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15. August 2009, 17:30 Uhr

Okay, vielleicht ist mein Zielvermögen nicht das allerbeste.

»Mist«, sagte mir Holly ins Ohr.

Holly lag auf mir drauf, und ich schlitterte die Dachschräge hinunter. Schon wieder. Genau wie ich zuvor, krallte sie sich jetzt an einem Vorsprung fest und griff dann nach meinem Handgelenk. Ich drehte mich schnell auf den Bauch und versuchte, nach oben zu klettern.

»Ich hatte ja gedacht, Leitern hochzusteigen wäre schon schlimm, aber an einem Ziegeldach zu hängen, und dann auch noch im siebten Stock, das übertrifft alles.« Ich spürte, wie sich mein Brustkorb verkrampfte, und mir wurde klar, dass ich hier auf dem Dach jederzeit in Ohnmacht fallen konnte.

Holly gab mir eine leichte Ohrfeige. »Jackson! Sieh mich an!«

Ich hob den Kopf und starrte sie durch den Regen an. »Ich kann das nicht. Ich brauche …«

»Du kannst es, ich weiß es!« Sie legte eine Hand unter meinen Arm und zog daran, bis ich weiterkletterte.

»Tut mir leid, dass ich nicht über Schaukeln balancieren kann wie du, du verrückte Zirkusartistin«, murmelte ich vor mich hin. Es wurmte mich ein wenig, dass ich ihre Hilfe brauchte.

»Moment mal, wann hast du mich über Schaukeln balancieren sehen?«

»Dein anderes Ich. Die 07er-Holly.«

»Ach so, verstehe … Konnte ich dich 2007 denn überhaupt leiden?«, fragte sie.

»Erst nein, dann doch, dann wieder nein, dann wieder doch.«

»Also war es genau wie dieses Jahr?«, neckte sie mich.

»Könnte sein, dass wir diese Holly gerade eben gesehen haben, nur etwas älter vielleicht.« Ich konnte es immer noch nicht glauben.

»Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, was wir gerade gesehen haben, aber es kann ohne weiteres sein, dass ich in naher Zukunft eine Therapie brauche«, sagte sie.

In dem Moment fiel mir auf, dass wir den höchsten Punkt kurz vor dem flachen Teil des Daches erreicht hatten. Holly hatte mich geschickt von meiner Höhenangst abgelenkt.

»Glaubst du, der fiese Typ ist immer noch hier oben?«, fragte sie.

»Das werden wir gleich wissen.« Meine Wut war größer als die Angst, und ich wollte Thomas eine ordentliche Abreibung verpassen.

Wir kletterten über den Rand. Thomas war noch da. Als er uns bemerkte, grinste er breit.

»Vielleicht springen wir besser noch mal vom Dach«, schlug Holly vor.

Ich schüttelte den Kopf. »Er wird dich nicht anfassen, versprochen.«

»Ich bin beeindruckt! Du bist besser als neunundneunzig Prozent der Zeitreisenden«, sagte er.

Sein Gesichtsausdruck zeigte weder Spott noch Wut, sondern lediglich Erstaunen. Was nicht heißt, dass er uns nicht umbringen würde.

Mit geballten Fäusten ging ich auf ihn zu. »Ich dachte, ihr glaubt nicht an nutzlose Morde. Was, wenn ich den Sprung nicht geschafft hätte?«

»Ja, das arme Mädchen. Aber sie ist verzichtbar. Sie wird immer verzichtbar sein«, erwiderte er emotionslos.

Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich dazu, mich zu konzentrieren. Alles, was ich wollte, war, diesen Typen vom Dach zu werfen und seine Knochen in eine Million Einzelteile zerspringen zu sehen.

Thomas zog eine Pistole und richtete sie auf uns. Holly schnappte nach Luft.

»Ich glaube, es ist zu riskant für mich, wenn ich dich allein irgendwo hingehen lasse. Vielleicht sind ja Leute wie du die eigentliche Gefahr?« Thomas schaute mir ins Gesicht, wie ein neugieriges Kind einen Rollstuhlfahrer begafft. Gefühle waren eine Behinderung. Wahrscheinlich war es das, was er dachte.

