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Als Lash am Greenwich Audubon Center anhielt, den Wagen abstellte und den Weg nahm, der zum Mead Lake führte, wurden die Nachmittagsschatten schon länger. Er hatte die Gegend für sich allein: Die Schülergruppen waren Stunden zuvor gegangen; die Vogelfreunde und Naturfotografen würden sich erst am Wochenende hier einfinden. Der feuchte Morgen war strahlendem Sonnenschein gewichen. Um Lash herum verschmolz der Wald zu einer Festung aus Grün und Braun. Die Luft war schwer vom Moosgeruch. Während er ging, wurde der Verkehrslärm auf der Riverville Road leiser.

Minuten später wurde er ganz und gar durch das Vogelgezwitscher ersetzt.

Lash hatte den Turm der Eden Incorporated in der Absicht verlassen, auf schnellstem Weg in sein Büro in Stamford zurückzukehren. Die Woche, die er sich für diesen Auftrag genommen hatte, war um; nun musste er entscheiden, wie er mit den Arrangements für die nächsten Wochen verfahren wollte - falls überhaupt. Doch auf dem halben Weg nach Hause hatte er sich plötzlich auf der Ausfahrt des New England Thruway wiedergefunden und war fast ziellos durch die schattigen Straßen von Darien, Silvermine und New Canaan gekreuzt. Dort hatte er als Jugendlicher herumgetobt. Der Kleckstest der Thorpes lag unberührt in dem Umschlag auf dem Beifahrersitz neben ihm. Lash war weitergefahren; er hatte den Wagen entscheiden lassen, wohin es gehen sollte.

Und die Fahrt hatte hier geendet, im Naturschutzgebiet.

Die Gegend erschien ihm so gut wie jede andere.

Vor ihm gabelte sich der Weg und führte zu einer Reihe von Hochsitzen zum Vögelbeobachten, die auf den See hinausgingen. Lash wählte willkürlich einen Hochsitz aus und kletterte über die kurze Leiter in das kastenartige Gebilde. Drinnen war es warm und dunkel. Ein breiter waagerechter Schlitz an der Rückseite ermöglichte ihm einen heimlichen Blick auf den See. Lash beobachtete die auf dem Wasser dümpelnden und gelegentlich abtauchenden Vögel, die von seiner Anwesenheit nichts ahnten. Dann nahm er auf der Holzbank Platz und legte den unförmigen Umschlag neben sich ab.

Er öffnete ihn nicht sofort. Er griff vielmehr in seine Jackentasche und entnahm ihr ein schmales Bändchen: Schmale Landstraße ins Landesinnere von Matsuo Bashö. Er hatte das Buch auf der Ladentheke einer Starbucks-Filiale am Sky Harbor International gesehen, und der Zufall war ihm zu groß erschienen, um an dem Bändchen vorbeizugehen. Lash überblätterte die Einführung des Übersetzers und fand die ersten Zeilen.

Mond und die Sonne sind ewigliche Reisende. Sogar die Jahre wandern weiter. Ein Leben lang in einem Boot treiben oder im hohen Alter ein müdes Pferd in die Jahre führen: Jeder Tag ist eine Reise, und die Reise an sich ist das Zuhause.

Lash legte das Buch beiseite. Was hatte Lewis Thorpe über Bashôs Poesie gesagt? Voller Spannung und Einfachheit? So was in der Art.

Lash befolgte beruflich viele Regeln, wobei die wichtigste lautete: Halte deine Patienten auf Distanz. Er hatte diese Regel auf die harte Tour gelernt, als Profiler beim FBI. Warum also ließ er es zu, dass Lewis und Lindsay Thorpe ihn derart faszinierten? Lag es nur an der verwirrenden Art ihres Ablebens? Oder hatte die Vollkommenheit ihrer Ehe etwas besonders Verlockendes? Denn nach allem, was er in Erfahrung gebracht hatte, war ihre Ehe wirklich perfekt gewesen - bis zu dem Augenblick, als sie sich die Plastiktüten über den Kopf gezogen, einander umarmt und langsam vor den Augen ihrer kleinen Tochter das Bewusstsein verloren hatten.

Normalerweise gestattete sich Lash keine Selbstbeobachtung. Sie führte zu nichts; sie beeinträchtigte nur seine Objektivität. Doch er beschloss, sich noch eine Beobachtung zu erlauben. Schließlich hatte er diesen Ort nicht willkürlich gewählt. In diesem Naturpark, auf diesem Pfad - und genau genommen auch an diesem Vogelhorst - hatte Shirley ihm vor drei Jahren gesagt, sie wolle ihn nie wiedersehen.

