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Tara Stapleton saß in ihrem Büro, machte hinter dem Schreibtisch eine Drehung mit dem Stuhl und starrte das ramponierte Surfbrett an. Die ganze Etage schien verlassen zu sein. Der Korridor hinter der Tür war in gespannte Stille gehüllt. Obwohl Tara eine Schlüsselkomponente in der Unternehmenssicherheit war, wusste sie, dass auch sie hätte gehen sollen. Mauchly hatte vor dem Rio eine diesbezügliche Bemerkung fallen lassen. »Gehen Sie heim«, hatte er gesagt und ihr, was sonst nicht seine Art war, die Schulter getätschelt. »Sie haben einen harten Tag hinter sich, aber jetzt ist es vorbei. Gehen Sie nach Hause und entspannen Sie sich.«
Sie stand auf und ging hin und her. Wenn Sie heimging, würde sie sich auch nicht besser fühlen, das stand fest.
Seit Mauchly sie kurz nach der Mittagspause in Silvers Büro gerufen hatte, war sie in einem Schockzustand. Das, was man ihr erzählt hatte, war ihr unmöglich erschienen: dass Christopher Lash, der Mann, den sie engagiert hatten, um die mysteriösen Todesfälle aufzuklären, höchstpersönlich der Killer war. Sie hatte es nicht glauben wollen; nicht glauben können. Doch Mauchlys maßvoller Ton und der Schmerz in Richard Silvers Gesicht hatten keinen Raum für Unglauben gelassen. Sie selbst hatte Mauchly geholfen, das riesige ihr zur Verfügung stehende Netzwerk von Datenbanken auszuschöpfen und jene Informationen über Lash zu sammeln, die ihn bar jeglichen Zweifels verdammten.
Und als Lash sie dann angerufen hatte - als sie gegangen war, um sich nach der Beratung mit Mauchly mit ihm zu treffen -, hatte ihr Schockzustand sich noch verstärkt. Lash hatte drängend, fast verzweifelt auf sie eingeredet. Doch sie hatte ihm kaum zugehört. Stattdessen hatte sie sich gefragt, wie ihre Intuition sich dermaßen hatte täuschen können. Da saß ein Mann, der kaltblütig vier Menschen ermordet hatte, dem man auf ein halbes Dutzend verschiedene Arten nachweisen konnte, dass er an den Tatorten gewesen war. Da war ein Mann, der - laut ihrer gesammelten Daten - in einer schwer milieugeschädigten Familie aufgewachsen war. Er hatte den größten Teil seiner Kindheit in Heimen verbracht und sein Strafregister als sexuell motivierter Triebtäter erfolgreich vertuscht. Und doch hatte sie Vertrauen zu ihm gewonnen und ihn während der kurzen Zeit, in der sie zusammen gewesen waren, sogar mögen gelernt. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die anderen schnell vertrauten. Ein Grund, warum ihre Beziehungen nur begrenzt erfolgreich waren - und weswegen sie sich in das Eden-Pilotprogramm gestürzt hatte - war, dass sie es sich nicht erlaubte, anderen Menschen zu nahe zu kommen. Welcher Teil ihres ausgeklügelten Selbstverteidigungsmechanismus hatte sie also so schmählich im Stich gelassen?
Da war noch etwas. Einiges, was Lash ihr im Rio erzählt hatte, fiel ihr nun wieder ein. Seine Worte zum Thema Überdosen, über die chemische Hirnsubstanz P; dass sie beide in Gefahr seien, weil sie zu viel wussten. Er war verrückt, also war auch sein Gerede verrückt.
Oder?
Ein Geräusch: Schritte im Gang, die sich schnell näherten.
Ihr Türknauf quietschte, als er gedreht wurde. Jemand kam in ihr Büro, wie ein grässliches Gespenst, das ihre Gedanken herbeigerufen hatten.
Es war Christopher Lash.
Er sah nur nicht so aus, wie sie ihn kannte. Nun wirkte er wirklich wie ein entsprungener Irrer. Sein Haar war verschwitzt und zerzaust. Eine hässliche Schramme zog sich über seine Stirn. Sein normalerweise makelloser Anzug war von Staub bedeckt und an den Ellbogen und Knien aufgerissen. Seine Hände bluteten aufgrund zahlloser Schnitte und Schrammen.
