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Mauchly musterte kurz sein Handy, als bezweifle er, dass es richtig funktionierte. Dann hob er es wieder an den Mund.

»Könnten Sie das wiederholen, Dr. Silver?«

»Ich habe gesagt, Sie sollen Ihre Position halten. Machen Sie keinen Versuch, das Penthouse zu betreten.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Es ist alles in bester Ordnung.«

»Ganz bestimmt, Sir?«

»Ja, Edwin, in bester Ordnung. Ich werde mich in Kürze wieder melden.« Das Handy verstummte mit einem Zirpen.

Mauchly betrachtete es noch einmal eine ganze Weile.

Trotz der Verzerrung bestand kein Zweifel, dass es Silvers.

Stimme gewesen war. Allerdings wies sie einen Unterton auf, den er noch nie gehört hatte. Deswegen fragte er sich, ob Lash Silver womöglich bedrohte. Wurde er in seinem Penthouse als Geisel gehalten? Andererseits hatte die Stimme nicht verängstigt geklungen. Wenn ihm überhaupt etwas aufgefallen war, dann höchstens eine Art Müdigkeit.

»War das Silver?«, fragte Sheldrake von unten.

»Ja.«

»Wie lauten seine Befehle?«

»Das Penthouse nicht zu betreten. Wir sollen unsere Position halten.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein.«

Eine kurze Stille trat ein. »Tja, wenn wir unsere Position nun also beibehalten sollen, wie wär’s, wenn wir das an einem Ort tun, an dem es etwas bequemer ist? Ich komme mir hier vor wie ein Zirkusakrobat.«

Mauchly blickte nach unten. Der Vorschlag erschien ihm verständlich.

In der letzten Viertelstunde hatten sie am oberen Ende einer langen Eisenleiter gewartet, die knapp unter dem Dach des inneren Turms nach oben verlief. Sie hatten darauf gewartet, dass ein Sicherheitstechniker - ein verschlafener junger Bursche mit zerzaustem Haar namens Dorfman - den Versuch unternahm, die Mechanismen der Barriere zu Silvers Penthouse auszutricksen. Es war eine sehr lange Viertelstunde gewesen, die ihnen aufgrund der harten eisernen Leitersprossen und des fortwährenden Lärms aus dem riesigen Maschinenpark in dem höhlenartigen Raum unter ihnen noch endloser vorgekommen war: Dort lieferten Generatoren und Transformatoren dem gefräßigen Hochhaus die Energie. Trotz aller dem Sicherheitstrupp zur Verfügung stehenden Gerätschaften hatte Dorfman größte Schwierigkeiten.

Vielleicht hätte Tara Stapleton die Sache schneller erledigen können. Wenn sie gewollt hätte .

Doch Mauchly hatte keine Lust, das Problem Stapleton noch weiter zu durchdenken. Er machte sich lieber eine geistige Notiz, die Sicherheit des Penthouse bei der nächstbesten Gelegenheit neu abzuschätzen.

Er hatte Silvers extremer Passion für Intimsphäre eindeutig zu viele Zugeständnisse gemacht. Die letzte Viertelstunde hatte es bewiesen. Er war zu nachsichtig gewesen, gefährlich nachsichtig. Der Sturmbock hatte - wie erwartet - nichts gebracht. Aber auch die hoch technisierten Methoden hatten sich als alarmierend langsam erwiesen. Angenommen, Silver wurde urplötzlich krank und konnte keinen Finger mehr rühren? Wenn der Aufzug eine Fehlfunktion hatte, verlor man kostbare Minuten, bis jemand bei ihm war. Silver stellte für das Unternehmen einen viel zu wichtigen Aktivposten dar, um ihn solchen Risiken auszusetzen. Er würde es ihm persönlich sagen. Silver war ein vernünftiger Mann, er würde es schon verstehen.

Nun schaute Mauchly zur Leiter hinauf. Sie verschwand in einer Luke im Dach des inneren Turms und führte zur abschließenden Ablenkplatte hinauf: dem freien Raum zwischen dem inneren Turm und dem Boden von Silvers Penthouse. Als Mauchlys Blick noch höher wanderte, erspähte er Dorfman, der genau in der soeben geöffneten, ins Penthouse führenden Sicherheitsluke stand. Er schaute fragend zu Mauchly hinunter, klammerte sich mit einer Hand an einer Leitersprosse fest und hielt einen Analysator in der anderen. Messinstrumente, Elektroniksensoren und andere Werkzeuge baumelten an seinem Gürtel.