Jeder Tag ist eine Reise, und die Reise an sich ist das Zuhause. Lash fragte sich, zu welcher Art Reise die Thorpes wohl aufgebrochen waren. Oder, wenn er sich die Frage schon einmal stellte, welche Reise er jetzt selbst unternahm, um ihr Geheimnis zu lüften. Schon als ihn seine Beine über den Pfad getragen hatten, hatte die Vernunft ihm gesagt, er sollte sich dieser Reise widersetzen.

Lash fuhr sich müde mit der Hand über die Augen, dann griff er nach dem dicken Umschlag und riss ihn mit dem Zeigefinger auf.

Er enthielt etwas mehr als hundert Blatt Papier: die Resultate von Lewis und Lindsay Thorpes Kleckstests, die man bei Eden im Rahmen der Eignungsprüfung durchgeführt hatte.

Auf der Highschool hatten Tintenkleckse Lash fasziniert: die Vorstellung, dass das, was man in einem zufällig entstandenen Klecks sah, etwas über einen aussagte. Doch erst im Fortgeschrittenenstudium, als er sich mit Testauswertungen beschäftigt und das Verfahren - wie alle Psychologiestudenten - an sich selbst ausprobiert hatte, war ihm klar geworden, welch ein tiefgründiges psychodiagnostisches Werkzeug er da vor sich hatte. Kleckse waren als »projizierende« Tests bekannt, weil die Begriffe »richtig« und »falsch« - anders als bei kompliziert aufgebauten objektiven Schreibtests wie WAIS oder MMPI - mehrdeutig waren. Die Suche nach Bildern in Tintenklecksen machte es erforderlich, dass man tieferen, verwickelteren Ebenen der Persönlichkeit standhielt.

Bei Eden verwendete man den Hirschfeldt-Test, eine Wahl, die Lash von ganzem Herzen billigte. Obwohl der Hirschfeldt- Test auf Exners Weiterentwicklung des ursprünglichen Rorschach-Tests basierte, hatte er mehrere Vorzüge. Der Rorschach-Test bestand aus nur zehn Tintenklecksen, deren Bedeutung von den Psychologen geheim gehalten wurde: Einem Kandidaten musste es leicht fallen, die »richtigen« Antworten auf eine so geringe Anzahl von Klecksen auswendig zu lernen. Wandte man jedoch den Hirschfeldt-Test an, konnte man aus einem Katalog von fünfhundert erfassten Klecksen schöpfen - viel zu viele, als dass man sie sich merken könnte. Man legte der Testperson statt zehn dreißig Kleckse vor, was zu vielfältigeren Reaktionen führte.

Im Gegensatz zum Rorschach-Test, bei dem die Hälfte der Kleckse farbig war, waren beim Hirschfeldt sämtliche Kleckse schwarzweiß: Seine Befürworter betrachteten Farbe als unnötige Ablenkung.

Lindsay Thorpes Ergebnisse kamen zuerst. Lash hielt einen Moment inne und stellte sie sich in einem Prüfungsraum vor, der sicherlich still, bequem und bar jeglicher Ablenkungen war. Der Prüfer hatte vielleicht ein kleines Stück hinter ihr Platz genommen, denn Prüfungen, bei denen Prüfling und Prüfer sich gegenübersaßen, galt es zu vermeiden. Lindsay Thorpe hatte die Kleckse bestimmt erst in dem Moment zu Gesicht bekommen, als der Prüfer sie vor ihr auf den Tisch gelegt hatte.

Die Grundregeln des Tests wurden so gehütet wie die Kleckse selbst. Allen Fragen, die die Testperson stellte, begegnete man mit einer zuvor formulierten Reaktion. Lindsay konnte nicht wissen, dass alles, was sie über die Kleckse sagte, ob es nun relevant war oder nicht, niedergeschrieben und mit Punkten versehen wurde. Sie konnte auch nicht wissen, dass ihre Reaktionszeit von einer lautlosen Uhr gestoppt wurde: Je schneller ihre Reaktion, desto besser. Sie konnte auch nicht wissen, dass von ihr erwartet wurde, dass sie in jedem Klecks mehr als nur einen Gegenstand sah. Wer nur einen Gegenstand erblickte, galt als neuroseverdächtig. Außerdem konnte sie nicht wissen - und der Prüfer hätte es auf ihr Befragen hin auch geleugnet -, dass es auf jeden Klecks tatsächlich eine »normale« Reaktion gab. Sah man etwas Originelles und konnte es rechtfertigen, erhielt man Kreativitätspunkte. Erblickte man jedoch in einem Klecks etwas, das außer einem selbst kein anderer sah, wies dies in der Regel auf eine Psychose hin.