Lash machte die Tür zu und lehnte sich schwer atmend dagegen.
»Tara«, keuchte er heiser. »Gott sei Dank, dass Sie noch hier sind.«
Tara stierte ihn an. Sie war vor Verblüffung erstarrt. Dann griff sie zum Telefon.
»Nicht!«, sagte er und trat vor.
Ohne die Hand vom Hörer zu nehmen, langte Tara in ihre Handtasche, entnahm ihr eine Dose mit Pfefferspray und richtete sie auf sein Gesicht.
Lash blieb stehen. »Bitte. Sie müssen mir einen Gefallen tun.
Nur einen. Dann verschwinde ich.«
Tara versuchte nachzudenken. Die Wachen mussten Lash anhand des Identitätsarmbands aufspüren können. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie hier auftauchten. Sollte sie versuchen, ihn irgendwie einzuwickeln? Es war wohl besser, Zeit zu schinden, als sich auf einen Kampf einzulassen.
Tara nahm die Hand vom Telefon, hielt die Sprühdose jedoch erhoben. »Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«, fragte sie und bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Hat man Sie verprügelt?«
»Nein.« Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht.
»So was passiert eben, wenn man sich moderner Transportmittel bedient.« Das Lächeln schwand. »Tara, man hat auf mich geschossen.«
Tara sagte nichts. Er ist paranoid. Hat Wahnvorstellungen.
Lash trat einen Schritt vor, blieb aber stehen, als Tara drohend mit der Dose auf ihn zielte. »Hören Sie zu. Sie müssen etwas für mich tun. Wenn Sie’s nicht für mich tun wollen, dann tun Sie es für die gestorbenen Ehepaare. Und für die, die noch in Gefahr schweben.« Er schnappte nach Luft. »Durchsuchen Sie die Eden-Datenbank nach dem ersten Klienten-Avatar, der je aufgezeichnet wurde.«
Eine Minute war vergangen. Die Wachen würden gleich da sein.
»Bitte, Tara.«
»Stellen Sie sich da drüben hin, in die Ecke«, sagte Tara.
»Und halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.«
Lash ging in die äußerste Ecke hinüber.
Tara behielt ihn aufmerksam im Auge, dann trat sie an ihren Rechner, das Pfefferspray in der Hand. Sie setzte sich nicht hin, sondern beugte sich ein Stück zur Tastatur hinunter und neigte sich vor, um mit einer Hand die Eingabe zu machen.
Der erste je aufgezeichnete Avatar ...
Erstaunlicherweise spuckte der Rechner einen Avatar aus, dem kein Name zugeordnet war. Da stand nur ein Identitätscode. Doch er ergab überhaupt keinen Sinn.
»Lassen Sie mich mal raten«, sagte Lash. »Es ist nicht mal ’ne richtige Zahl. Es ist nur eine Reihe von Nullen.«
Tara drehte sich nun um und musterte Lash genauer. Er atmete noch immer schwer, und Blut tröpfelte von seinen Händen auf den Boden. Doch er schaute sie unveränderlich an und - egal, wie fest sie seinem Blick auch standhielt - sie konnte in seinen Augen keinen Hinweis finden, dass Lash irrsinnig war.
Tara schaute zur Wanduhr. Zwei Minuten.
»Woher wussten Sie das?«, fragte sie. »Haben Sie einfach geraten?«
»Wer hätte das schon erraten können? Neun Nullen?«
Tara ließ ihre Frage im Raum stehen.
»Erinnern Sie sich noch an die Anfragen, die ich Sie heute Morgen in Ihren Rechner einzugeben bat? Mir war gerade eine Idee gekommen. Eine schreckliche Idee, aber die einzig passende. Die Anfragen, die Sie anschließend haben laufen lassen, waren dann die Bestätigung.«
Tara wollte etwas sagen, doch dann hielt sie inne.