»Gehen Sie weiter«, rief Mauchly zu ihm hinauf.

Dorfman hob eine Hand ans Ohr.

»Gehen Sie weiter! Warten Sie drinnen auf uns.«

Dorfman nickte und drehte sich um, um die schmale Leiter mit beiden Händen zu packen. Nach einer Weile war er außer Sichtweite und verschwand in der Schwärze des Penthouse.

Mauchly schaute zu Sheldrake hinunter und gab ihm und seinen Männern mit einem Wink zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten. Sie hatten allerhand Mühen auf sich genommen, um an das Penthouse heranzukommen: Wenn sie warten sollten, konnten sie es auch drinnen tun.

Mauchly nahm den Rest der Kletterei in Angriff. Vier Schritte brachten ihn zur Turmdachluke, nach vier weiteren war er oben auf der Ablenkplatte. Er hatte diesen Raum noch nie gesehen, doch er hielt nur widerwillig an, um sich umzuschauen.

Mauchly war nicht sonderlich phantasiebegabt, aber als er sich langsam um hundertachtzig Grad drehte, merkte er, dass er gegen ein Schwindelgefühl ankämpfen musste. Eine finstere Metalllandschaft - das Dach des inneren Turms -breitete sich nach allen Seiten aus. Es war mit Verkabelungen gespickt, und sein ausladender Schwung wurde von zahllosen kleinen Instrumentengehäusen unterbrochen. Etwa drei Meter darüber hing wie ein gewaltiger sich senkender Himmel der stählerne Unterbauch des Penthouse. Es war mit Unmengen vertikal aufragenden I-Trägern am Dach des Turms befestigt. Zwei in Metall gehüllte Datenleitungen verliefen von Verkleidungen im oberen Gebäude zum Dach des inneren Turms. In der Ferne konnte Mauchly einen dritten, viel größeren kastenartigen Aufbau ausmachen: den Schacht von Silvers Privataufzug. Er war von einem Gitternetz horizontaler Rippen umgeben, durch die man einen Blick auf die glühenden Farbtöne der untergehenden Sonne erhaschen konnte. Einem Beobachter, der von der Straße aus das dekorative Netz in Augenschein nahm, würde sich nie enthüllen, dass es das Bindeglied zweier physisch getrennter Gebäude verbarg - den inneren Turm und das über ihm aufragende Penthouse. Doch Mauchly, der sich sechzig Etagen über Manhattan aufhielt, kam sich vor, als sei er zwischen den Scheiben eines riesigen Sandwichs aus Eisen geklemmt.

Und da war noch etwas: etwas weitaus Beunruhigenderes.

In die Mauern der langen Achse eingefügt, auf halber Höhe zwischen beiden Bauten, befanden sich die ausfahrbaren Sektionen der riesigen Sicherungsplatten. In ihren stählernen Flanken konnte Mauchly drei Vertiefungen ausmachen: Zwei passten zu den Datenröhren, die dritte zum Privataufzug. Die Sicherungsplatten waren momentan ganz zurückgefahren. Bei einem Notfall glitten sie nach vorn, schlossen miteinander ab und schotteten das Penthouse von dem Turm darunter ab. Von seinem Aussichtspunkt aus wirkten die gewaltigen hydraulischen Kolben, die die Platten bewegten, wie die Sprungfedern einer gigantischen Mausefalle.

»Mr. Mauchly?«, rief Sheldrake von unten. Mauchly rüttelte sich wach, griff in die Leitersprossen, wandte den Blick von der Ablenkplatte ab und kletterte durch die Luke in die Vorhalle des Penthouse.

Sein erster Eindruck war schlichtweg Erleichterung: wie schön, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Der zweite Eindruck gleich darauf war absolute Finsternis.

»Dorfman!«

Neben ihm raschelte etwas. »Hier, Mr. Mauchly.«

»Warum haben Sie kein Licht eingeschaltet?«

»Ich suche einen Schalter, Sir.«

Mauchly richtete sich auf und tastete sich voran, bis er auf Metall stieß. Er zog sich an der Wand entlang, bis er eine Tür fand. Da sie verschlossen war, ging er weiter an den Wänden entlang, bis er wieder an die Luke kam. Der Rundgang durch den kleinen Raum hatte nicht zu einem Lichtschalter geführt.