Es fiel mir nicht schwer, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen, bevor er reagieren konnte. Ich hörte, wie sie auf den harten Boden des Daches aufschlug und außer Reichweite rutschte. Adrenalin schoss durch meine Adern.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Holly hinter dem Pfeiler in Deckung ging, gegen den sie zuvor gedrückt worden war.

Ich packte ihn vorn am Hemd. »Ohne mich gehst du nirgendwo hin. Versuch’s ruhig, wenn du willst.«

Sein Unterarm traf auf mein Gesicht, und ich fühlte eine Welle des Schmerzes. Mit der Faust schlug er mir in die Magengrube, so dass mir die Luft wegblieb. Ich krümmte mich, und er war wieder frei. Frei, in die Zukunft zu springen und sich den nächsten Schachzug zu überlegen. Ich warf mich nach vorn und schlang die Arme um seine Beine. Eigentlich hatte ich ihn mit dem Gesicht nach unten zu Boden werfen wollen, doch er drehte sich in der Luft und landete wieder auf den Beinen.

Meine Finger konnten sein Fußgelenk kaum noch halten. Aber ich musste mich irgendwie an ihn klammern, damit er nicht ohne mich wegspringen konnte. Mit all meiner Kraft riss ich an seinem Arm. Es gelang mir, ihn zu Boden zu zwingen, so dass er sich nicht mehr herauswinden konnte.

Nun hatte ich ihn niedergerungen und schaute ihm direkt ins Gesicht. Doch ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Nach der Pistole greifen und ihn erschießen? Ich war nicht sicher, ob ich dazu imstande war – aber dann sah ich vor meinem inneren Auge, wie er Holly vom Dach geschleudert hatte, und schon tasteten meine Finger nach der Waffe.

»Na schön, dann machen wir es eben auf deine Art«, sagte er mit einem verschlagenen Grinsen. »Ich hoffe, die Anstrengungen, die meine Art des Springens mit sich bringen kann, machen dir nichts aus. Dein Kopf wird sich anfühlen, als stünde er kurz vor der Explosion – und du wirst dir wünschen, du wärst tot.«

»Jackson, lass ihn los … bitte!«, sagte Holly hinter mir.

Ich schüttelte den Kopf und starrte wieder auf Thomas herunter. »Nein, auf keinen Fall.«

In einer geschmeidigen Bewegung stieß er seinen Kopf mit aller Wucht gegen meine Stirn. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich schloss die Lider. Meine Finger lösten sich, und er nutzte die Gelegenheit, um mir einen Tritt in die Magengrube zu verpassen. Ich flog rückwärts und schlug mit dem Kopf gegen den Pfeiler. Holly schrie auf.

Thomas beugte sich über mich und packte mich. »Du hast es nicht anders gewollt.«

Ich verzog das Gesicht und bereitete mich auf den Schmerz vor, den er so eindringlich beschrieben hatte.

Seine selbstsichere Miene verschwand. »Was … machst du?«

Ich? Ich machte gar nichts, außer mich gegen unerträgliche Schmerzen zu wappnen.

Seine Finger krallten sich fester in mein Hemd, aber er schloss die Augen und verzog das Gesicht. Da kam mir ein Gedanke: Vielleicht konnte er es nicht tun, wenn ich es nicht wollte … oder wenn ich jetzt in diesem Moment hier bleiben wollte?

Ich zögerte nur eine Sekunde, dann raffte ich alle verfügbare Energie zusammen, um ihn wieder zu Boden zu bringen.

Er stieß einen Schmerzensschrei aus – obwohl ich ihn lediglich festhielt.

Bald lag er auf der Seite und rang nach Luft. Ich saß rittlings auf ihm und drückte die Pistolenmündung gegen seine Schläfe.

»Warte! Nicht schießen!«, presste er hervor.

Ich spürte, wie meine Wut wuchs, und drückte die Pistole fester in seine Haut. »Warum denn nicht?«

In diesem Augenblick platzte Dad außer Atem durch die Zugangstür zum Dach. »Jackson, Gott sei Dank!«

Ich drehte meinen Kopf nur für den Bruchteil einer Sekunde, in dem Thomas nach oben griff und mir ein Büschel Haare ausriss. Ich zuckte zurück. »Ist das dein Ernst? Ich halte dir eine Pistole an den Kopf und du reißt mich an den Haaren?«

»Das ist Plan B.« Ich starrte auf das braune Haarbüschel in seiner Hand, und auf seinem Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus.

