21
Freitag, 12. Oktober 2007, 10:00 Uhr
Menschenmassen schoben sich an mir vorbei, während ich vor den bunten Glasfenstern im Metropolitan Museum wartete. So langsam wurde ich stinksauer auf Adam. Schließlich hatte er mich morgens um drei mit einer SMS geweckt, in der stand: Treffen uns um halb zehn im Metropolitan … großes Physik-Experiment … supergeheim … Physik-Freaks sind doch unschlagbar!
»Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, dich zu finden, wenn du eine Kappe aufhast?!«
Ich wirbelte herum und stand direkt vor jemandem, der definitiv nicht Adam war. »Holly? Was machst du denn hier?«
»Eine Exkursion«, antwortete sie grinsend, dann suchten ihre Augen hektisch den Raum ab. »Aber ich drücke mich, und du wirst mein Komplize sein.«
Ich muss total verwirrt ausgesehen haben, denn sie lachte.
»Ich kann nicht, ich bin mit Adam verabredet.«
Holly schüttelte den Kopf. »Adam schnarcht gerade in seiner Mathestunde.«
»Nein, tut er nicht. Er hat mich hierher bestellt«, sagte ich noch verwirrter.
Plötzlich riss sie erschrocken die Augen auf und zog mich hinter eine Statue. »Tut mir leid, aber Mr Orman, mein Schauspiellehrer, hat gerade genau in unsere Richtung geguckt.« Sie schaute wieder mich an und errötete leicht. »Adam hat dir keine SMS geschickt. Das war ich.«
Das wiederum erschreckte mich, und nicht zu knapp. Holly hatte dieses spontane Treffen angesetzt? »Du hast mir nachts um drei eine SMS von Adams Handy geschickt?«
»Äh, ja«, sagte sie. »Er hat mir beim Lernen geholfen, und dann stellte sich heraus, dass es die ganze Nacht dauern würde. Aber er ist eingeschlafen, und dann fiel mir wieder ein, dass du gesagt hast, der Central Park wäre dein Lieblingsort …«
Wenn sie die Holly von 2009 gewesen wäre, hätte ich sie auf der Stelle geküsst. Aber sie war nicht die 09-er Holly, also löcherte ich sie sofort mit weiteren Fragen, um die plötzlich einsetzende peinliche Stille zu füllen. »Deine paranoide Mutter hat dir erlaubt, bei Adam zu übernachten? Und hast du keine Angst, dass du Ärger kriegst, wenn du dich einfach so wegschleichst?«
Sie verdrehte die Augen. »Ich hab ihr erzählt, dass ich bei Jana schlafe. Außerdem haben wir ja bloß gelernt. Und Mom erlaubt mir nie, allein nach New York zu fahren. Das ist also meine einzige Chance. Kommst du jetzt mit, oder nicht?«
Ich sah, wie sie auf den Ausgang zusteuerte, und musste grinsen. »Ich bin dabei.«
Sie warf einen Blick zurück und lächelte. »Ich war mir sicher, du merkst, dass die SMS von mir ist.«
Ich lachte. »Der ›Physik-Freaks sind doch unschlagbar‹-Teil hätte mich stutzig machen sollen, aber ich dachte, er hätte vielleicht was getrunken.«
Holly wirbelte herum und kam über den Gehsteig auf mich zu. »Das ist so geil. Ich fasse es nicht, dass ich das hingekriegt habe. Toby springt für mich ein, und Mr Orman fährt nicht mal im Bus mit uns zurück. Ich hab also den ganzen Tag Zeit.«
»Du solltest als Spionin oder Detektivin arbeiten«, neckte ich sie.
Sie seufzte. »Ja, schön wär’s. Aber ich müsste definitiv besser in Fremdsprachen sein, wenn ich Spionin werden wollte.«
Wir liefen außen um das Museum herum und durch die Unterführung in den Central Park. Ich nahm ihr die Tasche von der Schulter und hängte sie über meine. »Mann, ist die schwer. Was hast du denn da drin?«
»Eine Decke und drei verschiedene Bücher, für den Fall, dass mir danach ist, in der Sonne zu liegen und stundenlang zu lesen«, sagte sie. »Oh … und jede Menge Naschzeug.«
»Klingt so, als hättest du das wirklich geplant. Wie hab ich es denn geschafft, mir die Rolle des Komplizen zu verdienen?«
Sie lachte, hielt ihre Augen aber auf die Bäume vor uns gerichtet. »Na ja, ich dachte mir, wenn ich jemanden mitschleife, ist es vielleicht schlauer, jemanden zu nehmen, der dafür nicht die Schule schwänzen muss.«
»Oh … meine Qualitäten als cooler, rebellischer Typ spielten also keine Rolle?«
Sie grinste breit. »Doch, die natürlich auch.«
In der Nähe eines Spielplatzes fanden wir einen schönen Platz im Gras. Rechts neben den Schaukeln breitete Holly ihre Decke aus.
»Früher stand in unserem Garten auch so eine Schaukel, aber zum Schaukeln hab ich sie fast nie benutzt.«
»Was hast du denn dann damit gemacht?«, fragte ich.
»Schau mal zu.« Sie kletterte seitlich an dem roten Metallpfosten hoch und hangelte sich an der Querstange entlang. Dann schob sie ihr Kinn bis zur Stange hoch, schwang ihren Körper darüber und plötzlich war ihr Oberkörper über der Stange und ihre Beine baumelten herab.
