16

Einen Moment lang schaute Lash Mauchly nur an. Die Worte des Vorstandsvorsitzenden fielen ihm ein: Sie erhalten, was bisher noch nie vorgekommen ist, Zugang zu Edens internen Funktionen. Sie haben um die - Ihnen nun eingeräumte - Möglichkeit gebeten, etwas zu tun, das niemand Ihres Wissensstandes bisher getan hat.

»Zentrum«, sagte er. »Ich habe den Ausdruck schon auf der Vorstandssitzung gehört.«

»Nehmen Sie ihn wörtlich. Dieser Turm besteht im Grunde aus drei separaten Gebäuden. Nicht nur aus Gründen der Betriebssicherheit, sondern auch wegen der unseren. Im Notfall können die drei Gebäude mit Schotts vollständig voneinander isoliert werden.«

Lash nickte.

»Unsere Klienten sehen nur den vorderen Bereich von Eden: die Prüfungsräume, Pausenzonen, Konferenzsäle und dergleichen. Die richtige Arbeit wird im rückwärtigen Teil getan. Räumlich gesehen ist dieser Bereich größer. Es gibt sechs Eingangskontrollpunkte. Wir sind zum Kontrollpunkt vier unterwegs.«

»Sie haben von drei Gebäuden gesprochen.«

»Ja. Oben auf dem inneren Turm steht das Penthouse.

Dr. Silvers private Räumlichkeiten.«

Lash musterte Mauchly mit neuem Interesse. Die Öffentlichkeit wusste so wenig über den Eden-Gründer und genialen Computertechniker, der hinter dieser Technologie stand; allein die Information, dass er hier wohnte, erschien ihm deshalb wie eine Offenbarung. Es bestand eine gute Chance, dass er sich in der Nähe aufhielt. Lash ertappte sich bei der Frage, was für ein Mensch Silver war. Ein exzentrischer Typ wie Howard Hughes, ausgemergelt und drogenabhängig? Ein despotischer Nero? Ein kalter und berechnender Magnat? Irgendwie schürte sein Mangel an Wissen über diesen Mann seine Neugier.

Die Lifttür glitt auf und ließ einen breiteren Korridor sehen.

Lash fiel auf, dass er an einer Art Glaswand endete. Darüber leuchtete die römische Ziffer IV. Menschen standen in einer Schlange vor der gläsernen Wand; sie trugen fast alle weiße Laborkittel.

»Die meisten Kontrollpunkte befinden sich auf den untersten Gebäudeebenen«, sagte Mauchly, als sie sich am Ende der Schlange anstellten. »Sie erleichtern den Zugang am Anfang und Ende des Arbeitstages.«

Als sich die Schlange langsam vorwärts bewegte, hatte Lash eine bessere Aussicht auf das, was hinter dem Glas lag: ein kurzer sechseckiger Korridor wie eine horizontale Wabe, hell erleuchtet. Und am anderen Ende wieder eine Glaswand. Als er sie musterte, glitt die nächstgelegene Wand auf; der Mann am Anfang der Schlange schritt hindurch. Die Wand schloss sich wieder.

»Sie haben doch keine mechanischen Gerätschaften bei sich, oder?«, fragte Mauchly. »Diktafon, PDA, so was in der Art?«

»Ich habe alles zu Hause gelassen, wie Sie es erbeten haben.«

»Gut. Folgen Sie mir einfach. Sobald die Wache Ihr Armband überprüft hat, passieren Sie langsam den Kontrollpunkt.«

Sie hatten den Anfang der Schlange erreicht. Zwei Wachen in beigefarbenen Overalls flankierten die Glaswand. Alles - die Wachen, die Kontrollstellen, das Armband, das gesamte Sammelsurium an Sicherheit - wirkte überdimensional groß. Dann fiel Lash ein, wie viele Steuern Eden im letzten Jahr gezahlt hatte. Und er erinnerte sich an Mauchlys Worte: Nur Geheimhaltung kann unser Unternehmen schützen. In unserer Branche gibt es zahllose Konkurrenten, die alles tun würden, um unsere Prüfverfahren, unsere Bewertungsalgorithmen und so weiter in die Finger zu kriegen.