Mist. DNA.

Dads Schritte konnten mich kaum davon ablenken, die vielen Puzzleteile zusammenzufügen, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden gesammelt hatte.

»Jackson, steh auf. Ich kümmere mich um ihn«, sagte Dad.

»Du weißt es, nicht wahr?« Thomas zog eine Augenbraue hoch.

»Jackson! Steh auf!«, befahl Dad ein weiteres Mal.

Aber ich konnte nur auf meine Haare in der Faust dieses schrecklichen Mannes starren. Sie wollten nicht mich erzeugen, sondern etwas ganz anderes. Etwas noch Besseres. Alles, was sie sich jemals wünschen konnten.

Emily.

Von meiner Handfläche rann der Schweiß meinen Zeigefinger hinab, und er rutschte vom Abzug. Ich konnte Thomas nicht töten. Er durfte nicht sterben. Denn sonst würde sie nicht existieren. Emilys Worte fielen mir wieder ein:

Vertrau dir selbst, dass du die richtige Entscheidung triffst. Das ist nicht so schwer, wie es scheint.

Da wurde mir klar, dass ich die Entscheidung schon getroffen hatte, weil sie zu mir gekommen war. Sie existierte schon. Ob es nun richtig war oder falsch, ich konnte dieses Kind weder ausradieren noch verhindern, dass ihr Leben entstand.

Ich erhob mich von Thomas, allerdings nicht ohne ihm dabei noch einmal ordentlich in den Magen zu treten. Sein lautes Stöhnen bereitete mir eine gewisse Genugtuung. Dad sah mich fragend an, denn ich blockierte seine Schusslinie.

Doch er erhielt keine Gelegenheit, mir eine Frage zu stellen. Raymond, der Schuhabdruck-Typ, der Eileen umgebracht hatte, erschien hinter ihm am Rand des Daches und richtete eine Pistole auf seinen Rücken.

»Dad! Pass auf!« Ich machte einen Satz und stieß Dad genau in dem Moment zur Seite, als der Mann feuerte. Die Kugel traf meinen Arm, doch ich spürte es kaum. Ich sah, wie der Mann von Dads perfekt gezieltem Schuss niedergestreckt wurde und vom Dach stürzte. Sekunden später hörten wir über das Regenprasseln hinweg den Aufprall von Raymonds Körper.

Dad drehte sich schnell nach Thomas um, der inzwischen genau so am Rand des Daches stand wie der andere Mann zuvor.

»Wir sehen uns wieder, Jackson.«

Dann wandte Thomas sich einfach so um und sprang – Millisekunden bevor Dad einen weiteren Schuss abgeben konnte. Seinem Sprung folgte kein Aufprall. Ich wusste, dass er, lange bevor sein Körper unten ankam, verschwunden war. Da ich ihn nicht mehr festhielt, war er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte.

Dad fluchte leise, eilte dann zu mir und zwang mich in eine sitzende Position. »Verflucht, Jackson! Kannst du nicht einmal tun, was ich sage?«

Ich lächelte und lehnte meinen Kopf gegen die Wand. »Immerhin haben wir drei von ihnen gekriegt. Das ist doch schon ein Fortschritt, oder?«

Holly kam aus ihrer Deckung und rannte zu uns. »Mein Gott, du bist getroffen!«

Sie fiel vor mir auf die Knie und fing an, mein Hemd aufzuknöpfen.

»Er wird schon wieder, keine Angst«, sagte Dad.

»Wer hat eigentlich vorhin von unten die blonde Frau erschossen?«, fragte ich ihn.