»Super, lass mich auch mal probieren.«
»Nur zu.«
Ich machte einen Klimmzug, wie sie es gemacht hatte, und schwang meinen Körper über die Stange. »Nicht so schwer, wie ich gedacht hatte.«
»Du bist ganz schön gut. Du solltest dir von Toby mal ein paar Sachen am Reck zeigen lassen.«
Ich sprang zurück ins Gras und erwartete, dass Holly dasselbe tat. Doch stattdessen schwang sie ein Bein über die Stange und kam seitlich darauf zum Stehen.
»Holly, ich glaube nicht …«
»Entspann dich, das mach ich schon seit meinem fünften Lebensjahr.« Sie vollführte eine Drehung und lief quer oben über die Schaukel, wobei ihre Zehen sich um die Stange schmiegten. Ich sah die ganze Zeit vor mir, wie sie herunterfiel und ihr Kopf auf dem harten Boden aufschlug.
»Du machst mir echt Angst. Kannst du bitte runterkommen?«, flehte ich.
»Als ich das zum ersten Mal gemacht habe, stand meine Mutter am Küchenfenster und hat Geschirr abgewaschen. Als sie aus dem Fenster guckte und mich sah, kam sie ganz schnell angerannt und schrie, ich solle da runterkommen. Was ich auch tat, und dann musste ich den ganzen Abend in der Ecke stehen.« Sie hängte sich wieder an die Stange, schwang ein paarmal vor und zurück, machte einen Rückwärtssalto und landete leichtfüßig auf der Erde.
Ich seufzte vor Erleichterung, und sie lachte.
»Mir ist echt fast das Herz stehengeblieben. Du bist ja wie ein wildes Äffchen.« Sie kam näher, und sobald sie in Reichweite war, nahm ich ihre Hand und zog sie zur Decke. »Setz dich hin. Bitte.«
Sie verdrehte die Augen, setzte sich aber. Ich streckte mich lang aus und schaute durch die Bäume in den Himmel. Holly legte sich neben mich. »Geht es dir besser?«, fragte sie. »Diese Magengrippe ist echt fies.«
»Allerdings. Aber ich hatte auch echt einen üblen Tag erwischt.« Ich drehte mich auf die Seite und schaute sie an. »Darf ich dich was fragen?«
»Du darfst.«
»Was würdest du tun, wenn du irgendwas noch mal machen könntest? Zum Beispiel eine Situation noch mal neu durchleben, in der du Mist gebaut hast oder die du gern in guter Erinnerung behalten möchtest. Was würdest du tun?«
Sie wandte sich mir zu. »Wie kommst du denn plötzlich auf so was? Die Frage ist ziemlich vage und daher schwer zu beantworten.«
Ich stützte mich auf die Ellbogen. »Ich hatte neulich so einen Traum. Er handelte von einer Situation, in der ich mich meiner Schwester gegenüber total unfair verhalten habe.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich hab einem Freund eine peinliche Geschichte über sie erzählt, die er so ziemlich in der ganzen Schule weitergetratscht hat. Da waren wir ungefähr zwölf, schätze ich, und ich wollte bei den anderen Jungs Eindruck schinden.«
»Was für eine peinliche Geschichte denn? Wenn es so was war, wie dass sie mit drei in die Hose gemacht hat, finde ich es nicht so schlimm.«
Ich kräuselte die Nase. »Es hatte was mit Blähungen zu tun und bezog sich keineswegs auf eine Zeit, die lange zurücklag, sondern eher … wenige Tage.«
Holly schlug die Hand vor den Mund. »Wow. Das ist schon ziemlich übel.«
Ich lächelte sie an. »Ich weiß. Jedenfalls war ich in meinem Traum noch mal in derselben Situation, aber in meinem jetzigen Alter. Ich wusste, dass ich verhindern konnte, dass es passierte, aber weiter hätte sich nichts geändert, weder heute noch an dem Tag, nachdem es passierte.«
»Weil deine Schwester von deinem Sinneswandel gar nichts mitbekommen hätte?«
»Genau.«
Holly schwieg eine Weile, bevor sie antwortete: »Ich finde, es hat was Nobles, wenn man versucht, es in Ordnung zu bringen.«
»Ich würde es ja gar nicht wirklich in Ordnung bringen.«
»Manchmal ist es eben schwierig, das Richtige zu tun. Je mehr man es übt, desto leichter wird es. Auch wenn es nur ein Traum ist.«
Ich rollte mich wieder auf den Rücken. »Vielleicht hast du recht.«
Sie rutschte näher zu mir hin, knetete dann aber ihre Hände, als wäre sie nervös.
Ich hielt meinen Blick auf die Wolken gerichtet, während ich ihre Hände nahm und sie auseinanderzog. Eine Hand platzierte ich zwischen uns und legte meine direkt daneben. Sekunden später strichen ihre Finger über meine Handfläche. Ich drückte sie und schloss die Augen. »Hol?«
»Ja?«
»Entspann dich, okay? Einfach hier mit dir zu liegen … das ist mehr als genug. Ich habe keine weiteren Pläne.«
Und das war die Wahrheit. Mein Daumen kreiste über ihren Handrücken, während ich den Duft der klaren Herbstluft einatmete, in die sich der Geruch von brennendem Holz mischte.
»Du bist so anders, als ich dachte«, sagte sie leise.
Ich lächelte in mich hinein. »Du bist genau so, wie ich dachte.«
Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Ich spürte, wie ihre Lippen meine Wange berührten, und in meinem ganzen Körper breitete sich Wärme aus. Ich legte meine andere Hand an ihre Wange. So hätte ich ewig liegen bleiben können. Es war egal, in welchem Jahr ich mich befand.
Genauso war es auch, als wir zum ersten Mal miteinander schliefen (natürlich war das die Holly von 2009). Unmittelbar bevor es passierte, hatte ich ganz verrückte Ideen im Kopf, richtig große Pläne. Aber das, was mir am allerschönsten in Erinnerung geblieben ist, hatte mit dem Hauptereignis gar nichts zu tun.