Lash wandte sich dem ersten Klecks zu. Der Prüfer hatte Lindsays Reaktionen darunter wörtlich niedergeschrieben.

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1 von 30 - Karte 142 71

 

 

Freie Assoziation:

1. Es sieht wie ein Körper aus. Die weißen Dinger in der Mitte sehen irgendwie aus wie Lungenflügel.

2. Das Ding ganz unten sieht aus wie ein auf den Kopf gestellter Beckenknochen.

3. (Pfeil u) Es sieht fast wie eine Maske aus. Ja, wie eine Maske.

4. Und da, ganz unten, ist eine kleine Fledermaus.

Nachfrage:

1. (Wiederholt)

2. (Wiederholt)

3. Ja, eine Maske. Die beiden weißen Knubbel da oben sind die Augen. Der Knubbel in der Mitte ist die Nase, und der untere ist der Mund. Ist irgendwie gespenstisch, wie eine Teufelsmaske.

4. Da ganz unten, eine Fledermaus. Man sieht es an den beiden lederartigen Ohren, an den ausgestreckten Schwingen. Sieht aus, als würde sie fliegen.

Es gab zwei Stufen der Deutung einer Kleckskarte: eine Phase der freien Assoziation, in der die Testperson ihre ersten Eindrücke beim Anblick des Kleckses artikuliert, und eine Befragungsphase, in der der Prüfer die Testperson bittet, ihre Eindrücke argumentativ zu vertreten. An der Anmerkung zur dritten freien Assoziation sah Lash, dass Lindsay die Karte aus eigenem Antrieb auf den Kopf gestellt und fortan so gehalten hatte. Das war ein Zeichen für eigenständiges Denken: Wer fragte, ob er die Karte drehen durfte, erhielt eine geringere Punktzahl. Lash kannte den Klecks. Lindsay hatte eine der typischsten Antworten gegeben: eine Maske, eine Fledermaus. Der Prüfer hatte Lindsays Verweis auf den Teufel zweifellos bemerkt; eine nicht

zur Sache gehörende Bemerkung, die es zu benoten galt. Das nächste Blatt im Stapel war der Bewertungsbogen des Prüfers für die erste Kleckskarte:

 

Karte

Nr.

Ort

Antw. #

Determinanten

Art der Gestalt

Besonderes

1

1

GS

6

H1, M+

N

 

 

2

E

21

H, Ma-

N

 

 

3

GS

1

I, Ffr2

N

MOR

 

4

E

4

Am, A-, (If)

N

 

 

Lash schaute sich schnell an, wie Lindsays Reaktionen typisiert und benotet worden waren. Der Prüfer hatte gründliche Arbeit geleistet. Obwohl Lash jahrelang keinen Hirschfeldt-Test mehr durchgeführt hatte, fielen ihm die Bedeutungen der geheimnisvollen Abkürzungen wieder ein: G war eine Reaktion auf den Gesamtklecks, E eine zur Kenntnis genommene Einzelheit. Menschliche und tierische Gestalten, Bewegung oder Leblosigkeit, Anatomie, Natur und alle restlichen Determinanten waren notiert. Bei allen vier Reaktionen hatte man Lindsays Gestaltarten mit einem N versehen, was normal bedeutete. Ein gutes Zeichen. Zwar hatte sie in den weißen Stellen mehr als üblich gesehen, aber nicht so viel, um irgendwelche Bedenken hervorzurufen. In der Spalte »Besonderes«, in der der Prüfer von der Sache abweichende Äußerungen, fabulierte Kombinationen und sonstige »Knaller« aufführte, hatte Lindsay nur eine Markierung erhalten: MOR für morbiden Inhalt. Dies lag zweifellos an der Charakterisierung des Bildes als »Teufelsmaske« und »Gespenstisch«.

Lash nahm sich den zweiten Klecks vor.

 

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2 von 30 - Karte 315

 

Auch diesmal hatte der Prüfer Lindsays Reaktionen sorgfältig niedergelegt.