Ein Scheppern ertönte, dann schob sich plötzlich ein dunkler Umriss durch die Luke und verdeckte das Licht, das von unten zu ihnen hereinfiel.

»Sheldrake?«

»Ja, ich bin’s.«

»Rufen Sie mal zu Ihren Leuten runter. Sie sollen ein paar Taschenlampen raufbringen.«

Der Umriss verschwand wieder aus seinem Blickfeld.

Mauchly blieb nachdenklich stehen. Das Penthouse umfasste sechs Etagen. Silvers Domizil nahm die beiden obersten ein.

Die riesige Fläche darunter beherbergte den Maschinenpark, aus dem Liza bestand.

Silver war hinsichtlich der geschäftlichen Angelegenheiten des Unternehmens immer sehr locker verfahren und hatte den alltäglichen Kram dem Direktorium überlassen. Nur in einer Hinsicht war er stets sehr eigen gewesen - nämlich was Lizas Maschinenpark anbetraf. Er war während der Bauphase täglich hier oben gewesen, um die Installation persönlich zu überwachen.

Manchmal hatte er sogar Gerätschaften von den Kränen durch die noch unfertigen Mauern geschleppt. Während dieser Zeit, fiel Mauchly ein, war Liza auf einer Reihe ziemlich alter Rechner mit einer beweglichen Energiequelle gelaufen: Der Aufbau der einzelnen Komponenten an den vorgesehenen Stellen, der Stromanschluss und die im Betrieb befindlichen Rechner waren eine arge Tortur gewesen. Doch Silver hatte darauf bestanden. »Sie darf die Besinnung nicht verlieren«, hatte er Mauchly erzählt. »Das ist noch nie passiert; deswegen kann ich es auch jetzt nicht zulassen. Liza ist kein PC, den man einfach wieder neu startet. Sie hatte die ganze Zeit über ein eigenes Bewusstsein. Wer weiß zu sagen, was verloren geht oder sich verändert, wenn sie keinen Strom kriegt?«

Vergleichbare Ängste hatten die Vorsichtsmaßnahmen motiviert, die Silver ergriffen hatte, um Liza von der Außenwelt abzuschirmen. Mauchly wusste, dass Lizas Intelligenz - aus welchem Grund auch immer - noch nie von einem Computer auf einen anderen übertragen worden war: Stattdessen hatte Silver neuere und größere Rechner einfach mit den älteren verbunden und so eine immer umfangreichere Zusammenballung von »Big Iron« - Hardware mehrerer Epochen und Macharten geschaffen. Der leistungsfähige Cluster aus Superrechnern, der Edens Auswärtsdaten verarbeitete, Klienten überwachte und dergleichen, stand unter ihnen im Zentrum und wurde von zahlreichen technischen Experten überprüft. Lizas zentraler Kern jedoch, die Steuerungsintelligenz, war hier oben und wurde von Silver allein gewartet.

Mauchly hatte seit der ersten Baustufe keinen Fuß mehr in Lizas Maschinenraum gesetzt. Nun verwünschte er sich für dieses Versäumnis. Im Nachhinein erwies sich sein Mangel an Wissen als ernsthafte Sicherheitslücke. Er überlegte, was er über die vier Etagen an Räumlichkeiten darüber hinaus noch wusste, und ihm wurde klar, dass es sehr wenig war.

Silver hatte alles eifersüchtig abgeschirmt, sogar vor ihm.

Mauchly kehrte an die Tür zurück, die ihm zuvor aufgefallen war. Einen Moment lang fürchtete er, Silver könnte sie von innen verschlossen haben. Doch der einfache Knauf drehte sich unter seinem Zugriff. Als die Tür aufglitt, gab es endlich wieder Licht. Zwar nicht das Licht von Lampen, sondern von einem riesigen Dickicht aus Dioden und LED-Anzeigen, die rot, grün und bernsteinfarben in der samtenen Finsternis blinkten und sich in endlose Ferne vor ihm ausbreiteten. Hier waren auch Geräusche zu hören: Nicht das gespenstisch anmutende Heulen des unter ihnen befindlichen hauseigenen Kraftwerks, es waren das beständige Summen von Ersatzgeneratoren sowie das leisere, maßvolle Schnurren elektromechanischer Gerätschaften.

Mauchly wies Dorfman an, auf Sheldrake zu warten, dann ging er in die Düsternis hinein.