Es war Mitte Juli 2009. Ein paar Tage nach dem kleinen Vorfall, als Dad uns überrascht hatte.
Endlich waren wir allein in der Wohnung. Und die Zimmertür war abgeschlossen. Es lief coole Musik. Und nichts hielt uns davon ab zu tun, was immer wir tun wollten.
Holly zog ihr Kleid über den Kopf und kroch dann auf allen vieren zurück übers Bett. Ich berührte den Bund ihres pinkfarbenen Slips und zog ihn langsam nach unten. Mein Mund folgte meinen Händen.
Ihre Finger kämmten durch meine Haare, und dann flüsterte sie: »Ich hab das noch nie gemacht.«
Meine Lippen verharrten unmittelbar über ihrer Hüfte. Es gab so viele Arten, diesen Satz zu übersetzen. »Du hast was noch nie gemacht?«
»Sex gehabt.«
Das war nicht das, was ich zu hören erwartet hatte. In all meinen Phantasien hatte ich mir nicht ein einziges Mal vorgestellt, dass Holly noch Jungfrau war. Ich setzte mich auf meine Knie, damit ich ihr in die Augen sehen konnte. »Noch nie?«
Sie schüttelte den Kopf und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Ich hätte eher was sagen sollen.«
»Das ist kein Problem, Holly. Wir müssen nicht …«
»Nein, ich will ja.« Sie ließ ihre Arme sinken, fiel auf den Bauch und presste ihr Gesicht ins Kissen. »Ich fasse es nicht, dass ich das gerade gesagt habe.«
Ich legte mich neben sie und strich mit der Hand über ihren Rücken. »Ist doch okay.«
»Wenn ich dir was erzähle, versprichst du mir dann, dich nicht über mich lustig zu machen?«
Ich hob die Hand und sagte: »Großes Indianerehrenwort.«
Sie setzte sich lächelnd in den Schneidersitz. »Ich hätte es einmal fast getan. David und ich hatten diesen großen Plan, schon seit ewig, am Abend des Abschlussballs unsere Unschuld loszuwerden.«
Ich verkniff mir ein Grinsen, und Holly verdrehte die Augen. »Ich weiß, nicht sehr originell. Jedenfalls haben wir ein Hotelzimmer gemietet und alles, aber David hatte ein kleines Problem und hat alle Kondome kaputtgemacht, die wir dabei hatten.«
»Hast du nicht gesagt, du hättest noch nie …«
»Nein, er hat sie kaputt gemacht, bevor ich überhaupt mein Kleid ausgezogen hatte. Die Details erspare ich dir.«
Ich lachte laut, verstummte aber, als sie mich böse ansah. »Jedenfalls haben wir dann beschlossen, in einen Laden zu gehen und neue zu kaufen.«
»Eine größere Packung, nehme ich an.«
Sie nickte lachend. »Und während wir in dem Laden waren, haben wir uns dauernd umgesehen, um sicherzugehen, dass wir niemanden treffen, den wir kennen. Aber an der Kasse merkt David, dass er sein Portemonnaie nicht mithat. Ich hab meine Handtasche auch nicht dabei, also bitten wir die Kassiererin, den Kauf zu stornieren. Aber die beugt sich zu ihrem Mikro und ruft den Filialleiter. Wir wollen uns am liebsten so schnell wie möglich verdrücken, aber sie versucht, den Filialleiter zu überreden, uns die Kondome umsonst mitzugeben.«
Ich kugelte mich vor Lachen und Holly stimmte mit ein. »Und weiter? Was passierte dann?«
»Ich hab nur nein, danke gesagt und David aus der Tür gezerrt. Dann meinte ich, dass das ein Zeichen sei und dass wir es besser lassen sollten. Zumindest in dieser Nacht.«
»Und? Seit ihr zurückgegangen und habt es mit Humor genommen?«
Sie legte sich wieder neben mich. »Nicht so richtig. Davids Ego war ein bisschen angekratzt nach dieser Sache. Sobald wir wieder im Hotel waren, ist er eingeschlafen oder hat zumindest so getan, damit wir nicht reden mussten.«
»Und ihr habt es nie wieder versucht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber nicht weil er das mit den Kondomen vermasselt hat, sondern vor allem weil ich in dieser Nacht nur eins denken konnte: Ist David der letzte Junge, den ich jemals küssen werde? Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte, und dann kam mir ein Zweifel nach dem anderen. Da ich wusste, dass wir in ganz verschiedene Richtungen drifteten, fühlte es sich einfach nicht mehr richtig an.«
Ich legte meinen Arm um ihre Taille und zog sie an mich. »Bei dir hat immer alles einen tieferen Sinn, nicht wahr?«
Sie legte ihr Kinn auf meine Brust. »Du bist auch so tiefsinnig. Du willst es nur nicht wahrhaben. Was ist zum Beispiel mit all den Klassikern, die du heimlich gelesen hast?«
»Für die Schule.«
»Aber du hast es zu deinem Hauptfach gemacht. Und, Jackson?«
»Ja?«
»Ich will es wirklich«, sagte sie.
Ich berührte ihre Schulter mit den Lippen, schloss die Augen und antwortete nicht. Ich wusste zwar, dass es ihr sicher schwergefallen war, das zu gestehen, aber ich hatte meine eigenen Sorgen.
»Jackson?«
Ich seufzte schwer und legte meinen Kopf zurück aufs Kissen. »Vielleicht ein andermal.«
»Du meinst, an einem Abend, der noch perfekter ist als dieser?« Sie ließ mich los und wich zurück.
