35
Das Erste, was mir auffiel, war die Stille. Kein Regenplätschern oder Donnern. Ich schlug die Augen auf und blickte mich um.
»Ist das eine U-Bahn-Station?«, fragte ich.
»Ja, aber hier ist niemand«, antwortete das Mädchen in einem förmlichen, erwachsen wirkenden Tonfall.
Ich kniete mich wieder vor sie hin und sah sie an. Sie war zart und dünn, sah Courtney aber sehr ähnlich. Sie wandte sich mir zu und schaute mich an. Ihre Augen waren blau, nicht grün.
»Warte mal … Ich hab dich schon mal gesehen, oder? Im Zoo?«
Sie wischte sich einen Wassertropfen von der Nase. »Ja.«
»Wer bist du?«, fragte ich.
»Ich bin wie du.«
»Wie heißt du?« Halb in der Erwartung, dass jeden Moment ein Zug durchraste, blickte ich mich in der leeren U-Bahn-Station um.
»Emily«, antwortete sie.
»Und du bist genau wie ich?«
Sie schüttelte den Kopf. »Fast, aber nicht genau so.«
»Also bist du wie die anderen?« Ich trat ein Stück von ihr weg. Mir fiel das plötzlich verschwundene Kind wieder ein, das ich in der Nacht davor im Hotel hatte herumlaufen sehen. Es hatte zwei Jahre jünger ausgesehen.
»Fast, aber nicht genau so«, wiederholte sie und lächelte ein wenig.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich bin eingeschlafen, nicht wahr? Oder hab ich mir den Kopf gestoßen? Du siehst genauso aus wie meine Schwester.«
»Wir sehen alle gleich aus. Die meisten von uns. Das gleiche Erbgut, verstehst du?«
»Ach so … ja dann«, sagte ich.
Emily streckte mir ihre kleine Hand entgegen. »Komm mit.«
»Warum?« Aber ich ergriff ihre Hand trotzdem.
»Ich muss dir etwas zeigen.«
Sie führte mich zu einer Treppe, die vermutlich zur Straße hinaufführte. Mit der freien Hand zog ich meine Pistole. »Was weißt du?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich tu dir nichts.«
»Ich mache mir nicht deinetwegen Sorgen, sondern wegen dem, der dich zu mir geschickt hat.«
»Mich hat niemand geschickt.« Dann lächelte sie mich an. »Um genau zu sein, du hast mich geschickt.«
Ich stutzte und blieb wie angewurzelt vor der Treppe stehen. Dann beugte ich meine Knie, bis wir uns auf Augenhöhe befanden. Beim Blick in ihre tiefgründigen blauen Augen vergaß ich, was ich fragen wollte. »Du hast meine Augen …«
Sie lächelte wieder. »Ja.«
»Warum? Wie?«
Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen. Bitte lass mich dir etwas zeigen.«
Doch bevor sie die erste Stufe nahm, drehte sie sich noch einmal um. »Das hätte ich fast vergessen.« Sie griff in ihre Tasche und legte etwas in meine Hand. »Das soll ich dir geben.«
Ich starrte auf den winzigen Gegenstand in meiner Handfläche. Ein Diamantring glitzerte im Neonlicht des U-Bahnhofs. Ich drehte den Ring in meiner Hand und dachte, dass er eine Bedeutung über das hinaus haben musste, was ich Holly gerade heute gefragt hatte. Aber unabhängig davon hatte diese andere Version von mir ein miserables Timing. Es war ja wohl kaum notwendig, mich in einer Parallelzeit in eine U-Bahn-Station zu zerren, bloß um mir einen Ring zu geben, noch dazu mitten in einem Unwetter, das uns beinahe umgebracht hatte.
Ich folgte Emily die Treppe hinauf und bemerkte Lichteinfall von oben. Es war Tag. »Ist das New York?«
»Ja.«
Oben angekommen erwartete ich, den vertrauten Lärm der Stadt zu hören: Hupen, Motorengeräusche, Handy-Telefonate der Passanten. Doch es war still. Wir traten ins Freie, und ich schaute mich mit offenem Mund um.
Das war New York – aber so hatte ich es noch nie gesehen. Ein paar Gebäude standen noch, aber sie waren von beigem Staub bedeckt, der vermutlich vom Einsturz der umliegenden Gebäude stammte.
Meine Knie drohten nachzugeben. Das war meine Heimat, der Ort, an dem ich aufgewachsen war. Aber niemand war da. Nichts. Ich drehte mich langsam um mich selbst und erblickte Straßen, die so dicht mit Trümmern übersät waren, dass ich den Asphalt darunter nicht sehen konnte.
Als Emily neben mir hustete, schreckte ich auf und bemerkte, dass ich auch hustete. Alles über der Erde war von bräunlichem Schutt bedeckt. Kein Wunder, dass wir an der Luft beinahe erstickten.
»Emily, ist das … die Zukunft?«, fragte ich. Die Vergangenheit konnte es nicht sein, jedenfalls keine Vergangenheit, die ich im Geschichtsunterricht durchgenommen hatte.
»Ja«, keuchte sie.