Während Lash wartete, hielt Mauchly die linke Hand unter ein in die Wand eingebautes Lesegerät. Blaues Licht beleuchtete seine Haut; das Armband blitzte auf. Die Wand öffnete sich mit einem leisen Zischen. Mauchly trat in den hell erleuchteten Raum. Die erste Wand schloss sich, die zweite ging auf. Als Mauchly die Kammer durchquert hatte und beide Türen zu waren, winkten die Wächter Lash herbei.

Er hielt das Armband unter den Scanner und spürte, wie sein Gelenk sich unter dem Strahl erwärmte. Die Glaswand glitt beiseite, und er begab sich in die Kammer.

Die Wand hinter ihm schloss sich sofort. Das Licht im Inneren der Kontrollpunktkammer war so hell und wurde so gleißend von den weißen Oberflächen reflektiert, dass Lash nur vage aufnahm, dass die Wabenkammer aus mehr als nur bloßen Wänden bestand. Als er weiterging, nahm er aus den Wänden ragende Formen wahr. Sie waren im gleichen Weiß gestrichen wie die Umgebung und deswegen schwer zu unterscheiden. Er hörte ein leises Summen, wie das Schnurren eines Motors in der Ferne. Dies war mehr als ein Korridor - es war eine Rohrleitung, die zwei separate Türme miteinander verband.

Dann öffnete sich die Glaswand gegenüber, und er trat ins Freie. Ein einzelner Wächter erwartete ihn und nickte ihm zu, als er hinauskam. Lash erwiderte das Nicken und schaute sich neugierig um. Das »Zentrum« unterschied sich nicht besonders von jenem Eden, das er schon kannte. Er erblickte eine Menge Schilder: TELEFON A-E, ONLINE-ÜBERWACHUNG, DATENABGLEICH. In den Gängen waren Leute unterwegs, die sich leise unterhielten.

Mauchly stand an der Seite und erwartete ihn. Als sich die innere Glaswand hinter Lash schloss, trat er vor.

»Was soll das alles?« Lash deutete mit dem Kinn auf die Kammer, die er gerade passiert hatte.

»Das ist eine Abtastschleuse. Sie sorgt dafür, dass niemand etwas hier rein- oder rausbringt. Sämtliche Geräte, jegliche Software, Informationen, die ins Zentrum gehören, müssen auch dort bleiben.«

»Alles?«

»Alles bis auf einige penibel kontrollierte Datenströme.«

»Aber die ganze Datenverarbeitung findet doch hier statt, im Zentrum, nicht wahr? Hier muss es ja eine unerhörte Menge Zahlensalat geben.«

»Mehr, als Sie sich vorstellen könnten.« Mauchly deutete auf eine große Wandklappe. »Datenleitungen wie diese verbinden alle Zentrumszonen. Im Grunde handelt es sich um Kabelschächte, die sämtliche Systeme im Zentrum verbinden.«

Mauchly trat zur Seite und deutete auf eine Gestalt, die Lash bisher nicht aufgefallen war. »Das ist Tara Stapleton, unsere Chefin für Sicherheitstechnik. Solange Sie hier drin sind, wird Sie Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

Die Frau trat vor. »Tag, Dr. Lash«, sagte sie mit leiser, ruhiger Stimme und steckte die Hand aus.

Lash griff zu. Tara Stapleton war eine große Brünette mit ernsthaften Augen. Seiner Meinung nach konnte sie noch keine dreißig sein.

»Unser erster Halt ist dort drüben«, sagte Mauchly, als sie durch einen breiten Korridor schritten. »Tara ist gerade in Kenntnis gesetzt worden, weshalb Sie hier sind. Sonst weiß natürlich niemand davon. Sie sind angeblich da, weil Sie einen Effizienzbericht für den Fünfjahresplan des Vorstandes ausarbeiten. Ich glaube, Sie werden erstaunt sein, wie engagiert und motiviert unsere Leute sind.«

Lash schaute Tara Stapleton an. »Stimmt das?«

Sie nickte. »Wir haben die beste Ausrüstung. Wir verfügen über eine selbst entwickelte Technologie, der nichts das Wasser reichen kann. Wo findet man eine Stellung, die einen so sehr von anderen Menschen unterscheidet?« Trotz ihrer begeisterten Worte wirkte die Art ihres Vortrages mechanisch und monoton, als wäre sie geistig abwesend.