»Ich möchte dir nur nicht wehtun«, sagte ich so leise, dass es kaum mehr war als ein Flüstern.
Die Vorstellung, dass sie das Ganze vielleicht nicht genießen würde, lenkte mich ab. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals mit einer Jungfrau geschlafen oder auch nur rumgefummelt zu haben. Vielleicht hatte ich es nie getan.
Während ich tief in Gedanken war, fing sie an, meinen gesamten Körper Zentimeter um Zentimeter mit Küssen zu bedecken. Ihre Hände taten Dinge, die meinem Hirn sämtliches logische Denkvermögen raubten. Ich stöhnte und schlug die Hände vors Gesicht. »Holly, was machst du?«
»Betrachte es doch mal so, Jackson: Möchtest du mir sagen, dass ich mir einen anderen suchen soll?« Ihr Ton war leicht, neckisch.
»Nein.«
»Und willst du mich für irgendein Flittchen verlassen?«
»Natürlich nicht.«
»Dann sehe ich keinen anderen Weg, der uns voranbringt. Es sei denn, du möchtest keusch leben.«
»Nein, natürlich nicht.«
Sie lachte und legte ihre Hände an meine Wangen. Ihre Stirn berührte meine. »Ich möchte, dass du derjenige bist.«
»Warum?«
Sie küsste mich auf den Mund. »Weil … ich möchte es eben einfach, okay?«
Ich ahnte, was sie beinahe gesagt hätte. Die drei Worte, die weder sie noch ich bislang ausgesprochen hatten. »Du musst es mir aber sagen, wenn ich dir wehtue. Schwörst du?«
Meine Hände zitterten bereits. Sie nahm eine davon und legte sie auf ihr Herz. »Ich schwöre.«
»In Ordnung.«
Sie küsste mich auf die Wange. »Ich glaube, so nervös hab ich dich noch nie erlebt.«
Ich war nervös. Und ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie irgendetwas so langsam gemacht. Sie frotzelte, im Überstreifen eines Kondoms sei ich ja wohl Experte, worauf ich ihr erzählte, dass ich es geübt hatte, als ich jünger war, was auch stimmte. So mit vierzehn ungefähr. Irgendwie schafften Holly und ich es, diesen angstvollen und unbehaglichen Moment unglaublich lustig werden zu lassen.
Was den eigentlichen Sex angeht: Für mich war er toll. Ich glaube, vor allem weil Holly nie so tut als ob. Und sie hat diese Art, mir das Gefühl zu geben, ein Teil von etwas Wichtigem zu sein. So als würden wir jedes Mal eine bleibende Erinnerung schaffen. Eine, die man nie mehr auslöschen kann. Ich bin eher impulsiv. Das heißt, ich mache immer genau das, wonach mir gerade ist. Aber ich hatte das Gefühl, dass Holly lange und gründlich über diese Nacht nachgedacht und im Kopf alles schon durchgespielt hatte. Und dass sie bereit war, mich einzubeziehen, war einfach megacool.
Später sprangen wir zusammen unter die Dusche, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um meinen Hals und drückte mich ganz fest. Sie drückte ihr Gesicht an meine Brust, das Wasser rann an uns herab und ich dachte, dass sie vielleicht weinte, weil sie ihr Gesicht verbarg. Doch ich hatte Angst, sie zu fragen. In dieser Umarmung verharrten wir eine Zeitlang. Dann flüsterte sie: »Danke.«
Das was das erste Mal, dass ich überhaupt je darüber nachdachte, es zu sagen … Ich liebe dich. Es wäre perfekt gewesen, hätte sich perfekt in den Moment eingefügt. Es wäre nichts Aufgesetztes gewesen. Aber meine Zunge war wie gelähmt bei dem Gedanken, weil ich nicht wusste, ob es wirklich stimmte oder nicht. Darum sagte ich stattdessen: »Wusstest du eigentlich, dass du eine Sommersprosse auf deinem …«
Sie hielt mir den Mund zu. »Ja, ich weiß.«
Dann lachten wir wieder, und das gab den Ton an für die ganze weitere Nacht. Holly saß auf dem Küchentresen und hörte sich meine Scherze an, während ich Rührei machte. Sie sah umwerfend aus, wie sie in meinem blauen Bademantel mit nassen Haaren und noch leicht geröteten Wangen dasaß.
Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, hätte ich diesen Moment über Wochen – vielleicht sogar Monate – ausdehnen können und wäre hundertprozentig zufrieden gewesen.
Nichts lief absolut glatt. Und doch war es perfekt.
Ich war so sehr in meine Erinnerung an die Holly von 2009 versunken, dass ich nicht mal bemerkt hatte, dass die 07-er Holly tief und gleichmäßig atmete und auf mein Sweatshirt sabberte. Ich ließ ihre Hand los, legte den Arm um sie und zog sie ein Stück näher, damit ihr Kopf nicht auf dem harten Boden lag. Sie bewegte sich und hob dann den Kopf.
»Ich bin eingeschlafen, oder?«
Ich lächelte, als sie sich mit dem Ärmel die Spucke aus dem Gesicht wischte. »Warum solltest du kein Nickerchen machen dürfen, wenn du schon die Schule schwänzt?«
Sie setzte sich ganz auf und lief rot an. »Tut mir leid. Ich gehöre zu den Leuten, die mitten im Straßenverkehr einschlafen können, während rings um sie gehupt wird und alles.«
»Ganz schön viel gebüffelt letzte Nacht, was?«
»Ja, und für die Uni-Eignungsprüfung gelernt. Die steht nämlich auch bald an.«
Ich setzte mich ihr gegenüber. »Ich hab meine ganz gut hingekriegt. Und ich bin immer noch bereit, dir zu helfen.«
»Was heißt ›ganz gut‹?«
»1970 Punkte.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das ist ganz schön gut. Ich brauche 1900 Punkte, um an der NYU angenommen zu werden, aber ich würde gern besser abschneiden, damit ich – hoffentlich – ein Stipendium bekomme.«
»Du machst das bestimmt super. Eigentlich bin ich mir sogar ziemlich sicher.«
»Ein bisschen zusätzliche Hilfe könnte trotzdem nicht schaden«, sagte sie grinsend.
