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15. August 2009, 15:30 Uhr

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, doch das Unwetter war noch schlimmer geworden. Regen peitschte mir ins Gesicht. Emily hielt mich weiter umklammert. Sie hatte ihr Gesicht an meinem Körper vergraben, doch ich spürte, dass sie zitterte. Wie ich auch. Ich versuchte, sie abzusetzen, aber sie ließ mich nicht los. Ihr Zittern verwandelte sich in ein Schluchzen. Ich drückte sie an mich; ganz gleich aus welchem Jahr sie kam, in der Zukunft schienen wir uns offenbar vertraut zu sein.

Schließlich ließ sie mich los und atmete tief durch. »Ich wusste nicht, dass es … so sein würde.«

»Alles in Ordnung?«, fragte ich.

Sie nickte und griff wieder nach der Stange. »Besonders gut gezielt hab ich wohl nicht gerade, was?«

»Wolltest du mitten in einem gewaltigen Unwetter auf einem Schwimmdock landen?«

»Nein, aber es ändert sich immer alles. Manchmal ist es schwierig, es richtig hinzubekommen.«

Der Sturm frischte wieder auf und ließ das Dock schwanken. Mir drehte sich der Magen um. Ich hielt mich oberhalb ihrer Hand an dem Pfosten fest und versuchte das inzwischen entfernte Boot mit den Augen zu fixieren.

»Ich muss zurückschwimmen«, sagte ich und zeigte zum Ufer.

»Ich auch.« Ein Donnerschlag übertönte sie, und sie zuckte zusammen.

»Kannst du nicht einfach springen? Ich meine – in einen andern Tag?«

Sie schüttelte den Kopf; Wassertropfen spritzten in alle Richtungen. »Nein, sie sollen sehen, wie wir zurückschwimmen, dann erst springe ich. Du darfst keinem von mir erzählen. Davon, was ich kann. Ich bin bloß das Mädchen, das du aus dem Sturm gerettet hast, okay?«

Das war der Grund, weshalb sie einen Halbsprung gemacht hatte: damit jeder uns hier sah. Allerdings bezweifelte ich, dass überhaupt jemand so weit schauen konnte. »Und was passiert dann?«

»Du musst mich auf jeden Fall gehen lassen, versprichst du mir das?« Ihr Gesicht wurde von einem Blitz rosa und blau erleuchtet, und ich sah, dass sie bereits bezweifelte, dass ich von einem kleinen Mädchen Anweisungen entgegennehmen würde.

»Du hast mich in die Zukunft gebracht. Heißt das … Bist du überhaupt schon geboren worden?«, fragte ich.

»Das kann ich dir nicht sagen.«

Ich kniete mich vor sie und schaute ihr direkt in die Augen. »Wie alt bist du?«

»Elf.«

»Kennst du Dr. Melvin?«

Ich schaute sie eindringlich an, doch sie zeigte keinerlei Nervosität. »Ich habe von ihm gehört.«

»Dann ist er nicht der Grund dafür, dass du existierst?«

Ihre Widerstandskräfte ließen nach, und sie trat einen Schritt zurück. »Wir müssen los.«

Ich ergriff ihre Hand. »Noch nicht.«

»Du hast mir gesagt, ich soll keine Fragen beantworten. Jedenfalls nicht viele«, schrie sie mir über den nächsten Donnerschlag hinweg zu.

»Das war mein anderes Ich. Dieser Typ ist irgendwie – total alt, oder? Kein Mensch hört auf ihn.«

»Ach, echt? Heißt das, du traust deinem zukünftigen Ich nicht, obwohl es doch offensichtlich mehr weiß als du?«

Ich wusste, dass sie recht hatte. Es wäre verantwortungslos gewesen, etwas aus ihr herauspressen zu wollen. »Tut mir leid. Es ist nur … es gibt in der Gegenwart etwas, was passieren könnte, was ich aber auf jeden Fall verhindern muss. Ich kann an nichts anderes denken.«

»Ich weiß, dass du das Gefühl hast, du müsstest alles ändern oder in Ordnung bringen, aber denk nicht zu viel nach. Vertrau dir selbst, dass du die richtige Entscheidung triffst. Das ist nicht so schwer, wie es scheint.« Sie wies aufs Ufer. »Wir müssen los.«