»Erinnern Sie sich noch an das Klassentreffen, bei dem Sie zugehört haben?«, fragte Mauchly. »Der ganze Stab ist angewiesen, den Leuten zweimal im Jahr zuzuhören. Es trägt dazu bei, dass wir nicht vergessen, wofür wir arbeiten.«

Sie hatten nun eine Doppeltür erreicht, auf der DATENERFASSUNG - INTERNET - GALERIE stand. Mauchly hielt sein Armband unter einen Scanner. Die Tür ging auf. Er winkte Lash hindurch.

Lash fand sich auf einem Balkon wieder, der über einem Raum lag, in dem es so geschäftig zuging wie an der New Yorker Börse. Doch während die Börse ihm stets wie ein kaum eindämmbares Chaos erschienen war, wies der Raum unter ihnen das präzise, ruhige Fließen eines Bienenstocks auf.

Menschen saßen an Tischen, behielten Computermonitore im Auge oder telefonierten. Überdimensionale Bildschirme bedeckten die Wände. Sie übertrugen Bilder von Reuters und CNN sowie von lokalen und ausländischen Nachrichtensendern.

»Das hier ist eines von unseren Datenerfassungszentren«, erklärte Mauchly. »Es gibt in diesem Gebäude mehrere Forschungs- und Überwachungsunterabteilungen. Sie sehen sich alle ziemlich ähnlich.«

»Das Unternehmen kommt mir unheimlich groß vor«, murmelte Lash, während er die Aktivitäten unter sich betrachtete.

»Wir erzählen unseren Klienten zwar, dass der Tag ihrer Prüfung das wichtigste Stadium des Abgleichungsprozesses ist, aber eigentlich ist er nur ein kleiner Teil. Nach der Prüfung überwachen wir sämtliche Aspekte der Verhaltensmuster der Bewerber. Dies kann sich über ein paar Tage oder einen Monat erstrecken, je nach Breite des bei uns eingehenden Datenstroms. Vorlieben bei der Lebensweise, bevorzugte Kleidung und Freizeitgestaltung, Gewohnheiten beim Geldausgeben: allem wird nachgespürt. Dieses Zentrum dokumentiert beispielsweise, wie sich ein Bewerber im Internet bewegt. Wir überwachen, welche Sites er besucht und wie er sie nutzt, dann integrieren wir diese Daten in andere Informationen, die wir sammeln.«

Lash schaute ihn an. »Wie ist das möglich?«

»Wir haben Abkommen mit den größten Kreditkartenfirmen, Telefongesellschaften und ISP-Providern, Kabel- und Satellitensendern und dergleichen getroffen. Sie gestatten uns, ihren Datenverkehr zu überwachen. Im Gegenzug versorgen wir sie mit bestimmten - natürlich verallgemeinerten -, Metriken, damit sie nach Trends Ausschau halten können. Und natürlich haben wir unsere eigenen Überwachungsspezialisten an Bord. Die Allgegenwärtigkeit von Computern im täglichen Leben ermöglicht uns ja unter anderem unser Geschäft, Dr. Lash.«

»Da kriege ich ja fast Angst, den meinen noch mal anzufassen«, sagte Lash.

»Jegliche Überwachung findet verdeckt statt. Unsere Klienten ahnen nicht, dass wir ihr Surfverhalten im Netz verfolgen und ihre Kreditkartenrechnungen und Telefonverbindungen einsehen. So erzielen wir ein weitaus vollständigeres Bild, als wir es auf andere Weise je erhalten könnten. Dieser Aspekt gehört mit zu den Dingen, die uns von den anderen, weit primitiveren Partnervermittlungen unterscheiden, die in unserem Kielwasser aufgekommen sind. Ich brauche wohl nicht darauf hinzuweisen, dass die von uns gesammelten Daten innerhalb dieser Wände bleiben. Auch das ist ein Grund, warum wir so geheimnistuerisch auf Sie wirken, Dr. Lash: Unser erstes Mandat ist der Schutz der Intimsphäre unserer Klienten.«