»Agent Freeman.«

»Er ist entwischt, oder?«, fragte Holly, während sie vorsichtig meinen Arm aus dem Ärmel befreite. »Dieser fiese Typ?«

Ich nickte und kniff angesichts des stechenden Schmerzes in meinem Arm die Augen zu. Dann legte ich meine gesunde Hand an Hollys Wange. Unsere Blicke trafen sich, und ich flüsterte spontan: »Es tut mir leid, Hol … Es tut mir so leid. Das hätte alles nie …«

Sie legte mir ihre Fingerspitzen an die Lippen und schüttelte den Kopf. »Hör auf. Kommt nicht in Frage, dass du dich dafür entschuldigst, dass du mir das Leben gerettet hast. Das ist doch völlig verrückt. Ich hab immer noch keine Ahnung, wie du es geschafft hast, vom Dach und gleichzeitig durch die Zeit zu springen …«

Die letzten Worte ihrer sarkastisch gemeinten Antwort wurden fast von Tränen erstickt. Sie rückte näher und schmiegte ihre Wange an meine.

Ich küsste sie auf den Hals und sagte: »Amor vincit omnia.«

»Latein?«, fragte Holly und legte ihre Stirn an meine. »Was bedeutet das?«

»Liebe besiegt alles«, antwortete Dad, während er einen abgerissenen Fetzen von meinem Hemd auf meine blutende Wunde drückte.

Holly fuhr mit den Lippen über meine Stirn. »Damit kann ich leben.«

Ein paar Minuten später kamen Adam und Melvin aufs Dach gestolpert.

Wieder seufzten wir erleichtert. Aber im tiefsten Inneren wusste ich, dass Dad niemals zugelassen hätte, dass Adam unter seiner Aufsicht etwas zustieß. Holly sprang auf und umarmte ihn.

Er umfasst ihre Schultern. »Warum musste ich mit ansehen, wie du vom Dach gesprungen bist? Ist dir klar, dass mir das Herz stehengeblieben ist?«

Sie sank gegen ihn, und es war nicht zu übersehen, wie sehr dieser Tag sie mitgenommen hatte. Sie schien einer Ohnmacht nahe. Adam setzte sie neben mir auf dem Dach ab, und sie legte sich zusammengerollt an meine unverletzte Seite; sie zitterte, als wären es minus fünf und nicht plus fünfundzwanzig Grad.

Melvin sah mich an und fragte auf Farsi: »Du bist mit ihr zusammen gesprungen?«

»Habt ihr es gesehen?«, fragte ich mit einem Seitenblick zu Dr. Melvin und zu Dad. Beide nickten. »Mir war nicht klar, dass das überhaupt geht.«

»Wir nennen es Dislokation.« Melvin kam näher, und die Intensität seines Blicks machte mir Angst. »Hör mir zu. Ja, du kannst jemanden mitnehmen, wenn du geschickt genug bist. Aber auf den Teil des Gehirns, den du zum Springen benutzt, können normale Menschen gar nicht zugreifen. Wenn du noch einmal mit ihr springen würdest, jetzt zum Beispiel, dann läge das Risiko, sie dabei umzubringen, bei achtzig Prozent. Ein dritter Sprung danach wäre mit einem hundertprozentigen Todesrisiko verbunden.«

Ich schluckte und wünschte mir, ich hätte das gewusst; andererseits hätte das auch nichts geändert. Ich hätte trotzdem versucht, sie um jeden Preis zu retten.

Wir hörten den Lärm eines näherkommenden Hubschraubers. Sein Rotor wirbelte Schmutz auf, und ich schloss die Augen, damit nichts hineinflog. Ich zwang mich dazu, nur an das kleine Mädchen zu denken, dessen Augen voller Tränen gestanden hatten, als sie mich am Strand zurückließ. Wohin auch immer sie zurückgegangen war, es konnte nicht angenehm gewesen sein, und ich musste ihr irgendwie helfen. Obwohl ich nicht wusste, wann wir uns wiederbegegnen würden. Irgendwann in der Zukunft. Das war mein einziger Anhaltspunkt.

Dad hob Holly in seinen Arm, wartete, bis ich in den Hubschrauber eingestiegen war, und setzte sie dann neben mich. Adam half ihm dabei, Holly anzuschnallen. Durch den Lärm des Helikopters wachte sie schließlich auf und schreckte hoch. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Holly nahm meine Hand und legte den Kopf an meine unverletzte Schulter.

Sobald wir in der Luft waren, blickte ich auf das Hotel hinunter. Während ich durch die Zeit gereist und auf dem Dach herumgeklettert war, war ein ganzer Flügel des Gebäudes eingestürzt. Überall standen Feuerwehrautos und Rettungswagen.