Wir sprangen beide ins Wasser, und ich half Emily, an meiner Seite zu bleiben. Die Wellen schwappten über unsere Köpfe, doch wir schafften es ans Ufer und liefen dann das restliche Stück am Strand entlang. Ich nickte in Richtung des Hotels. »Lauf einfach in diese Richtung; ich sage den anderen, du wärst schon reingegangen, okay?«

Sie begann sich abzuwenden, zögerte aber einen Augenblick. Dann legte sie, ohne mich anzusehen, ihre Arme um meine Hüfte und drückte mich fest. »Wiedersehen, Jackson … Alles Gute!«

Ich blickte ihr nach, während sie auf einen der Seiteneingänge zulief, und spürte eine gewaltige Last auf meinen Schultern. Es ging nicht nur darum, Holly zu retten. Da hing mehr dran. Viel mehr. Kein Wunder, dass Dad mich von all dem fernhalten wollte.

Zu spät.

Ich wandte mich ab und trabte zum Hafen. Adam, Holly und Freeman kamen mir bereits entgegen.

»Alles in Ordnung mit dem Mädchen?«, fragte Adam.

»Ja, sie ist schon im Hotel«, gab ich zurück und vermied weitere Nachfragen durch einen schnellen Themenwechsel. »Wo ist Dad?«, fragte ich Freeman.

»Drüben beim Haupteingang.«

Holly schlang ihre Arme um mich, und ich umarmte sie auch. Dann zeigte ich auf das Hotel. »Wollen wir reingehen?«

Alle rannten los. Dad ließ uns ein, und kaum dass wir die Lobby betraten, schlug uns die Kühle der klimatisierten Luft entgegen. Wir waren tropfnass, unsere Schuhe quietschten auf dem Marmorboden, und doch blieben alle um uns herum völlig ruhig und gelassen. Es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, nicht dem gesamten Hotel das Ende der Welt anzukündigen. Nicht einmal Tempest konnte ich erzählen, was ich gesehen hatte, ohne Emily zu verraten.

Dad wies mit dem Kinn in Richtung eines Flurs zu unserer Rechten, und wir folgten ihm. Ich hielt den Atem an, als ich sah, dass er seine Pistole zog; Freeman tat es ihm nach.

»Was ist los?«, fragte Holly.

»Sie sind hier«, sagte Freeman.

»Was wollen sie denn?« fragte Adam verzweifelt.

»Jackson«, antwortete Dad. »Das nimmt Melvin zumindest an. Möglicherweise, um das Experiment zu wiederholen. Wir halten sie jetzt schon seit einigen Monaten fern. Vor zwei Jahren habe ich sie, entgegen Marshalls Befehlen, näher herankommen lassen, damit sie sehen konnten, dass du über keine besonderen Fähigkeiten verfügst.«

»Vielleicht wollen sie mich ja trotzdem umbringen, für alle Fälle?«, fragte ich.

»Sie morden nicht grundlos. Nur um Macht zu gewinnen«, erklärte Freeman. Er spähte um eine Ecke und ließ uns dann nachkommen.

»Macht wozu?«, fragte Holly.

»Sie glauben, die Welt wäre besser, wenn wir alle so wären wie sie«, antwortete Dad. »Tempest dagegen meint, dass Zeitreisen für die Massen zu einem riesigen Chaos führen würden.«

»Auf jeden Fall«, bekräftigte Adam.

»Dr. Ludwig ist auf ihrer Seite«, fügte ich hinzu. »Mit dem ganzen Klonen und all dem.«

»Sie glauben, dass Melvin eine Armee aufbaut.« Dad wandte sich mir zu. »Mach jetzt keine Dummheiten, Jackson. Versuch, dicht bei uns zu bleiben und dich von ihnen fernzuhalten. Freeman und ich haben das schon oft gemacht. Wir können damit umgehen.«

In der Mitte des Flurs blieb Freeman wie angewurzelt stehen. Ungefähr zwanzig Zimmer weiter erschienen plötzlich eine blonde Frau und der Mann namens Raymond aus dem Nichts.

Der Mann, der Eileen umgebracht hatte. Unvorstellbar, was in Dad vorgehen musste, wenn er ihm wieder und wieder begegnete.

»O Mann, ist das gruselig«, murmelte Holly. »Irgendwie hab ich euch diese ganze Zeitreisen-Geschichte ja nicht abgenommen … Aber jetzt bin ich überzeugt.«

Dad schob mich hinter sich, und ich tat das Gleiche mit Holly.