Sie beugte sich vor, als wollte sie mich vielleicht küssen, und obwohl ich eigentlich nichts lieber wollte, befiel mich plötzlich ein Unbehagen. Das lag jedoch nicht an Adams Mahnung; es war etwas anderes. War es möglich, Holly mit Holly zu betrügen? War sie zu jung, um jemanden meines Alters zu küssen? Würde es dasselbe sein, wie meine Holly zu küssen?
Ich drückte mich davor, das entscheiden zu müssen, indem ich aufstand und ihr die Hand reichte. »Lass uns ein Stück spazieren gehen. Vielleicht wirst du dann wieder wach.«
Sie erhob sich und warf die Decke in ihre Tasche. »Wo gehen wir hin?«
Ich lächelte, als sie meine Hand nicht mehr losließ. Sie umklammerte sie eher noch fester, als wir auf den Gehweg zu schlenderten. »Warst du schon mal am Shakespeare Garden?«
»Nein.«
»Der ist nicht weit von hier weg.«
Dort angekommen, ging Holly zu der ersten Tafel, um zu lesen, was darauf stand. Als ich zu ihr aufschließen wollte, hastete ein kleiner rothaariger Mann an mir vorbei und sagte leise: »Schön, dich wiederzusehen, Jackson.«
Ich schnappte nach Luft und versuchte mich zu konzentrieren, obwohl mir das Blut in den Ohren rauschte, als er sich langsam zu mir umdrehte. Es war er, und er sah exakt genauso aus wie im Jahr 2009, als er in Hollys Zimmer gestürmt war. Dann ging er weiter. Er machte immer größere, schnellere Schritte, und ohne überhaupt darüber nachzudenken, folgte ich ihm.
Instinktiv tastete ich nach meinem Taschenmesser und schloss meine Faust darum. Seine schnelle Gangart verwandelte sich in einen leichten Trab, und ich lief wortlos hinter ihm her, während er mich vom Weg wegführte, auf einen anderen, dicht bewaldeten Teil des Parks zu.
Mein Puls raste, passend zum Rhythmus meiner Schritte. Ohne irgendein Anzeichen dafür, dass er mich hinter sich bemerkt hatte, blieb er plötzlich direkt vor einem Baum wie angewurzelt stehen und hob die Hände, als würde er sich ergeben. »Ich habe gehofft, dass du mir folgen würdest.«
Ich trat einen Schritt näher. Vielleicht war das eine Falle, und vielleicht hatte er eine bessere Waffe als ein altes Taschenmesser, aber ich war zu wütend, um mich davon abhalten zu lassen. Als er sich umdrehte und ich sein Gesicht ganz genau betrachten konnte, blieb mir fast das Herz stehen: Er hatte eine Platzwunde über dem linken Auge, aus der noch immer Blut floss. Und einen roten Abdruck. Von einem Schuh. Hollys Schuh.
Den Schuhabdruck der Holly von 2009.
Das konnte kein Zufall sein. Oder doch? »Wie sind Sie … Ich …«
Mir versagte die Stimme, während der Mann mich – verglichen mit dem Gefühlsaufruhr in mir – viel zu ruhig ansah.
»Jackson … was … machst du?«, japste Holly hinter mir. Sie atmete stoßweise, vermutlich weil sie mir nachgelaufen war.
Ich warf einen raschen Blick über die Schulter und schaute dann wieder den Mann an, während ich fieberhaft überlegte, wie ich meine Frage formulieren sollte. »Wie sind Sie … hierhergekommen? Von da?«
Er zog die Augenbrauen hoch und grinste mich selbstgefällig an. »Interessant. Warum erzählst du mir nicht, wie du hierher gekommen bist?«
Ich wollte ihm das Grinsen aus dem Gesicht schlagen, aber dann schnappte Holly hinter mir laut nach Luft, und ich wirbelte herum. Eine große blonde Frau klemmte Holly mit ihrem Arm von hinten die Luft ab.
Mir wurde schlecht. Gott, das darf nicht noch mal passieren. Und wo war diese Frau überhaupt hergekommen?
»Ich hatte früher mit dir gerechnet, Rena«, sagte der Mann, als käme sie zu spät zum Abendessen oder zu einem Zahnarzttermin.
»Es lief alles etwas anders, als wir erwartet hatten«, erwiderte sie.
Meine Blicke flogen zwischen den beiden hin und her und verharrten dann auf Hollys Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch die Panik, die in ihren Augen stand, während sie sich Renas Griff zu entwinden versuchte, gab mir den Rest. Sie versuchte sich freizustrampeln. Ich musste etwas tun.
Ich ließ mein Taschenmesser im gleichen Moment aufspringen, als der Mann hinter mir »Pass auf, Rena!« rief.
Aber nicht ich war derjenige, der ihm Sorge bereitete. In Sekundenschnelle kam ein Mann aus dem Gebüsch gesprungen, prallte von hinten gegen Rena und nahm sie in denselben Würgegriff, den sie an Holly angewandt hatte. Dann verdrehten Renas Augen sich plötzlich nach hinten, und sie ging, sowohl ihr Opfer als auch ihren Angreifer mit sich reißend, seitwärts zu Boden. Holly kämpfte sich frei und stand auf. Sie atmete erleichtert aus, beugte ihren Oberkörper vor und stützte ihre Hände auf den Knien ab.
