren, dass sie zu psychopathischen Mördern wurden, schwer fiel, ihre wahre Natur zu verbergen. Doch Lash war fast perfekt gewesen. Nun gut, er hatte bei der Pseudobewerbung versagt, doch nichts hatte auf den tatsächlichen Ernst der Lage hingewiesen. Dennoch hatte Mauchly den Beweis mit eigenen Augen gesehen. Nachdem Silver ihm die alarmierende Nachricht überbracht hatte - als sie wussten, wo sie suchen mussten - , waren die Fakten nur so aus dem Computer geströmt. Unterlagen über Einweisungen. Die Krankengeschichte eines Abnormen, die so ellenlang war wie sein Arm. Trotz all seiner Brillanz als Akademiker hatte Lash in gewisser Weise einen schrecklichen Schaden. Und es wurde nur noch schlimmer. Er war freilich schlau. Es war ihm anfangs gelungen, seine Krankheit und seinen Leumund vor dem FBI geheim zu halten - so wie es ihm auch gelungen war, Eden zu täuschen. Doch nun war es mit dem Versteckspiel vorbei.
Als Mauchly erneut einen Blick durch das Einwegfenster warf, nahm das Gefühl, hintergangen und geschädigt worden zu sein, noch zu. Jetzt, im Nachhinein, tadelte er sich, weil er Dr. Alictos nachbewertende Warnungen nicht ernst genug genommen hatte. Der angebliche Grund, aus dem Lash das FBI verlassen hatte, hätte viel mehr Alarmsirenen aufheulen lassen müssen.
Aber er konnte die Zeit nicht umkehren und die gemachten Fehler wieder gerade biegen. Doch eines konnte er gewiss: Er konnte sie wieder gutmachen. Nun wusste er, wie der Hase lief. Er würde die Angelegenheit wieder ins Lot bringen.
Ein leises Piepsen ertönte, und das Bildtelefon auf einem Tisch in seiner Nähe blitzte auf. Mauchly ging hin und gab einen kurzen Code ein. »Hier ist Mauchly«, sagte er.
Der kleine Bildschirm leerte sich kurz, dann tauchte Silvers Gesicht auf.
»Wie ist die Lage, Edwin?« Nicht nur seine Miene wirkte besorgt, auch sein Tonfall.
»Wir haben den Turm in den Delta-Zustand versetzt.«
»War das wirklich nötig?«
»Es schien mir die schnellste und sicherste Methode zu sein, das Gebäude zu räumen. Bis auf das Sicherheitspersonal werden alle Mitarbeiter evakuiert. Wir haben an allen Ausgängen und Kontrollstellen Beobachter postiert, die nach Lash Ausschau halten.«
»Und die Klienten? Haben Sie Maßnahmen eingeleitet, um sie zu beruhigen?«
»Wir haben ihnen gesagt, es handele sich um eine RoutineÜbung; dass wir so was regelmäßig durchführen, damit unsere Sicherheitsvorkehrungen immer auf dem neuesten Stand bleiben. Ist ja nicht weit von der Wahrheit entfernt. Bisher hat niemand Schwierigkeiten gemacht.«
»Gut. Sehr gut.«
Mauchly wartete darauf, dass Silver das Gespräch beendete, doch sein Gesicht verschwand nicht vom Bildschirm. »Ist noch etwas, Dr. Silver?«, erkundigte sich Mauchly kurz darauf.
Silver schüttelte langsam den Kopf. »Sie glauben doch auch nicht an die Möglichkeit, dass wir einen Fehler gemacht haben, oder?«
»Einen Fehler, Sir?«
»In Sachen Lash, meine ich.«
»Unmöglich, Sir. Sie haben mir den Bericht selbst übergeben.
Und Sie haben die Beweise gesehen, auf die wir seitdem gestoßen sind. Außerdem wäre er, wenn er wirklich unschuldig ist, doch nicht auf diese Weise geflüchtet.«
»Wahrscheinlich nicht. Trotzdem ... Seien Sie bitte vorsichtig, ja? Sie achten doch darauf, dass ihm nichts passiert?«
»Natürlich.«
Silver lächelte matt, dann wurde der Bildschirm dunkel.
Kurz darauf ging die Tür zum Wachposten auf, und Sheldrake kam herein. Er trat vor, sein großer Leib wankte, als warte er auf Befehle. Man hatte den Mann zwar vom Militär fortlocken können, doch das hatte ihm offensichtlich nicht sein militärisches Gehabe genommen.
»Wie steht’s, Mr. Sheldrake?«, fragte Mauchly.
»Fünfundsiebzig Prozent der Besucher haben das Haus verlassen«, erwiderte Sheldrake. »Laut Zählungen der Kontrollstellen haben etwa achtunddreißig Prozent der im Zentrum tätigen Arbeitskräfte die Sicherheitsportale passiert.
Wir rechnen damit, dass die Evakuierung in den nächsten zwanzig Minuten abgeschlossen sein wird.«
»Und Lash?«
Sheldrake hob einen Ausdruck hoch. »Die Scanner haben ihn bis zu einem Werkstattgebiet verfolgt. Er war dort in einem halben Dutzend Räumen. Seither gibt es keine Sichtungsmeldungen mehr.«
»Lassen Sie mal sehen.« Mauchly schaute sich den Ausdruck an. Das Lager für überflüssige Disks. Netzwerk-Infrastruktur.
»Was könnte er an so einem Ort anstellen?«
»Die Frage stellen wir uns auch, Sir.«
»Da stimmt was nicht.« Mauchly deutete auf die Liste. »Diesen Zeitprotokollen zufolge ist Lash in fünfzehn Sekunden in sechs verschiedenen Räumen gewesen.« Er gab Sheldrake den Ausdruck zurück. »In dieser Zeit hätte er sie gar nicht betreten können. Was also hat er gemacht?«
»Er führt uns an der Nase herum.«
»Genau das nehme ich auch an. Der letzte Raum, den er betreten hat, war ein Netzbetrieb. Auf den sollten Ihre Leute die Suche konzentrieren.«
»Sehr wohl, Sir.«
»Die Patrouillen im Zentrum sollen jedoch weitermachen.
Wir müssen davon ausgehen, dass Lash die Randbezirke sondiert und versucht, einen Weg aus dem Zentrum zu finden.
Ich gehe jetzt ins Kommandozentrum rauf. Von da aus kann ich das Unternehmen effektiver überblicken.«
Sheldrake wandte sich zum Gehen. Mauchly beobachtete ihn. Dann sagte er, nun leiser: »Mr. Sheldrake?«
»Sir?«
Mauchly musterte ihn einen Augenblick. Sheldrake wusste natürlich nicht alles - er wusste beispielsweise nicht genau, warum Lash sich in diesem Gebäude aufhielt -, aber er wusste genug, um zu verstehen, dass der Mann eine große Gefahr darstellte.
»Lash hat Eden schon einmal blamiert. Je länger er auf freiem Fuß ist, desto mehr Schaden kann er anrichten. Beträchtlichen Schaden.«
Sheldrake nickte.
»Geheimhaltung ist das Gebot der Stunde. Mit Situationen dieser Art müssen wir innerhalb des Hauses fertig werden. Je eher die Sache abgeschlossen ist, desto besser ist es für alle, die hier arbeiten.« Mauchly spürte, wie der Zorn erneut in ihm aufwallte. »Verstehen Sie? Wir müssen die Sache unter allen Umständen beenden.«
Sheldrake nickte erneut, diesmal jedoch langsamer. »Ganz meine Meinung, Sir.«
»Dann sorgen Sie dafür«, sagte Mauchly.