33
15. August 2009, 1 Uhr 20
»Jackson!«
Meine Stirn lag auf der hölzernen Tischplatte. »Hm?«
Das war mit Abstand der schlimmste Zustand, in den ich bislang durch einen Sprung geraten war. Ich fühlte mich, als hätte ich vierzig Grad Fieber.
»Komm, du musst hier raus«, sagte Dad.
Er half mir auf und legte meine Arme um seine Schultern. Auf diese Weise schafften wir es durch den Flur und in den Aufzug und stolperten dann in Dads Zimmer. Ich sank aufs Sofa, schloss die Augen und war nicht imstande, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen.
»O Mann, das ist ja wirklich übel«, sagte er. »Was brauchst du? Was zu essen, Wasser?«
»Nein«, stöhnte ich. »Das kommt alles nur gleich wieder raus.«
Er knipste eine Lampe an. »Was ist los? Warum starrst du auf deine Hände?«
Das war mir bis dahin gar nicht aufgefallen. Meine Hände sahen vollkommen sauber aus, doch mir war so, als könnte ich das klebrige Blut zwischen meinen Fingern spüren. »Ich habe die Wunde berührt. Der Mann hat geblutet. Ich fasse es nicht, dass ich das getan habe.«
»Welcher Mann?«
»Der Mann, den ich erschossen habe. Er ist tot. Na ja, er ist nicht wirklich tot, aber ich habe es trotzdem getan.«
»Aber … Hast du gesehen, was passiert ist? Mit ihr?« Er sprach mit erstickter Stimme und schlug die Augen nieder.
»Was sollte denn passieren? Wenn ich nicht da gewesen wäre?« Schlagartig wurde mir alles klar. Ich hatte keinerlei Erinnerungen an Eileen, und Dad fragte, ob ich gesehen hätte, was mit ihr passiert sei. »Wurde sie getötet? Im echten Jahr 1992?«
Dad nickte langsam und ließ meine Hände los. Er setzte sich auf den Fußboden.
Also war der rothaarige Mann damals, als sich das alles wirklich ereignet hatte, als ich nicht dort gewesen war, von niemandem daran gehindert worden, sie zu erschießen.
»Das war derselbe Mann: einer von den Typen, die dabei waren, als Holly erschossen wurde.« Ich konnte nicht aufhören, meine Hände zu betrachten – von denen das Blut des Mannes verschwunden war. Es war nicht real, doch es fühlte sich real an. »Tut mir leid. Ich konnte ihn nicht davonkommen lassen und nicht …«
»Nichts tun?«, fragte er, bevor er aufstand und sich auf den Sessel gegenüber von mir setzte.
»Das war dumm. Es hat nichts verändert.« Ich schob den Gedanken beiseite und stellte eine andere Frage: »Wer war sie? Eileen, meine ich.«
Er schwieg eine Weile, er musste sich erst sammeln. »Eine Wissenschaftlerin. Sie war absolut brillant und hat mit Dr. Melvin zusammengearbeitet. Sie ist auch die Frau, die dich und deine Schwester ausgetragen hat. Obwohl ihr nicht biologisch verwandt seid, hat sie sich als eure Mutter betrachtet.«
»Das habe ich gehört. Aber wir waren eigentlich nur ein Projekt für sie? Ein Auftrag? Dr. Melvin hat mir von der Leihmutter erzählt, die an dem Experiment beteiligt war.«
Er schüttelte den Kopf. »Am Anfang vielleicht, aber in dem Moment, in dem sie spürte, wie ihr sie getreten habt, und dann später, als sie euch im Arm halten konnte, wart ihr ihre Kinder. Zwei tolle Babys, die die Welt mit ihren brillanten Köpfen verändern würden. Das war das, was sie sich von dem Experiment erhofft hat.«
»Und was war deine Aufgabe? Sie zu beschützen?«
»Meine Aufgabe war es, dich und deine Schwester zu beschützen. Agent Freeman – nicht der, der dich heute attackiert hat, sondern sein Vater – hatte den Auftrag, Eileen zu beschützen. Ich bin zu dem Projekt dazugestoßen, als du und Courtney gerade anfingt zu laufen. Da wart ihr vielleicht elf Monate alt.«
»Nachdem ich diesen Mann erschossen hatte, warst du sauer auf Agent Freeman. Du hast gesagt, du wüsstest nicht, wo zur Hölle er sei.«
Aus Dads Gesicht wich alle Farbe. »Das solltest du gar nicht hören. Ich wollte bloß, dass du siehst, was passiert ist, damit du weißt, warum ich tue, was ich tue.«
»Du brauchst es nicht zu erklären.« Ich hielt meine Hände hoch, obwohl das Blut ja verschwunden war, und er nickte. »Du hast sie geliebt, nicht wahr?«
»Ja.« Seine Stimme brach, und er richtete den Blick auf den Fernseher. »Wenn ich irgendetwas ändern könnte, dann würde ich diesen Tag nehmen. Fünfzehn Sekunden mehr, und ich hätte sie absichern können.«
»Du hättest es auch fast geschafft, aber du hast zuerst mich und Courtney gegriffen«, sagte ich kaum hörbar.