»Denk nicht mal im Traum dran, einen deiner kleinen Tricks anzuwenden«, sagte eine Frauenstimme hinter mir und Holly.
Wir drehten uns beide um, und mir fiel die Kinnlade runter, als ich Miss Stewart, die Sekretärin meines Vaters, einen perfekten Roundhouse-Kick ausführen sah. Ihre kniehohen Lederstiefel landeten im Gesicht des rothaarigen Mannes, der rückwärts in die Bäume taumelte. 2:0 im Kampf zwischen modischen Frauenschuhen und dem Rothaarigen.
Sie nahm seine Verfolgung auf.
Ich drehte mich wieder in die andere Richtung. Holly kam zu mir gelaufen, und ich schloss sie in die Arme. Sie sah genauso fassungslos und verwirrt aus, wie ich mich fühlte. Dad erhob sich vom Boden, und nach kurzem Nachdenken begriff ich, dass er der Mann war, der Holly gerettet hatte; er hatte sich so schnell bewegt, dass ich nicht einmal sein Gesicht gesehen hatte.
»Was zur Hölle …«, begann ich in seine Richtung, doch er murmelte etwas in einer fremden Sprache in seinen Ärmel.
Dann legte er eine Hand auf Hollys Schulter. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Sie wich mit weit aufgerissenen Augen vor ihm zurück. Eine Hand ruhte weiter auf ihrer Brust, mit der anderen griff sie in ihre Tasche und zog das Pfefferspray heraus, das sie immer bei sich hatte.
Dad hielt die Hände hoch. »Ich werde Ihnen nichts tun«, sagte er.
Ich hatte keine Ahnung, wem ich glauben sollte, und verspürte plötzlich den Drang, Holly das Spray abzunehmen und es ihm in die Augen zu sprühen, nur zur Sicherheit.
»Alles in Ordnung, Jackson?«, fragte er mich.
Ich schaute auf die am Boden liegende Frau und dann zu Holly, die zwei und zwei zusammenzurechnen schien und zu dem Schluss kam, dass ich diese Leute kannte und etwas mit der Sache zu tun hatte. Sie hob das Spray an und zielte damit in meine Richtung.
»Immer mit der Ruhe, Holly. Ich weiß genauso viel wie du«, sagte ich. Sie ließ den Arm wieder sinken.
Miss Stewart kam zurück, gefolgt von einem Mann im Alter meines Vaters.
»Die Zielperson ist entkommen«, sagte der Mann.
»Nicht dass er schneller gewesen wäre als wir. Aber was zum Teufel sollen wir tun, wenn er einfach …«
Dad brachte sie mit einer Geste zum Schweigen, drückte dann seinen Finger ans Ohr und lauschte zehn Sekunden lang vollkommen starr. »Kümmern Sie sich um unsere schläfrige blonde Freundin«, sagte er zu dem Mann, der gerade dazugekommen war.
Der hob die blonde Frau auf seine Schulter und ging davon.
»Bleiben Sie stehen, junge Frau«, sagte Dad mit fester Stimme zu Holly, die langsam zurückwich und offenbar wegrennen wollte.
Frische Tränen liefen über ihr Gesicht, und sie wirkte ängstlicher, als ich sie jemals erlebt hatte. Ihre Finger bewegten sich über die Tastatur ihres Handys.
»Stewart, Sie überprüfen den Tatort, danach treffen wir uns am verabredeten Ort«, sagte Dad zu seiner Sekretärin. Sobald sie außer Sichtweite war, nahm er Holly das Pfefferspray und das Handy ab. »Ich bin sicher, Sie haben eine Menge Fragen zu dem, was Sie gerade gesehen haben, aber hier draußen können wir das nicht besprechen.«
Dad legte ihr seine Hände auf die Schultern und schob sie in die Richtung des Weges, der zur Straße führte.
»Was machst du?«, fragte ich ihn. Ich wollte nicht, dass er sie anfasste.
»Ich sorge nur dafür, dass sie sicher und wohlbehalten nach Hause kommt.« Er führte sie weiter auf den Gehweg zu. »Wir haben hier schon für genug Aufsehen gesorgt, und ich möchte weitere Pannen vermeiden.«
Sie kooperierte ein paar Sekunden lang, dann trat sie ihm kräftig auf den Fuß und stieß ihm den Ellbogen in die Leistengegend. Dad zuckte angesichts von Hollys kleiner Attacke nicht mal zusammen. Allerdings umfasste er ihre Schultern jetzt fester und steuerte sie auf einen am Straßenrand parkenden Wagen zu.
»Bitte lassen Sie mich gehen. Ich sage auch kein Wort … bitte«, flehte sie leise.
»Ich verspreche Ihnen, dass Ihnen nichts geschieht«, sagte Dad, dann klappte er sein Portemonnaie auf und zeigte einen Dienstausweis mit seinem Foto und den Buchstaben CIA darauf. »In einer Minute werde ich Ihnen alles erklären.«
Als wir an dem langen schwarzen Wagen ankamen, überlegte ich kurz, mir Holly zu packen und mit ihr wegzurennen, aber das war unser Auto, mit unserem Fahrer darin, Cal, der mich an diesem Morgen noch zum Metropolitan Museum gefahren hatte.