»Was zum Teufel sollen wir machen, wenn die einfach auftauchen und wieder verschwinden?« In Adams Stimme schwang Furcht mit.

»Allzu oft können sie es nicht machen, glauben Sie mir«, beruhigte Dad.

»Außer Thomas«, murmelte Freeman.

Schon wieder dieser Thomas. In wichtigen Momenten fiel immer sein Name.

Holly schrie auf, als Freeman auf die beiden schoss. Sie feuerten zurück, und ich versuchte, Holly noch besser durch meinen Körper zu schützen. Wenn sie einfach so auftauchen und wieder verschwinden konnten, würde ich Holly keine Sekunde mehr aus den Augen lassen.

Da stieß Adam einen Warnruf aus. Ein weiterer Mann war direkt hinter uns aufgetaucht.

Die ersten beiden Feinde der Zeit rannten weg. Ich riss Holly vor mich, während wir vor dem Mann hinter uns davonliefen und hinter den anderen her. Freeman folgte ihnen durch zwei Türen in einen großen Speisesaal, wo sich eine Hochzeitsgesellschaft aufhielt. Sobald wir mit unseren Pistolen hereinplatzten, gellten Schreie, und alle rannten um ihr Leben.

In dem Gebäude wimmelte es von Unbeteiligten, die in Sicherheit gebracht werden mussten. Und zwar schnell. Ich suchte mit den Augen die Wände ab und erspähte etwas, das bei der Evakuierung helfen würde.

»Drück den Feueralarm!«, rief ich Holly zu.

Sie rannte zur Wand hinter uns und schlug mit dem Ellbogen das Glas des Feuermelders ein. Die Sirene heulte auf. Aus den Sprinklern an der Decke begann es zu regnen. Die Schreie mehrten sich, aber nach etwa dreißig Sekunden war der Saal leer. Auf allen Tischen standen Kristallgläser, und in der Mitte der Tanzfläche befand sich ein Konzertflügel. Nicht gerade der beste Ort für einen Schusswechsel.

Der Schuhabdruck-Typ, auch Raymond genannt, sprang auf den Flügel und zielte mit seiner Pistole direkt auf Freeman. Holly schnappte nach Luft. Wir beide sahen, wie Freeman seine Waffe ein paar Meter von sich weg warf und die Hände hob. Doch schon ungefähr zwei Sekunden, nachdem Freeman sich ergeben hatte, griff Dad Raymond von hinten an. Er trat ihn mit solcher Wucht, dass Raymond auf den Tisch hinter dem Flügel krachte und auf dem Rücken weiterrutschte. Teller und Bestecke flogen in alle Richtungen.

Der andere Mann sprang plötzlich aus zehn Metern Entfernung direkt hinter mich. Ich wich zur Seite aus, schnappte einen Stuhl von einem der Tische und warf ihn dem Mann in den Weg. Er stolperte darüber, rappelte sich aber sofort wieder auf.

Die blonde Frau feuerte in die Decke, und Holly schrie wieder auf, als der riesige Kristalllüster zerschmettert wurde. Glasscherben flogen durch die Luft, und Holly suchte Deckung unter einem Tisch. Ich folgte ihr und zog sie an mich. Ich spürte, dass ihr Herz noch heftiger raste als mein eigenes.

»Bleib bei mir, okay?«, sagte ich. »Lauf bloß nicht weg.«

Sie nickte.

Dads Füße rannten vorbei, dann die der Frau. Ich zielte mit meiner Pistole auf ihre Beine, doch sie lief zu dicht hinter Dad, als dass ich einen Schuss hätte riskieren können. Holly griff einfach nach dem Knöchel der Frau, und sie fiel der Länge nach hin. Adrenalin durchströmte mich. Ich rollte unter dem Tisch hervor, stand auf, stellte meinen Fuß auf den Rücken der Frau und zielte auf ihren Kopf.

»Nein, Jackson! Fass sie nicht an!«, rief Dad, doch ich begriff zu spät, warum.

Das Letzte, was ich sah, war Dad, wie er Adam zu Boden riss, während über ihre Köpfe eine Kugel hinwegpfiff.

Der Saal löste sich auf, und ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wo es hinging.

Sturz in die Zeit: Roman
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