Mauchly deutete mit der Hand auf die Aktivitäten, die sich unterhalb abspielten. »Nachdem die Thorpes die persönliche Bewertung hinter sich hatten, wurden ihre Daten zur Überprüfung an ein Zentrum wie dieses weitergeleitet. Bei den Wilners war es ebenso. Oder auch bei Ihnen, wären Sie als Bewerber ausgewählt worden.«

Mauchly legte eine Pause ein. »Die Sache tut mir übrigens Leid. Ich habe die Abschlussberichte von Vogel und Alicto gelesen.«

»Ihr Dr. Alicto scheint einen persönlichen Groll gegen mich zu hegen.«

»Zweifellos muss Ihnen das so vorgekommen sein. Es liegt im Ermessen der Seniorbewerter, wie sie Befragungen vornehmen. Alicto gehört zu unseren besten Bewertern, aber er ist auch einer der unorthodoxesten. Jedenfalls war es keine echte Bewertung, da Sie ja kein Bewerber waren. Ich hoffe, das mindert Ihren Zorn ein wenig.«

»Gehen wir weiter.« Lash fühlte sich vor Tara Stapleton nicht ganz wohl bei der Analyse seines alles andere als prächtigen Auftritts.

Mauchly winkte ihn von der Galerie in einen langen, blass getönten Korridor, wo er schließlich vor einer schweren Stahltür stehen blieb. Sie war mit einem Warnpiktogramm und der Aufschrift RADIOLOGIE UND GENETIK III versehen. Auch diesmal öffnete Mauchly die Tür mit dem Armband. Dahinter breitete sich ein großer Raum voller grau gestrichener Spinde aus. »Blaumänner« für biomedizinische und andere Aufgaben hingen an Metallhaken. Die Wand gegenüber war aus durchsichtigem Plexiglas. Auf ihrer versiegelten Eingangspforte standen gleich mehrere Warnungen. Ein Schild besagte STERILE UMGEBUNG. STERILE KLEIDUNG VORGESCHRIEBEN. DANKE FÜR IHRE MITARBEIT.

Lash trat an das Plexiglas und schaute neugierig hindurch. Er sah vermummte Gestalten mit Handschuhen, die sich über eine Vielzahl komplizierter Gerätschaften beugten.

»Schaut aus wie ein DNA-Sequenzer«, sagte er und deutete auf eine besonders große Konsole in der Ecke gegenüber.

Mauchly trat neben ihn. »Es ist auch einer.«

»Was macht er hier?«

»Er ist Bestandteil unserer genetischen Analyse.«

»Ich verstehe nicht, was Genetik mit einer Partnervermittlung wie der Ihren zu tun hat.«

»Eigentlich ziemlich viel. Genetik gehört zu Edens sensibelsten Forschungsgebieten.«

Lash wartete neugierig ab. Die Stille wurde allmählich spürbar. Schließlich seufzte Mauchly.

»Wie Sie wissen, beschränkt sich unser Bewerbungsverfahren nicht auf die psychologische Auswertung. Bei der ersten ärztlichen Untersuchung werden alle Bewerber disqualifiziert, die bedeutende körperliche Probleme haben oder einen hohen Risikofaktor aufweisen.«

»Das erscheint mir ganz schön streng.«

»Überhaupt nicht. Wären Sie etwa scharf darauf, Ihrer Traumfrau zu begegnen, wenn sie schon ein Jahr später stirbt? Jedenfalls wird das Blut der Bewerber nach der ärztlichen Untersuchung - hier und in anderen Zentrumslaboratorien - auf vielerlei genetische Krankheiten hin untersucht. Wer eine genetische Veranlagung zu Alzheimer, Mukoviszidose, Chorea-Huntington und so weiter aufweist, wird ebenfalls disqualifiziert.«

»Gott im Himmel. Erfahren die Leute den Grund?«

»Nein, nicht direkt. Das könnte Rückschlüsse auf unsere Geschäftsgeheimnisse zulassen. Abgesehen davon sind Ablehnungen oft schon traumatisch genug. Warum dazu noch Ängste hinsichtlich einer Krankheit schüren, die möglicherweise erst - falls überhaupt - in vielen Jahren zu einem Problem wird und in jedem Fall unheilbar ist?«

Ja, warum?, dachte Lash.

