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Ich schlug die Augen auf und sah drei Tropfen Blut ins Waschbecken fallen. Jemand schob mir ein Papiertuch unter die Nase. Das Nasenbluten war ein weiteres Indiz dafür, dass dies, genau dieser Augenblick, meine neue Gegenwart war. Meine neue Homebase.
Aber irgendetwas war anders. Vor meinem Sprung war ich allein in der Herrentoilette gewesen. Mithilfe von Adams Formel hätte ich genau ausrechnen können, wie lange ich an dieser Wand gelehnt und wie scheintot gewirkt hatte. Leider kannte ich sie nicht.
»Hier, bitte sehr. Du solltest dir die Nasenlöcher zuhalten«, sagte eine tiefe Stimme direkt in mein Ohr.
Neben mir stand ein großer Dunkelhäutiger mit Glatze.
»Danke«, antwortete ich, und einen Moment lang schaute er mich an, als würde er mich von irgendwo her kennen. Aber in meinem Kopf herrschte ein riesiges Durcheinander, und bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, war er schon verschwunden.
Mein Nasenbluten hörte schon nach einer Minute wieder auf, und nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, verließ ich den Toilettenraum.
Die Kellnerin brachte meinen Kaffee. Dieselbe Kellnerin, die mich begrüßt hatte, bevor ich zur Toilette ging. Verdammt. Wieder derselbe Ort. Und dieselbe Zeit.
Sie lächelte mich an, während ich auf meine Bank rutschte. »Und? Schon was ausgesucht?«
Ich zeigte auf das erste Gericht oben links auf der Speisekarte, ohne überhaupt nachzusehen, was es war. »Ich nehme das da.«
»Gegrillten Lachs mit Gemüse der Saison?«
Ich zuckte mit den Schultern und nickte, aber in dem Moment, als sie sich umdrehen wollte, fiel mir etwas ein.
»Warten Sie! Ich wollte noch fragen … Haben Sie vielleicht eine Tageszeitung von heute?« Auch wenn es eigentlich müßig war – ich wollte sichergehen.
»Natürlich, bin sofort wieder da.«
Ich klopfte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, während ich auf die Information wartete, die ich schon kannte. Sie legte die Zeitung vor mich hin, und ich stöhnte auf, kaum dass ich einen Blick darauf geworfen hatte. September. 2007.
Immer das Gleiche. Jetzt schon achtzehn Mal. Es war halb neun Uhr abends. Ein paar Minuten später, aber das war’s auch schon. So lange hatte ich mich bisher noch nie in der Vergangenheit aufgehalten.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Kellnerin.
»O ja, entschuldigen Sie. Ich bin nur enttäuscht, dass die letzte Vorstellung von …« – mein Blick flog über die Schlagzeilen – »Annie ausfällt. Ich liebe dieses Musical.«
Die Kellnerin wickelte sich eine lose Haarsträhne um den Finger und verlagerte ihr Gewicht aufs andere Bein. »Äh … ja … Ihr Essen müsste bald fertig sein.«
Da Adams Stimme durch meinen Kopf hallte, holte ich das Tagebuch aus der Tasche. Diese ganze Sache war mal ein Spaß gewesen. Eine Art Abenteuer. Aber mit jedem fehlgeschlagenen Versuch, Holly zu retten, bekamen Adams Worte eine tiefere Bedeutung.
»Du musst alles dokumentieren, und zwar minutiös.«
»Warum?«
»Na, erstens damit du weißt, wie alt du wirklich bist. Und zweitens damit du weißt, ob du irgendwas verändert hast. Und drittens für den Fall, dass du es vergisst.«
Ich veränderte nichts. Nie. Aber ich schrieb trotzdem alles auf, und zwar unter Verwendung von Adam Silvermans genialem System. Als ich es zum ersten Mal – nur nebenbei – aufgeschrieben hatte, hatte ich noch laut gelacht, als handelte es sich um eine Packliste fürs Ferienlager. Bei meinen vorherigen Aufzeichnungen, die sich auf meine Sprünge in die zwei Tage zurückliegende Vergangenheit bezogen, hatte ich einen Großteil dieser Punkte gar nicht ausgefüllt. Weshalb ich die Liste auch nie ernst genommen hatte. Jetzt dagegen schon.
ZEITREISEN-PRIORITÄTEN-CHECKLISTE
Schritt 1: Ermittle aktuellen Tag/aktuelle Uhrzeit:
9. September 2007, 20 Uhr 30
Schritt 2: In der vorherigen Zeit verbrachte Minuten:
(1. Juli 2004)
165 Minuten
Schritt 3: Ermittle aktuelles Alter von dir selbst, deinen Freunden und deiner Familie:
Jackson Meyer (das jüngere Ich): 17 Jahre alt
Kevin Meyer: 42 Jahre alt
Adam Silverman: 16 Jahre alt
Holly Flynn: 17 Jahre alt
Courtney Meyer: verstorben
Schritt 4: Leg dir eine Tarnung oder aktuelle Identität zu
(je nachdem):
Mein jüngeres Ich müsste bis Dezember in Spanien sein. Ich schlüpfe fürs Erste in die Identität meines 17-jährigen Ich, da unsere Wege sich offenbar nicht kreuzen können. Nur für den Fall, dass ich mit jemandem in Kontakt komme, den ich kenne.