Einer der Sanitäter legte einen Zugang in mein Handgelenk – und das schneller, als ich es angesichts des kurvenreichen Fluges für möglich gehalten hätte. Was auch immer er in meine Adern laufen ließ, linderte den Schmerz und vernebelte mir das Hirn. Bevor ich einnickte, fielen mir Thomas’ Worte wieder ein: »Sie ist verzichtbar. Sie wird immer verzichtbar sein.«

Holly würde sich niemals in Sicherheit befinden. Nicht, solange sie mich kannte. Der Schmerz kam zurück, stärker als vorher, aber es war eine andere Art von Schmerz. Die schlimmste Art.


»Du hattest ganz schön Glück. Das ist eine der saubersten Schusswunden, die ich je gesehen habe«, wiederholte der Assistenzarzt, der mich nähte, zum zehnten Mal.

»Ja.«

»Braucht er eine Armschlinge?«, fragte Dad.

»Zumindest ein paar Tage«, sagte der Arzt. »Aber spätestens in einer Stunde sind wir hier fertig.«

»Wie spät ist es?«, wollte ich von Dad wissen.

Wir waren schon die ganze Nacht da. Nur, dass ich unter Narkose stand, und Holly und Adam längst sicher nach Hause gebracht worden waren.

Er schaute auf seine Uhr. »Acht. Ich hab Holly versprochen, dass du sie anrufst, wenn du aufwachst.«

Ich nickte langsam. Sorge und Angst kamen zurück. Ich wartete, bis der Arzt mit dem Nähen fertig war und mir einen Verband angelegt hatte. Dann antwortete ich: »Ich … ich weiß nicht, ob das gut ist.«

Dad stand auf und spähte um den Vorhang herum. Der Arzt schlenderte durch den Flur von uns weg. Dad setzte sich auf das Fußende meines Bettes und fragte leise: »Hat er damit gedroht, ihr etwas anzutun? Thomas, meine ich?«

»Nicht ausdrücklich, aber ich weiß, dass er alles tun wird, um mich zu kriegen.« Ich hatte Dad noch nichts von meiner DNA-Theorie erzählt und hatte auch nicht vor, irgendwem davon zu erzählen. Nicht nur, weil Emily mich darum gebeten hatte. Die CIA würde versuchen, dieses Experiment zu stoppen, aber ich hatte schon so große Opfer gebracht, damit es stattfinden konnte. Ich hatte Thomas fliehen lassen, wahrscheinlich aus lauter falschen Gründen. Aber ich war nicht wie Chief Marshall. Jetzt, wo ich all die Details kannte, konnte ich nicht immer auf den größeren Zusammenhang Rücksicht nehmen.

»Wir könnten den Schutz, den wir jetzt haben, verdoppeln …«

Dad hielt inne, als ich den Kopf schüttelte. »Das wird nicht reichen. Du hast doch gesehen, wie sie einfach auftauchen und wieder verschwinden. Davon können wir sie nicht abhalten. Nicht für alle Ewigkeit.«

»Aber wenn du dich von Holly fernhältst, haben sie kein Interesse daran, ihr zu schaden oder sie umzubringen. Denk daran, was ich dir gesagt habe: Sie töten aus Prinzip nur um der Macht willen. Sie werden nicht verstehen, was für ein Opfer du damit bringst. Aber sie werden begreifen, dass sie dich nicht mehr mit Holly erpressen können.«

Ich hörte die Verzweiflung in seiner Stimme. Das war die Entscheidung, die ich treffen sollte. Es war die Entscheidung, die er in Bezug auf Eileen getroffen hätte. Er hätte sie in Sicherheit leben lassen, aber selbst in ihrem Leben keine Rolle gespielt. Das ist wahre Liebe. Aber was, wenn ich nicht so stark war wie Dad?

»Es ist schwer, allein zu sein, nicht wahr?«, fragte er.

Ich starrte auf meine Hände und nickte. »Allerdings.«

»Aber wenn das nötig ist, damit sie leben kann …«, suggerierte Dad.

»Ich weiß.«

Wie sollte ich es ihr erklären? Mit einer unheilbaren Krankheit? Nein, dann würde sie meine Hand halten und sich darauf einstellen, mich beim Sterben zu begleiten. Sollte ich ihr sagen, dass ich sie niemals wirklich geliebt hätte? Allein der Gedanke an das Gesicht, das sie machen würde, wenn ich ihr das erzählte, war schlimmer als eine weitere Schusswunde.