»Ich weiß, was du denkst. Aber es nicht so, Jackson. Die Leute reden über Reue und Verbitterung, als würde das andauernd passieren. Wenn ich sie gerettet und zugelassen hätte, dass dir oder Courtney etwas zustößt, hätte sie mir das nie verziehen. Niemals.« Er lächelte vorsichtig, aber es war eher eine Grimasse voller Trauer. »Mir hat sie etwas hinterlassen, das sie liebte. Zwei kleine Wesen. Einen Teil von ihr, den ich behalten durfte. Schon vor ihrem Tod wollte ich euer Vater werden. Sie heiraten und als Familie leben. Das wurde natürlich nicht gern gesehen, aber ich war bereit, diese Grenze zu überschreiten, sobald ich gewusst hätte, wie ich es meinen Vorgesetzten am besten klarmache.«
»Es tut mir so leid, Dad«, sagte ich mit einem tiefen Seufzer. »Ich hatte mich schon gefragt, wer mich wohl aufgezogen hat, bevor du auf der Bildfläche erschienen bist. Jetzt weiß ich es.«
»Ich weiß, dass du mir nicht vertrauen willst, aber ich habe bereits die einzige Frau verloren, die ich geliebt habe, und meine Tochter. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.«
»Und du hast deinen Partner verloren?«
Er nickte. »Agent Freeman senior war mein Mentor. Er war brillant. Er starb am selben Tag wie Eileen. Seinen Sohn dann ebenfalls in den Dienst eintreten zu sehen und zu wissen, dass er seinen Vater bei der Arbeit verloren hat – das ist nicht leicht. Aber es hat Gründe, warum die Agenten von Tempest so jung sind. Die meisten überstehen es nicht lange.«
»Sie quittieren den Dienst?«
»Nein, das hat noch nie einer gemacht«, sagte er und wechselte dann das Thema. »Was ich dir sagen möchte, Jackson: Man kann dieses System umgehen, wenn man gut ist, und glücklicherweise bin ich so gut. Ich habe eine Reihe von Dingen vor Marshall und vor Tempest verheimlicht, um dich und Courtney zu schützen. Du brauchst dein Leben dafür nicht aufzugeben.«
Ich war noch damit beschäftigt, die Erlebnisse meines letzten Sprungs zu verarbeiten. »Aber warum steht ihr Name auf meiner Geburtsurkunde? Mit deinem Nachnamen?«
»Sie war für euch das, was einer Mutter am nächsten kam, und indem wir ihr meinen Nachnamen gaben, konnte ich dir und Courtney die Geschichte erzählen, eure Mutter sei an Komplikationen während der Geburt gestorben.«
»Wie war denn ihr richtiger Name?«
»Covington. Ihre Familie war extrem begütert. Sie stammte aus Schottland. Das hast du sicher an ihrem Akzent erkannt. Daher kommt auch unser Geld. Sie hat dir und Courtney einen Treuhandfonds hinterlassen. Wir wohnen in ihrer Wohnung. Ich habe euch das Leben ermöglicht, von dem ich dachte, dass sie es für euch gewollt hätte. Und das sich sehr von dem unterscheidet, wie ich aufgewachsen bin.«
»Wie bist du denn aufgewachsen?«, fragte ich.