»O Gott«, murmelte Holly, als Dad die Tür öffnete. »Bitte, lassen Sie mich einfach gehen.«
»Es wird alles wesentlich einfacher für Sie sein, wenn Sie freiwillig einsteigen«, sagte Dad. »Glauben Sie mir.«
»Warum muss sie denn einsteigen?«, fragte ich verzweifelt.
Er sah mich scharf an, was so viel bedeuten sollte wie, dass ich die Klappe halten sollte. Also tat ich es, da mir ohnehin keine andere Wahl blieb.
Hollys Lippen bebten ein wenig, aber sie wischte sich diskret die Tränen aus dem Gesicht und stieg ein. Die beiden Rücksitze waren gegenüber voneinander angebracht, und Dad ließ sich direkt gegenüber von Holly nieder. Ich setzte mich neben sie. In diesem geschlossenen kleinen Raum fühlte sich mein Herzschlag gleich doppelt so laut an.
»Wer … sind Sie?«, stieß Holly hervor.
Diese CIA-Geschichte hatte sie offenbar nicht überzeugt, und sie schien zu glauben, dass Dad und ich eher Komplizen waren als Vater und Sohn.
»Das ist mein Dad«, sagte ich zu Holly.
»Okay«, sagte sie langsam.
Er zögerte kurz und schaute mich an. »Und ich arbeite für die CIA.«
Holly schüttelte den Kopf und sank mit einem resignierten Seufzer tiefer in den Sitz. »Das ist alles so gruselig. Sie werden mich nie gehen lassen, hab ich recht? Ich werde sterben oder als eins dieser verschwundenen Mädchen enden, von denen man in den Nachrichten hört.«
»Anhalten«, sagte Dad und zeigte aus dem Fenster. »Seht mal, wo wir sind.«
Ich schaute aus dem Fenster und sah, dass wir vor dem Museum parkten, das wir wenige Stunden zuvor verlassen hatten, direkt hinter einem großen gelben Schulbus.
»Sehen Sie. Wie ich versprochen habe. Wir haben Sie sicher und wohlbehalten zurückgebracht.«
»Aber … was ist mit diesen Leuten … und …«
»Die Leute, die wir verfolgt haben, sind Terroristen.«
»Terroristen?«, fragte Holly.
»Hören Sie, ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir uns mit Ihrer Familie unterhalten, nur damit sie darüber informiert ist, was heute passiert ist«, sagte Dad mit seiner weichen Stimme, die einen wahrscheinlich auch noch mitten in einem Kriegsgebiet beruhigen würde.
Holly schüttelte heftig den Kopf. »Das würde ich nicht empfehlen. Meine Mutter hat eine völlige Meise, was solche Sachen angeht. Die flippt komplett aus. Und sie wird mir nie mehr erlauben, aus dem Haus zu gehen.«
»Wenn Sie es so wollen.«
Ich hatte das Gefühl, dass es genau das war, was auch Dad wollte. Er schien zu wissen, wie Holly reagieren würde. Was wusste er noch über sie?
»Ja, das wäre das Beste.« Sie schaute sehnsüchtig aus dem Fenster. »Kann ich jetzt gehen?«
Dad nickte und legte eine Hand auf den Griff, um die Tür zu öffnen. »Agenten enthüllen so gut wie nie ihre Identität, Holly. Wenn wir es doch tun, wird das dokumentiert, und wenn danach etwas durchsickert, wissen wir ganz genau, woher das kommt, glauben Sie mir.«
»Verstehe«, flüsterte sie, aber so leise, dass es kaum zu verstehen war.
»Gut.«
Ich hasste es, wie sie mich ansah. Als wäre ich wieder ein vollkommen Unbekannter für sie. »Ich gehe mit dir rein, Holly.«
»Nein, wirklich, ich möchte einfach … ich möchte allein reingehen.«
»Dann sehen wir uns später bei der Arbeit?«
»Ja … bei der Arbeit«, sagte sie, dann sprang sie aus dem Wagen und schlug die Tür zu.
Ich saß da und sah ihr nach, bis der Wagen sich wieder in Bewegung setzte, dann wandte ich mich Dad zu. »Wenn ihr irgendetwas zustößt …«
»Ihr passiert nichts. Du hast mein Wort«, sagte er. »Aber ich muss dich fragen: Wie alt bist du gerade, Jackson?«
Er wusste es. Wegen meiner Hinweise? Die Untersuchungen.
Mein Herz klopfte lauter als je zuvor. Aber ich konzentrierte mich, da ich wusste, dass jede Information, die ich ihm jetzt gab, gegen mich verwendet werden konnte.
»Hast du meine richtigen Eltern gekannt?«, fragte ich in der Hoffnung, ihn durch den schnellen Themenwechsel zu überrumpeln.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht direkt.«
»Bei wem haben Courtney und ich denn die ersten elf Monate gewohnt? Dr. Melvin hat’s mir erzählt.«
Er schaute aus dem Fenster, aber seine Miene blieb vollkommen undurchdringlich. »Bei jemandem, der nicht dazu in der Lage war, sich weiter um zwei Kinder zu kümmern. Mehr weiß ich auch nicht.«
Okay, offenkundig wollte er mir keine Details erzählen. »Warum bin ich so?«
Er schaute wieder mich an, seine Miene wirkte vollkommen geschäftsmäßig. »Das kann ich dir nicht beantworten, ohne dir selbst ein paar Fragen zu stellen. Deine Fähigkeiten, ich schätze mal, du kannst sie nach Belieben einsetzen?«
Ich hatte Lust, ihm mal so richtig die Meinung zu sagen. Neulich bei Melvin hatte er mich nach Strich und Faden belogen. Wie sollte ich ihm noch ein Wort glauben, das er sagte? Ich sank in den Sitz zurück, denn mir kam eine Idee.