»Aber das ist nur der Anfang. Wir setzen die Genetik meist dann ein, wenn es zum Abgleichungsprozess selbst kommt.«

Lashs Blick wanderte von Mauchly zu den sich geschäftig hinter der Plexiglaswand bewegenden Laborarbeitern. Dann schaute er Mauchly wieder an.

»Sie sind mit evolutionärer Psychologie zweifellos vertrauter als ich«, sagte Mauchly. »Und speziell mit der Theorie der Genverbreitung.«

Lash nickte. »Das Verlangen, seine Gene unter bestmöglichen Bedingungen an künftige Generationen weiterzugeben. Ein grundlegender Trieb.«

»Genau. Und bestmögliche Bedingungen< bedeutet in der Regel einen hohen Grad an genetischer Vielfalt. Techniker würden es vielleicht als Zunahme von Mischerbigkeit bezeichnen. Es trägt zur Sicherstellung starker, gesunder Nachkommen bei. Wenn ein Partner die für Cholera relativ anfällige Blutgruppe A und der andere B hat, was wiederum erhöhte Anfälligkeit für Typhus bedeutet, ist ihr Kind - mit der Blutgruppe AB - wahrscheinlich hoch resistent gegen beide Krankheiten.«

»Aber was hat das mit dem zu tun, das hier vor sich geht?«

»Wir bemühen uns, stets auf dem neuesten Forschungsstand der Molekularbiologie zu sein. Gegenwärtig beobachten wir mehrere Dutzend Gene, die die Wahl des idealen Gefährten beeinflussen.«

Lash schüttelte den Kopf. »Sie überraschen mich.«

»Ich bin kein Experte, Dr. Lash. Aber ein Beispiel kann ich Ihnen anbieten: HLA.«

»Das sagt mir nichts.«

»Human-Leukozyten-Antigene. Bei Tieren nennt man es MHC. Es ist ein großes Gen, das auf dem langen Arm des Chromosoms 6 lebt und Körpergeruchspräferenzen beeinflusst. Studien haben erwiesen, dass Menschen sich meist von Menschen angezogen fühlen, deren HLA-Haplotypen den eigenen am unähnlichsten sind.«

»Schätze, ich sollte Nature regelmäßiger lesen. Wie hat man das denn nachgewiesen?«

»Tja, bei einem Test hat man eine Gruppe von Probanden gebeten, an den Achseln von T-Shirts zu schnuppern, die zuvor Angehörige des anderen Geschlechts trugen. Anschließend sollten sie sie nach Attraktivität sortieren. Die von allen bevorzugten Gerüche entsprachen genau den Genotypen, die ihnen am unähnlichsten waren.«

»Sie scherzen.«

»Keinesfalls. Auch Tiere zeigen eine Vorliebe, sich mit Partnern zu paaren, deren MHC-Gene das Gegenteil ihrer eigenen sind. Mäuse zum Beispiel treffen ihre Wahl, indem sie am Urin potenzieller Gefährtinnen schnuppern.«

Ein kurzes Schweigen machte sich breit.

»Da ist mir das mit dem T-Shirt lieber«, meinte Tara.

Es war seit mehreren Minuten das erste Mal, dass sie etwas sagte. Lash drehte sich um und schaute sie an. Doch da sie nicht lächelte, wusste er nicht genau, ob sie es witzig gemeint hatte.

Mauchly zuckte die Achseln. »Jedenfalls hat man die genetischen Vorlieben der Thorpes und Wilners mit den anderen Informationen, die man über sie gesammelt hatte, kombiniert: Überwachungsdaten, Testergebnisse und alles andere eben.«

Lash musterte die Männer in den Kitteln hinter der Glaswand. »Es ist verblüffend. Außerdem möchte ich die Testergebnisse so bald wie möglich sehen. Aber die wirkliche Frage lautet: Auf welche Weise haben die beiden Paare genau zueinander gefunden?«

»Das erfahren Sie bei unserem nächsten Halt.« Mauchly geleitete sie in den Korridor zurück.

Eine verwirrende Reise durch ein Labyrinth von Gängen folgte. Dann wieder eine Fahrt mit dem Aufzug nach unten.

Irgendwann stand Lash vor einer anderen zweiflügeligen Tür mit der simplen Aufschrift PRÜFKAMMER.

»Was ist das hier?«, fragte er.