Dad klopfte mir auf die Schulter. »Das erzähle ich dir ein andermal. Denk an das, was ich dir gesagt habe: Marshall weiß, wozu ich fähig bin, und er ist permanent auf der Hut. Deshalb ist es wenig wahrscheinlich, dass er mich in deine Ausbildung einbeziehen wird.«
»Warum?«
»Er weiß, an wessen Sicherheit mir am meisten liegt.« Er grinste. »Außerdem wollen sie, dass du gut bist, aber nicht gut genug, um allein zu arbeiten.«
»Oder gegen sie«, fügte ich hinzu.
Aus dem Funkgerät auf dem Waschtisch im Badezimmer drang ein lauter Warnton, und sofort schnellte Dads Kopf in diese Richtung. »Verdammt!«
»Was ist?«
»Das sind die Sensoren, die ich in eurem Zimmer angebracht habe.« Er öffnete den Safe und nahm eine Pistole heraus. »Möglicherweise ist da jemand eingedrungen.«
Obwohl ich mich nur wenige Minuten vorher kaum hatte bewegen können, sprang ich vom Sofa hoch und war schneller an der Tür als er. Wir stürmten durch den Flur und die Nottreppe hoch. Als ich um die Ecke bog, stieß ich frontal mit Holly zusammen, die vor der Tür zu unserem Zimmer stand.
Holly schnappte nach Luft, fiel aber nicht um. Ich hingegen war zu schwach, um mich auf den Beinen halten zu können, und sank zu Boden. Es dauerte wohl eine Sekunde, bis sie begriff, wer da in sie hineingerannt war. Der ganze CIA-Kram hatte sie wahrscheinlich nervös gemacht.
»O Gott, Jackson, du hast mich zu Tode erschreckt«, sagte sie. »Ich wollte dich gerade suchen gehen. Was ist los?«
Dad reichte mir die Hand und half mir auf. »Er ist nicht ganz gesund. Vielleicht eine Lebensmittelvergiftung.«
»Du siehst echt blass aus«, sagte Holly und legte einen meiner Arme um ihre Schulter. Dann öffnete sie die Tür, und ich verkroch mich ins Bett, kaum dass ich im Zimmer war.
»Ich hole Wasser«, sagte Dad.
Holly band meine Schnürsenkel auf und zog mir die Schuhe aus, dann setzte sie sich aufs Bett und lehnte sich an das Kopfteil. »Wenn du ein bisschen näher rückst, passen wir unter dieselbe Decke.«
Ich robbte an sie heran, bis ich meinen Kopf auf ihren Schoß legen konnte. Sie warf eine Decke über mich und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.
»Danke, Hol.«
»Brauchst du noch irgendwas?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf und driftete in den Schlaf.
»Ich weiß noch, dass einer meiner Erstklässler geweint hat, als ich ihnen erzählte, ich würde mit der U-Bahn nach Hause fahren«, sagte Holly lachend.
»Die Kriminalitätsrate in U-Bahnen oder anderen öffentlichen Verkehrsmitteln ist weitaus niedriger, als die meisten Leute glauben«, erwiderte Dad.
»Ich gebe Hollywood die Schuld. Die machen zu viele Filme mit explodierenden Bussen und Verfolgungsjagden in der U-Bahn«, sagte Holly.
»Kam Ihnen das nicht merkwürdig vor? Auf Kinder aufzupassen, die persönliche Angestellte haben und ein anderes Leben gar nicht kennen?«, fragte Dad.
Holly lachte erneut. »Zuerst vielleicht schon. Als ich noch Turnunterricht gegeben habe, habe ich die Kinder mit Pennys bestochen, damit sie neue Sachen ausprobieren. Aber schon nach dem ersten Tag bei den Ferienspielen war mir klar, dass ich da mit Pennys nicht weit komme. Aber ich glaube, jedes Kind wird vor irgendetwas geschützt.«
»Ja, das stimmt wahrscheinlich«, sagte Dad.