Schritt 4: Ruf dir die Basics in Erinnerung
(aktuelle Ereignisse, aktueller Technologie-Standard …):
Wenn ich erwähne, dass ›Lost‹ demnächst abgesetzt wird, könnte das einen Aufruhr auslösen. Lass nie jemanden dein Handy sehen.
Ich ging noch mal alles durch, was passiert war, um nicht ins Schwimmen zu kommen, was die Fakten betraf. Nach meinem Absprung aus dem Jahr 2009 landete ich gegen sechs Uhr morgens am 9. September 2007. Jetzt ging es auf neun Uhr am Abend zu, doch alle meine Versuche, mich vorwärtszubewegen, dauerten inzwischen schon fast drei Tage. In meiner Homebase vergeht nur sehr wenig Zeit, während ich auf einer Zeitreise bin. Aber das Gefühl, eine superheftige Grippe auszubrüten oder so was, war komplett neu. Und nur in diesem Jahr 2007 ging es mir körperlich so schlecht. Wahrscheinlich weil ich es hasste, darin festzuhängen. Karma. Oder vielleicht lag es auch an den vielen Sprüngen, die ich hinter mir hatte. Womöglich kriegte ich davon Hirnerweichung oder irgend so einen Mist.
»Jackson Meyer! Bist du’s wirklich?«, rief plötzlich jemand und riss mich aus meiner trüben Stimmung.
Als ich aufschaute, stand meine Lieblingsspanischlehrerin vor mir. »Miss Ramsey, wie geht’s Ihnen?«
»Super, aber ich dachte, du wärst für ein Halbjahr in Spanien?«
Das war die Stelle, an der ich nicht vergessen durfte, wer ich war.
AKTUELLE IDENTITÄT: Siebzehnjähriger Schüler, der eigentlich in Spanien sein sollte, wo er ein Auslandssemester verbringt, aber stattdessen mitten in der Woche allein in einem Restaurant in Manhattan sitzt.
»Ich bin früher zurückgekommen.«
Sie setzte sich auf die Bank gegenüber. »Wahnsinn, wie viel älter du nach einem Sommer aussiehst.«
Ich lachte nervös. »Das liegt an dem ganzen San Miguel. Von dem Bier kriegt man ordentlich Brusthaare.«
Sie lachte laut auf, und die Brille mit den dicken Gläsern rutschte ihr ein Stück die Nase runter. »Ich hoffe, du hast auch all die tollen spanischen Weine probiert.«
»Klar, jeden Tag eine Flasche.«
Sie lachte erneut. »Das kann nicht stimmen. Aber sag mal … heißt das, dass ich dich bald wieder durch die Gänge unserer schönen Privatschule schlurfen sehe?«
Ich unterdrückte den angewiderten Ausdruck, der sich sofort auf meinem Gesicht ausbreiten wollte. In diese Schule bringen mich keine zehn Pferde zurück.
»Wahrscheinlich nicht. Ich überlege, ob ich statt des Schulabschlusses nicht lieber den Eignungstest fürs College machen soll. Die Leute auf der Highschool bin ich irgendwie leid.« Die Kellnerin brachte mein Essen, und ich nahm die Gabel und spießte eine Spargelstange auf. »Ich hab meinem Dad ein Ultimatum gestellt: Entweder Wechsel zu einer staatlichen Schule oder dieser Test. Er tendiert eher zu Letzterem.«
»Staatliche Schulen sind gar nicht so schlecht. Ich hab eine besucht, und schau, was aus mir geworden ist«, sagte sie.
»Hab ich ihm auch gesagt.« Mein Blick sank auf den Teller vor mir.
»Du wirkst bedrückt. Ist alles in Ordnung?«
Ich nickte. »Das ist nur der Jetlag. Ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen, und für mich ist es zwei Uhr morgens.«
Das war von der Wahrheit gar nicht weit entfernt. Tatsächlich hatte ich nämlich zwei Tage lang kaum geschlafen. Aber in diesem Jahr waren natürlich erst wenige Stunden vergangen.
Dieses blöde, verdammte Jahr.