»Der Tank«, erwiderte Mauchly. »Nach Ihnen, bitte.«

Lash trat in einen großen Raum ein. Die Decke war niedrig.

Indirekte Beleuchtung verlieh ihm eine eigenartig intime Atmosphäre. Die Wände links und rechts waren mit verschiedenen Displays und Instrumenten bedeckt. Doch Lashs Aufmerksamkeit wurde von der hinteren Wand angezogen, die vollständig von so einer Art Aquarium beherrscht wurde.

Er blieb stehen.

»Nur zu«, sagte Mauchly, »schauen Sie ihn sich ruhig an.«

Je näher Lash herankam, desto klarer wurde ihm, dass er einen riesigen, in die Wand der Kammer eingelassenen lichtdurchlässigen Würfel vor sich hatte. Eine Hand voll Techniker stand vor ihm. Einige machten Eingaben in Palmtops, andere sahen einfach nur zu. Im Inneren des Würfels bewegten sich zahllose geisterhafte Erscheinungen ruhelos hin und her, wechselten die Farbe, blitzen kurz auf, wenn sie miteinander kollidierten, und verblassten wieder. Das schwache Licht und die blasse Transparenz der Entitäten im Tankinneren verliehen dem Würfel die Illusion einer gewaltigen Tiefe.

»Verstehen Sie, warum wir das Ding Tank nennen?«, fragte Mauchly.

Lash nickte geistesabwesend. Es war wirklich eine Art Aquarium: ein elektrochemisches Aquarium. Und doch erschien ihm »Tank« ein zu prosaischer Name für etwas von solch unirdischer Schönheit.

»Was ist es genau?«, fragte Lash leise.

»Eine plastische Darstellung des tatsächlichen Abgleichungsprozesses, wie er in Echtzeit abläuft. Sie gibt uns visuelle Fingerzeige, die viel schwieriger zu analysieren wären, wenn wir uns durch Berge von Papierausdrucken lesen müssten. Jedes Objekt, das sie da im Tank umherhuschen sehen, ist ein Avatar.«

»Ein Avatar?«

»Das Persönlichkeitskonstrukt eines Bewerbers. Erstellt aufgrund von Bewertungen und Überwachungsdaten. Aber das kann Tara besser erklären als ich.«

Bisher hatte Tara sich im Hintergrund gehalten. Nun kam sie nach vorn. »Wir haben die Idee der Datengewinnung und der Analyse auf den Kopf gestellt. Sobald die Beobachtungsphase beendet ist, erschaffen unsere Computer aus den Rohdaten eines Bewerbers - ein halbes Terabyte Informationen - ein Konstrukt, das wir als Avatar bezeichnen. Dieses Konstrukt wird dann in eine künstliche Umwelt versetzt, in der es mit anderen Avataren interagieren kann.«

Lashs Blick war noch immer auf den Tank gerichtet. »Interagieren«, wiederholte er.

»Es ist am einfachsten, wenn man sich äußerst eng gepackte Datenpakete vorstellt, denen man eine künstliche Existenz verliehen hat und die man dann in einem virtuellen Raum aussetzt.«

Es war eigenartig, fast zermürbend: sich vorzustellen, dass jedes dieser zahllosen, vor ihm durch die Leere hin und her flitzenden Gespenster eine vollständige und einzigartige Persönlichkeit voller Hoffnungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte, Träume, Launen und Neigungen war - in Gestalt eines Datenpakets, das sich durch eine Silikonmatrix bewegte. Lash schaute wieder Tara an. Ihre Augen glänzten blassblau im reflektierten Licht, seltsame Schatten huschten über ihr Gesicht. Sie wirkte, als sei sie geistig weit weg. Auch sie schien von dem Anblick wie hypnotisiert zu sein.