»Ohne Gegenleistung rücke ich nicht mit all den Geheimnissen raus, die du wissen willst, Dad.«
»Und wie soll die aussehen? Du hast doch alles.«
»Erstens ist das Thema Highschool endgültig vom Tisch, und meinen Job gebe ich auch nicht auf.«
Er schüttelte den Kopf und starrte mich eine Minute lang an, bevor er antwortete: »Ist das mit dem Job wegen Holly? Das erscheint mir nämlich ganz schön extrem für jemanden deines Alters.«
»Und welches Alter soll das sein?« Ich seufzte, denn mir war klar, dass ich ein bisschen was preisgeben musste. »In zwei Jahren um diese Zeit stößt Holly etwas zu. In der Zukunft ist sie meine Freundin. Jetzt hänge ich hier fest, und ich werde auf keinen Fall zulassen, dass es wieder passiert. Aber ich weiß nicht, wie ich es verhindern kann, jedenfalls nicht so gut, wie du es bestimmt weißt. Ich möchte alles können, was ihr Geheimagenten könnt. Das ist meine zweite Forderung. Du musst mir diesen Agenten-Kram beibringen.«
»Was ist passiert, Jackson? Mir kannst du es sagen«, sagte er.
Zum größten Teil sah ich in ihm immer noch meinen Dad und nicht jemanden, vor dem ich Dinge verheimlichen musste. Und ich wollte zu gern fragen, wie es kam, dass dieser rothaarige Mann erst in der Zukunft gewesen war und dann hier, im Jahr 2007, und das mit derselben Wunde im Gesicht. Und dem Abdruck eines Schuhs. Als wäre es gerade erst passiert.
»Nicht jetzt.«
Er blies die Luft aus, nickte aber. »Okay. Ich habe jede Menge Ratschläge für Anfänger und ein paar Handbücher, in die du mal reinschauen kannst. Es gibt sogar eine Gruppe von Agenten, die gerade bei mir in der Ausbildung sind.«
Ich lachte kurz auf, trotz der Anspannung, die immer noch in der Luft lag. »Du meinst deine Sekretärin?«
Dad grinste. »Ja, sie gehört auch dazu.«
»Wie alt ist sie?«, fragte ich. Schon seit sie mir gesagt hatte, ich solle sie Miss Stewart nennen, brannte ich darauf, das zu erfahren.
»Neunzehn.«
»Die CIA wirbt Teenager an?«, fragte ich.
»In gewissen ungewöhnlichen Fällen ja«, sagte er und wählte seine Worte offenkundig mit Bedacht. »Jenni Stewart ist noch recht neu. Wenn du ihr noch mal begegnest, darfst du ihr weder dein wahres Alter verraten noch wie du hierhergekommen bist.«
Ich lachte, weil ich wusste, dass sie mir ihren Vornamen nicht verraten wollte. »Ich sage es niemandem. Ich bin ja kein Idiot.«
»Du hast es Holly also auch nicht erzählt?«, fragte er.
»Was glaubst du denn?« Ich verdrehte die Augen. »Sie hält mich für einen Schulabbrecher aus Jersey.«
Nun zeigte sich das erste Anzeichen von Besorgnis auf Dads Gesicht. »Jetzt nicht mehr. Ich habe Agent Stewart gebeten, nach ihr zu sehen und sie zu einer Firmenparty bei uns zu Hause einzuladen.«
Ich rieb mir die Augen und stöhnte. »Na toll. Jetzt wird sie mich dafür hassen, dass ich sie angelogen habe … Im Ernst? Eine Firmenparty? Das dürfte interessant werden.«
»Tut mir leid, ich hatte gedacht, dass es vielleicht zu ihrer Beruhigung beiträgt«, sagte er seufzend. »Wenn sie sieht, dass wir ganz normale Leute sind.«
»Auch ohne die CIA-Sache würde sie uns niemals für normal halten.« Ich wechselte das Thema, damit ich ihn nicht am Ende noch anschrie. »Was ist denn eigentlich mit deinem Büro, in dem ich schon tausend Mal war?«
»Das ist eine Firma, hinter der die Regierung steckt, die aber wie ein ganz normales Unternehmen aussehen soll. Mit deren Tagesgeschäft hab ich nur ganz am Rande zu tun.«
Schon allein mit welcher Beiläufigkeit er das sagte, machte mich wütend. »Okay, zuerst finde ich also heraus, dass du nicht mein richtiger Vater bist, dann bist du bei der CIA, und alles, was ich über dein Arbeitsleben wusste, war nur vorgetäuscht. Eine komplette Lüge. Was weiß ich denn eigentlich über dich?«
»Das ist kompliziert, Jackson. Es gibt Leute, die ihr Leben verlieren können, wenn Agenten wie ich nicht jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme treffen, um ihre Tätigkeit zu verschleiern.«
Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme und sah ihn direkt an. »Dann sag mir genau, was du tust. Bekämpfst du Schurken, die es irgendwie hinkriegen, von hier aus gesehen zwei Jahre in der Zukunft zu sein und dann hier, mit denselben Kleidern am Leib und mit derselben Wunde im Gesicht?«
»Ich glaube, wir sollten mit Dr. Melvin reden«, schlug er vor.
»Noch nicht. Du kannst mich zwar hinbringen, aber ich werde dir nichts weiter erzählen.« Ich wandte meinen Blick dem Fenster zu und sah, dass große Regentropfen immer schneller auf den Gehsteig fielen. »Ich muss später noch zur Arbeit und sehen, wie sehr Holly mich jetzt hasst.«
Wahrscheinlich mehr, als ich wiedergutmachen konnte, weshalb ich mich einsamer fühlte als je zuvor.