»Tut mir leid, das zu hören. Nun ja … ich geh dann besser mal wieder zu meiner Verabredung.« Sie wies mit dem Kopf auf einen Mann, der allein an einem Tisch saß und seine Zähne mit einem Löffel untersuchte. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Das ist das letzte Mal, dass ich es mit einer Partnervermittlung im Internet versuche.«
»Sie können ja so tun, als hätten Sie plötzlich Magenschmerzen … oder eine Lebensmittelvergiftung.«
Bevor sie sich umdrehte, lächelte sie mich an. »Pass auf dich auf, Jackson.«
Grinsend wartete ich, bis sie sich abgewandt hatte, dann schaute ich wieder auf das neben mir liegende Tagebuch. Ich machte mich daran, gewissenhaft die Details meines letzten Ausflugs festzuhalten, und war so in andere Zeiten vertieft, dass ich überhaupt nicht bemerkte, dass die Kellnerin vor mir stand und mit dem Fuß auf den Boden tippte.
»Entschuldigung, haben Sie was gesagt?«
»Alles in Ordnung mit Ihrem Essen?«
Ich schaute auf den inzwischen kalten Lachs. Der Fischgeruch war widerlich. »Ja, alles gut. Könnte ich bitte die Rechnung haben?«
Sie legte sie vor mir auf den Tisch. »Soll ich das für Sie einpacken?«
»Äh … nein, danke.«
Der Teller verschwand zusammen mit der Kellnerin. Der Gedanke, Reste mit mir herumzuschleppen, bekam jetzt, wo mir all diese Zeitreisentheorien im Kopf herumschwirrten, eine ganz neue Bedeutung. Genau über solchen Blödsinn hätte ich mit Adam stundenlang philosophiert, während wir Guitar Hero spielten und uns Whiskey reinlöteten. Ich hätte damit angefangen, und Adam hätte den Gedanken zwanzig Schritte weitergetrieben, als mein Hirn je zu begreifen imstande wäre.
Fragen wie: Wenn ich es geschafft hätte, ins Jahr 2009 zurückzukommen, und meine Restebox bei mir gehabt hätte, wäre der Lachs dann zwei Jahre alt gewesen? Oder: Wenn ich wieder in die Vergangenheit gereist wäre, hätte der Fisch dann noch in der Box gelegen? Strenggenommen wäre er dann ja noch nicht auf der Welt gewesen. Kann ein Lebewesen in eine Zeit reisen, die vor seiner Geburt liegt?
Und dann hätten wir es ausprobiert, wenn wir gekonnt hätten.
Es war schwierig, Pläne zu schmieden, ohne dass Holly oder mein Vater davon Wind bekamen. Holly merkte es immer sofort, wenn ich ihr nicht die ganze Wahrheit auftischte oder völligen Unsinn erzählte. Jetzt würde ich alles dafür geben, zurückgehen zu können. Selbst wenn das bedeutete, dass ich mir anhören musste, wie sie mich anschrie, oder sie mich stundenlang aus ihrem Zimmer ausschloss.
Die Kellnerin kam zurück, also zog ich mein Portemonnaie aus der Tasche und schob eine Kreditkarte an den Rand des Tisches. Dann blätterte ich mein Tagebuch durch und suchte nach etwas, das mir helfen konnte, einen Plan auszuarbeiten. Irgendeinen Plan. Meine Finger erstarrten, als ich zu einer Seite kam, auf der oben 13. Januar 2003 stand.
Die Kreditkarte wurde vom Tisch genommen, und die Kellnerin stapfte wieder davon, während ich auf die Wörter starrte, die ich geschrieben hatte.
Ich glaube, mein Vater arbeitet für die CIA!
Allein beim Gedanken daran, wie Dad mir die Hände um den Hals gelegt und mich mit kalter Wut im Blick angesehen hatte, schoss mir Adrenalin ins Blut und brachte wieder Leben in meine Muskeln. Er hatte nicht gesagt, dass er bei der CIA sei. Aber er hatte sich in diesem Moment absolut so verhalten. Nicht dass ich mehr über die Central Intelligence Agency wusste, als Hollywood mir beigebracht hatte. Aber etwas wusste ich doch. Ein CIA-Agent (oder Ex-Agent) würde mich und meine Schwester am Morgen des 13. Januar 2003 beschatten. Ich wusste nicht, warum ich mich gegenwärtig auf diesen einen Punkt konzentrierte, aber die Idee, dass ich das zu der Stimme aus dem Telefon-Lautsprecher passende Gesicht zu sehen kriegen konnte, erschien mir als ein guter Grund. Ehrlich gesagt hatte ich für die meisten meiner Aktionen in den letzten Tagen alles andere als logische Gründe gehabt; auf der Suche nach etwas Konkretem, woran ich mich festhalten konnte, war ich einfach ziemlich planlos (buchstäblich) durch die Zeit gestolpert. Ich hatte nach einem Halt gesucht. Nach Fakten. Antworten. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf dieses Datum, das vier Jahre zurück lag.