»Es ist wunderschön«, sagte Lash. »Aber auch bizarr.«

Der geistesabwesende Blick verschwand schlagartig aus Taras Augen. »Bizarr? Es ist genial. Die Avatare enthalten viel zu viele Daten, um von konventionellen Computeralgorithmen verglichen zu werden. Unsere Lösung besteht darin, ihnen ein Scheinleben zu verleihen, damit sie die Abgleichung selbst vornehmen können. Sie werden in den virtuellen Raum eingefügt und dann angestachelt, fast so, wie man es mit Atomen machen könnte. Das treibt die Avatare dazu, sich zu bewegen und miteinander in Interaktion zu treten. Wir nennen diese Interaktionen >Kontaktaufnahmen<. Sind sich zwei Avatare im Tank schon begegnet, sprechen wir von einem schalen Kontakt. Die erste Begegnung zwischen zwei Avataren ist ein so genannter frischer Kontakt. Jeder frische Kontakt setzt einen riesigen Schwall von Daten frei, der die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten der beiden genau erläutert.«

»Dann sehen wir also im Moment die gegenwärtigen Bewerber bei Eden vor uns.«

»So ist es.«

»Wie viele sind es?«

»Es variiert, aber meist sind es einige Zehntausend. Es werden ständig Avatare hinzugefügt. Es könnte so ziemlich jeder dort drin sein: Präsidenten, Rockstars, Dichter. Die Einzigen, die ...« Tara zögerte. »Die Eden-Mitarbeiter sind die Einzigen, denen es nicht gestattet ist.«

»Und warum nicht?«

Taras Antwort betraf jedoch nicht seine Frage. »Es dauert ungefähr achtzehn Stunden, bis jeder Avatar mit allen anderen im Tank Kontakt aufgenommen hat. Wir nennen dies einen Zyklus. Tausende und Abertausende von Avataren, die aufeinander stoßen, setzen gewaltige Datenmengen frei. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie viele Computer-PS nötig sind, um das alles zu analysieren?«

Lash nickte. Hinter ihm ertönte ein leises Piepsen. Als er sich umdrehte, hob Mauchly sein Handy ans Ohr.

»Jedenfalls«, fuhr Tara fort, »werden, wenn eine Übereinstimmung registriert wird, beide Avatare aus dem Tank genommen. In neun von zehn Fällen kommt es im ersten Zyklus zu einer Übereinstimmung. Ist dies nicht der Fall, bleibt der Avatar für einen weiteren Zyklus im Tank; dann noch für einen dritten. Hat ein Avatar nach fünf Zyklen kein Ebenbild gefunden, wird er entfernt und der Antrag des Bewerbers für null und nichtig erklärt. Aber das ist erst ein halbes Dutzend Mal passiert.«

Ein halbes Dutzend Mal, dachte Lash. Er warf einen kurzen Blick auf Mauchly, der noch immer telefonierte.

»Aber unter normalen Umständen könnte man so einen Avatar auch ein Jahr später noch mal in den Tank stecken, und er würde dann eine weitere Übereinstimmung finden.

Eine anderes Ebenbild, stimmt’s?«

»Das ist ein heikles Thema. Unsere Klienten erfahren, dass ein vollkommenes Ebenbild für sie gefunden wurde. Und das stimmt ja auch. Was allerdings nicht heißt, dass wir am Tag darauf oder einen Monat später nicht ein zweites Ebenbild finden könnten. Abgesehen natürlich von den Superpaaren - die sind wirklich perfekt. Aber unsere Klienten erfahren nichts über den Grad der jeweiligen Perfektion. Es würde sie eventuell zum Pokern verleiten. Sobald wir ein Ebenbild gefunden haben, ist der Fall abgeschlossen. Feierabend. Diese Avatare werden aus dem Tank genommen.«

»Und dann?«

»Die beiden Bewerber werden über den Treffer informiert.

Dann arrangiert man eine Begegnung.« Bei ihren letzten Worten wirkte Tara erneut geistesabwesend.

Lash drehte sich zum Tank um und betrachtete die zigtausend wie gewichtslose außerirdische Lebensformen hin und her schwebenden Avatare. »Sie haben die enorme Rechnerzeit erwähnt, die dazu nötig ist«, murmelte er. »Ich glaube, Sie haben untertrieben. Ich wusste gar nicht, dass ein Computer in der Lage ist, eine solche Aufgabe zu bewältigen.«

»Komisch, dass Sie das sagen.« Mauchly meldete sich wieder; er schob das Handy in seine Jackentasche. »Weil es in diesem Gebäude nämlich nur einen Menschen gibt, der mehr darüber weiß als jeder andere. Und er hat gerade darum gebeten, Ihre Bekanntschaft zu machen.«