 

Freie Assoziation:

5. Sieht aus wie Christbaumschmuck.

6. Die Dinger ganz oben schauen aus wie Insektenfühler.

7. Aus dieser Sicht sehen die Fühler wie Krebsbeine aus.

Nachfrage:

5. Na ja, es ist rund, wie die Dinger, die an den Zweigen hängen. Stimmt doch, oder? Und das Teil da oben ist die

Aufhängung.

6. Ja, sie sind mit Papillen gefiedert, wie die Fühler mancher Insektenarten.

7. (Wiederholt)

 

Auch dieser Klecks war Lash bekannt. Lindsay Thorpes Reaktionen lagen alle im normalen Bereich.

Lash musterte den Klecks noch einmal. Plötzlich spannte er sich an. Als er ihn betrachtete, blitzten völlig unerwartet eine Reihe von Assoziationen durch sein Gehirn: ein sich schnell ausbreitendes rotes Meer auf einem weißen Teppich; ein tropfendes Küchenmesser; die grinsende Maske Edmund Wyres, den man mit Handschellen und Fußfesseln vor einem Meer entsetzter Gesichter vernahm.

Der Teufel hole Roger Goodkind und seine Neugier, dachte er und legte die Karte schnell beiseite.

Er blätterte rasch die achtundzwanzig weiteren Bögen durch, entdeckte jedoch nichts Außergewöhnliches. Lindsay wurde als gut angepasster, intelligenter, kreativer, ziemlich ehrgeiziger Mensch charakterisiert. All dies wusste Lash schon.

Die schwache Hoffnung, die sich erneut in ihm geregt hatte, verblasste allmählich.

Es gab noch einen Gegenstand, den es zu untersuchen galt.

Lash schaute sich den Bogen mit der strukturellen Zusammenfassung an, der die Gesamtheit der von Lindsay erzielten Punkte mit diversen Quotienten, Häufigkeitsanalysen und anderen algebraischen Windungen prüfte, um spezielle persönliche Charakterzüge sichtbar zu machen. Eine Gruppe dieser Charakterzüge nannte sich »Besondere

 

Abschnitt VIII. Besondere Symptome (H. 28)

H.28a

SCZI

-(1/10)

H.28b

HVI

-(3/12)

H.28c

S-Gruppe

-(0/8)

H.28d

CDI

-(0/9)

H.28e

MRZ

-(1/15)

H.28f

N-Calc

-(2/11)

H.28g

PS-Neg

-(0/8)

Symptome«, und dieser wandte Lash sich zu.

Die besonderen Symptome waren Alarmsignale. Fielen mehr als eine festgelegte Anzahl von Reaktionen unter ein besonderes Symptom, beispielsweise SCZI für Schizophrenie oder HVI für Hypervigilanz - Schlaflosigkeit -, war es positiv markiert. Ein besonderes Symptom, die S-Gruppe, deutete einen potenziellen Selbstmörder an.

Lindsay Thorpes S-Gruppe war negativ; tatsächlich zeigte sie null von acht möglichen Suizid-Symptomen.

Lash legte die Ergebnisse mit einem Seufzer beiseite und griff nach den Unterlagen von Lindsays Ehemann.

Er hatte gerade festgestellt, dass Lewis Thorpes Suizid-Gruppe ebenso niedrig war wie die seiner Frau, als es in seiner Jackentasche piepste. Lash zog sein Handy hervor. »Ja?«

»Dr. Lash? Hier ist Edwin Mauchly.«

Lash verspürte einen Anflug von Überraschung. Seine Handynummer war niemandem bekannt. Er konnte sich auch nicht erinnern, sie jemandem bei Eden verraten zu haben.

»Wo sind Sie gerade?« Mauchlys Stimme klang irgendwie anders: kurz angebunden, fast barsch.

»In Greenwich. Warum?«

»Es ist schon wieder passiert.«

»Was ist passiert?« »Wir haben schon wieder einen Fall. Noch ein Doppelselbstmordversuch. Ein Superpaar.«

»Was?« Eine Woge des Unglaubens fegte Lashs Überraschung beiseite.

»Die beiden heißen Wilner. Sie wohnen in Larchmont. Sie sind im Moment nach Southern Westchester unterwegs. Von Ihrem Standort aus könnten Sie in ...« - Mauchly hielt kurz inne - » ... in einer Viertelstunde dort sein. Ich würde keine Zeit vergeuden.«

Dann brach die Verbindung ab.