»Wozu soll ich mir das alles anhören?«, sagte sie, um mehr Zeit zu gewinnen. »Ich habe Ihre Daten gesehen. Ich habe Ihre Akten gesehen, was Sie getan haben. Ich weiß, warum Sie nicht mehr beim FBI sind: Sie haben zwei Polizisten und Ihren eigenen Schwager sterben lassen. Sie haben bewusst einen Mörder zu ihnen geführt.«
Lash schüttelte den Kopf. »Nein. So war es nicht. Ich habe versucht, sie zu retten. Es ist mir nur zu spät bewusst geworden. Es war ein Fall wie dieser hier. Das Profil eines Killers, das vorn und hinten nicht stimmte. Er hieß Edmund Wyre.
Haben Sie in der Presse nichts über ihn gelesen? Er hat Frauen als Köder getötet und Geständnisse geschrieben, die reiner Bluff waren. Und zwischenzeitlich hat er seine wirklichen Ziele bedroht: die in diesen Fällen ermittelnden Kriminaler. Zwei hat er erwischt. Mich hat er verfehlt. Der Fall hat meine Ehe ruiniert und dafür gesorgt, dass ich ein Jahr nicht schlafen konnte.«
Tara antwortete nicht.
»Verstehen Sie denn nicht? Man hat mir hier eine Falle gestellt. Mich reingelegt. Jemand hat an meiner Akte herummanipuliert. Ich weiß, wer dieser Jemand ist.«
Lash trat an die Tür und warf einen Blick zurück. »Ich muss jetzt gehen. Aber Sie müssen noch etwas tun. Gehen Sie zum Tank. Lassen Sie sechs Avatare - die Frauen der sechs Superpaare - auf Avatar null los.«
In der Ferne läutete ein Aufzug. Tara hörte laute Stimmen und die Geräusche rennender Füße.
Lash zuckte sichtlich zusammen. Er legte die Hand auf den Türrahmen und bereitete sich zur Flucht vor. Dann schaute er Tara noch einmal an. Sein Ausdruck schien sich in sie einzubrennen. »Ich weiß, dass Sie möchten, dass all dies aufhört. Tun Sie, was ich gesagt habe. Finden Sie selbst heraus, was hier abläuft. Retten Sie die anderen.«
Dann war er ohne ein weiteres Wort verschwunden.
Tara ließ sich langsam in ihren Sessel fallen. Sie schaute auf die Uhr: knapp unter vier Minuten.
Sekunden später stürzte eine Gruppe von Wachmännern mit Schießeisen in der Hand in ihr Büro. Der Anführer - ein untersetzter, stämmig gebauter Mann, den Tara als Whetstone identifizierte - schaute schnell in alle Ecken, dann fiel sein Blick auf sie.
»Alles in Ordnung, Ms. Stapleton?« Neben Whetstone lugte ein Mann in den einzigen Schrank des Büros.
Tara nickte.
Whetstone wandte sich seinen Leuten zu. »Er muss in die Richtung abgehauen sein«, sagte er und deutete den Korridor hinunter. »Dreyfuss und McBain, ihr sichert die nächste Gangkreuzung. Reynolds, du bleibst bei mir. Wir überprüfen mal die Zugangsklappen in der Nähe hier.« Er marschierte aus dem Büro, steckte die Waffe weg und zückte gleichzeitig ein Funkgerät.
Tara lauschte eine Weile den sich entfernenden Schritten und den verstohlenen Lauten des Gesprächs. Dann verstummte beides, und im Korridor wurde es wieder still.
Sie blieb reglos in ihrem Sessel sitzen. Die Wanduhr tickte volle fünf Minuten vor sich hin. Dann stand sie auf und schritt über den Teppich, wobei sie es vermied, auf die Blutflecken zu treten. Im Türrahmen zögerte sie eine Sekunde, dann ging sie in den Korridor hinaus und schlug die Richtung zum Aufzug ein. Der Tank war nur wenige Minuten von hier entfernt.
Doch dann blieb sie stehen - sie war zu einem anderen Entschluss gelangt. Sie drehte sich um und kehrte, nun schneller, in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.