»Was ist passiert? Welches Jahr haben wir?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Aber wie ist das passiert? Gab es einen Krieg … oder etwas anderes?«
»Soweit ich weiß, versuchen … einige Leute, das hier zu verhindern, und andere wollen unbedingt erreichen, dass es passiert.«
Ich sah sie lange prüfend an und kam zu dem Schluss, dass sie die Wahrheit sagte. Es war also nicht nur ein Bandenkrieg. Dieser Ort, dieses Jahr waren furchtbar. Irgendjemand musste diese Zerstörung verhindern.
»Ich … ich habe mich bei einem Sprung noch nie außerhalb der Spanne meines eigenen Lebens bewegt«, sagte ich.
»Es liegt daran, dass ich bei dir bin«, brachte sie hustend hervor.
»Du bist anders als ich, das habe ich verstanden. Aber wie unterscheidest du dich von denen?«
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und wischte sich den Staub ab. »Ich habe alles, was sie sich wünschen.«
Das schien sie nicht gerade mit Befriedigung zu erfüllen.
Aus der Ferne vernahm ich Bellen. Das erste Geräusch, seit wir hier angekommen waren. Augenblicke später schoss ein Rudel brauner Hunde mit schnappenden Kiefern um die Ecke. Emily und ich drückten uns mit dem Rücken an ein Gebäude, und sie nahm meine Hand. Ich rechnete damit, dass wir zurückspringen würden, aber sie stand nur wie angewurzelt da.
»Emily, wir müssen springen!«
Sie schloss kurz die Augen, und ich merkte, dass sie es versuchte, doch es passierte nichts. »O nein … Ich habe einen Fehler gemacht. Die dürften eigentlich gar nicht hier sein!«
Ihre Augen waren monströs weit aufgerissen, aber die Hunde drehten plötzlich ab und verschwanden in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ich hatte knapp eine halbe Sekunde, um erleichtert aufzuatmen, da tauchten hinter derselben Ecke drei Männer auf.
Zumindest nahm ich an, dass es sich um Männer handelte. Sie hatten alle kahlrasierte Schädel und Gesichter ohne besondere Merkmale. Ihre Augen waren fast ganz weiß und ihre Haut praktisch durchsichtig. Man konnte die blauen und roten Adern unter ihrer Haut klar erkennen, als fehlten ein paar Schichten.
»Er hatte recht! Ich glaub’s ja nicht!«, triumphierte einer von ihnen.
Die Wut und die Rachegelüste, die die drei Männer ausstrahlten, ließen keinen Zweifel daran, dass sie nicht hier waren, um ein nettes Schwätzchen zu halten.
Emily rührte sich immer noch nicht, aber aus irgendeinem Grund befahl mir mein Instinkt, die Flucht anzutreten. Ich riss an ihrem Arm und zog sie vor mich. Wir rannten an der Seite des verfallenen Gebäudes entlang. Das hier war Panik der schlimmsten Sorte, und diesmal gab es keine Chance, dass mein Vater auftauchte und mich rettete, wie er es auf dem Boot getan hatte.
Der Rhythmus meiner Schritte war genauso schnell wie mein Herzrasen. Emily rannte mit wehenden Haaren neben mir her, und wir wirbelten noch mehr Schmutz vom Boden auf, der in meinen Augen und meinem Mund landete.
Sie warf mir angstvoll einen Blick zu. »Jackson, wegrennen nützt nichts. Wir müssen …«
Wir legten eine Vollbremsung hin, denn die drei Männer erschienen wie von Zauberhand direkt vor uns.
»Ich muss mich wundern, dass ihr überhaupt versucht, wegzurennen«, höhnte einer der Männer. »Warum weglaufen, wenn ihr doch springen könnt?«
Emily machte einen Schritt nach hinten, und ich schob sie zwischen mich und das Gebäude. Ihr heftiges Atmen zeigte mir ihre große Angst. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie uns nicht hier rausbringen konnte.
Vor meinem geistigen Auge ging ich wieder und wieder Jenni Stewarts Diagramme durch. Doch es war, als ob der Rest von mir einfach wusste, was zu tun war – ohne darüber nachzudenken.
Einer der Angreifer machte einen Satz auf Emily zu. Als er sie fast erreicht hatte, trat ich ihm mit voller Wucht in die Magengrube, und er flog zurück. Sein Kopf knallte mit einem fiesen Geräusch auf den Bürgersteig. Dem zweiten Mann, der mich von der Seite angriff, rammte ich meinen Ellbogen ins Gesicht. Er taumelte rückwärts. In dem Moment gaben Emilys Beine nach, und sie rutschte an der Wand herunter.
»Kann ich es?«, fragte ich sie in höchster Anspannung. »Kann ich uns beide zurückspringen, wenn wir in der Zukunft sind?«
Sie sah mich mit ihren großen Augen an. Gerade wollte sie zu einer Antwort ansetzen, da schrie sie auf. »Jackson, pass auf!«
Der dritte Typ umklammerte von hinten meine Kehle. Ich hebelte sein Gewicht über meine Schulter und knallte ihn auf den Boden. Er schrie vor Schmerzen. Schnell zog ich Emily an den Armen vom Boden hoch, und sie hielt sich an mir fest und drückte ihr Gesicht in mein Hemd. Sie versuchte, alles auszublenden, um uns verdammt nochmal von dort wegzubringen. Nie hatte ich mich derart über das unangenehme Gefühl eines Halbsprungs gefreut wie in diesem Moment.