Aber hatte ich eine andere Wahl?

Kurz darauf wurde ich von den Ärzten entlassen, und Dad und ich nahmen ein Taxi nach Hause. Als wir vor unserem Haus hielten, stieg ich zuerst aus und erklärte, dass ich einen Spaziergang machen wolle. Meinen Arm trug ich in einer Schlinge, und ich hatte immer noch die Schmerzmittel im Blut. Deshalb ging ich nur ein kurzes Stück und ließ mich dann auf eine schattige Bank fallen.

»Du brauchst es ihr nicht einmal zu sagen.«

Ich blickte auf. Dad stand vor mir.

»Ich soll einfach so verschwinden und kein Wort sagen?«

Er setzte sich zu mir. »Ich weiß, was du jetzt denkst: Entweder du bleibst rund um die Uhr an ihrer Seite oder du brichst ihr das Herz. Aber ich glaube, es gibt einen Kompromiss.«

Verzweifelt auf der Suche nach irgendeinem Ausweg sah ich ihn an. »Und zwar?«

Dad holte tief Luft. »Du darfst Melvin oder Marshall niemals davon erzählen. Auch sonst niemandem.«

Er griff in seine Tasche und überreichte mir eine winzige Speicherkarte. Ich betrachtete sie von allen Seiten. »Und?«

»Adam Silverman ist nicht der Einzige, der einen eigenen Geheimcode hat.«

»Ich verstehe immer noch nicht.«

Dad suchte unsere Umgebung schnell mit Blicken ab, bevor er fortfuhr: »Das ist für mich. Ich möchte mein etwas jüngeres Ich über die Ereignisse der letzten Tage ins Bild setzen. Denk daran, wie deine Zeitleiste funktioniert. Überleg mal. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Holly dich nicht mal kannte. Und wenn sie dich nicht kennt …«

Ich starrte ihn an. Mir fehlten die Worte. Sein Plan war wie ein schweres Gewicht, das auf meiner Brust lastete. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich meine Homebase überhaupt noch einmal verlegen kann.«

Er nickte. »In sehr wichtigen Momenten hast du es geschafft. Das ist ganz und gar deine Entscheidung. Aber ich verstehe, wie das ist – jemanden zu verlieren, der einem so nahe steht.«

Mein Handy lag neben mir auf der Bank. Dad nahm es und legte es mir langsam in die Hand. »Ruf sie an, aber verabschiede dich nicht. Dann hat sie nur positive Gefühle.«

Er ging ein paar Schritte weg, und ich klappte mein Telefon auf. Ich starrte auf das Foto von Holly und mir am Strand, das nur wenige Tage alt war. Meine Kehle schnürte sich zu, während ich ihre Nummer wählte. Es klingelte ein paarmal, ehe sie ranging.

»Hey, bleibt es dabei, dass du vorbeikommst?«, fragte sie.

Ich zwang mich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ja, klar. Ich fahr jetzt los. Bin gleich da.«

Sie seufzte erleichtert. »O toll!«

Es tat ungeheuer weh, dieses kleine Quäntchen Vorfreude und Sehnsucht in ihrer Stimme zu hören. Ich musste mich räuspern, bevor ich weitersprechen konnte. Dann richtete ich meinen Blick auf die Bäume vor mir und konzentrierte mich darauf, was ich mir für ihr Leben wünschte. Darauf, dass Hollys Leben lang und glücklich sein sollte. »Hol?«

»Ja?«

»Ich liebe dich.«

Mir traten Tränen in die Augen, aber ich konnte ihr Lächeln praktisch durchs Telefon hören. »Ich liebe dich auch. Bis gleich!«

Nicht, wenn es nach mir geht. »Tschüs, Holly.«

Ich schloss die Augen und versuchte einen vollen Sprung zurück zu einem der wichtigsten Tage meines Lebens. Sofort spürte ich, wie das Gewicht meines Körpers mir folgte, und ich wusste, dass Dad recht hatte. Ich konnte es.

Sturz in die Zeit: Roman
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