Schließlich schlug ich die Augen auf. Dad saß auf einem Sessel auf der anderen Seite des Bettes. Ich drehte mich um und schaute Holly an. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Ein, zwei Stunden.« Sie legte ihre Hand an meine Wange. »Wie geht es dir?«
»Besser.« Ich setzte mich langsam auf und lehnte mich neben Holly an das Kopfteil. »Wie kommt es, dass du noch hier bist, Dad?«
Er stand auf und reichte mir eine Flasche Wasser. »Ich wollte nur sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Und Holly ist eine angenehme Gesellschaft. Ich hab gar nicht gemerkt, dass schon zwei Stunden vergangen sind.«
»Ja, mit ihr kann man es sehr gut aushalten.« Ich legte einen Arm um sie und zog sie an mich. »Egal, was er dir erzählt hat, es ist nicht wahr.«
Holly lachte und schüttelte den Kopf. »Du warst also doch gar nicht mit einem der Mädchen aus dem Musical von Natürlich blond liiert?«
»Okay, das ist wahr, aber nur ungefähr zwei Wochen lang.«
»Das war das unausstehlichste Mädchen, dem ich je begegnet bin«, sagte Dad.
Ich nickte. »Stimmt!«
Dad stand auf und ging zur Tür. »Ich leg mich mal ein paar Stunden hin, bevor wir Pläne für den heutigen Tag machen.«
»Dad?«
»Ja?«
Ich warf einen Seitenblick auf Holly und sah dann wieder ihn an. »Ich bleibe meiner Entscheidung, ins Familienunternehmen einzusteigen.«
Seine Miene verfinsterte sich. Dann wies er mit dem Kinn zur Tür, um mir zu bedeuten, dass er mich unter vier Augen sprechen wollte. Holly verstand den Wink ebenfalls und knuffte mich, damit ich aufstand. Als wir auf der anderen Seite der Tür standen und Dad den Flur mehrfach mit Blicken abgesucht hatte, sagte er schließlich: »Lass uns morgen noch mal darüber reden, aber nicht hier. In so großen Gebäuden ist es schwierig, für Sicherheit zu sorgen. Ich kann unmöglich jede Ecke überprüfen.«
»In Ordnung.«
»Wir können segeln gehen. Freeman kann in der Zeit ein Auge auf deine Freunde halten.«
Ich schüttelte sofort den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich meine, ich gehe auf ein Boot, aber Adam und Holly kommen mit. Und ich möchte zwar, dass du mir alles erzählst, aber ich habe Marshall bereits mein Wort gegeben und werde meine Meinung in dem Punkt nicht mehr ändern.«
Er blies die Luft aus. »Bist du dir sicher, dass es das ist, was du willst?«
Ich nickte. »Ich werde nicht zulassen, dass die Geschichte sich wiederholt.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte er. »Aber wir sollten trotzdem reden, bevor irgendwer Gelegenheit erhält, diesen Job zu glorifizieren und dir Flausen in den Kopf zu setzen.«
Dad seufzte und ging zur Treppe. Im Augenblick war er der einzige Mensch, der wusste, auf wie viele Arten man meinen Satz interpretieren konnte. Der 30. Oktober 2009 mochte in dieser Zeitleiste der Zukunft angehören, aber für mich war er Geschichte. Und was Eileen zugestoßen war, würde Holly nicht zustoßen. Um dafür zu sorgen, war ich zu allem bereit.
Als ich zurück ins Bett krabbelte, wurde mir plötzlich eins klar: Ich war offiziell in der CIA. Das war keine erfundene Geschichte mehr. Ich zog Holly nach unten, bis sie neben mir lag, dann beugte ich mich zu ihr und küsste sie. »Du bist so hübsch. Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«
»Ja, ich mag Geheimnisse. Vor allem deine.«
»Ich wollte dich schon küssen, als ich dich das erste Mal sah.«
»Wirklich?« Sie hob den Kopf und küsste mich auf die Nase. »Erzähl mir noch ein Geheimnis.«
»Ich hab meiner Schwester versprochen, dich zu heiraten.«
Holly lachte. »War das eine von deinen Halluzinationen, als du an diesem Test von Adam teilgenommen hast?«
Ich zog den Kopf ein und drückte meine Lippen auf eine Stelle direkt unterhalb ihres Schlüsselbeins. »Ja, genau. Ach, und wir bekommen sechs Kinder.«
»Sechs!«
»Ja, also heb diese riesige Unterhose auf, du wirst sie noch brauchen.«
Holly lachte so heftig, dass sie den Tränen nah war. Dann verschwand ihr Lächeln, und sie sah mich eine Minute lang mit einem harten wissenden Blick an. »Hast du das ernst gemeint, als du gesagt hast …«
Ich wusste, worauf sie hinauswollte. »dass es schwer ist, sich sicher zu sein, bis plötzlich alles anders ist?«
Ihre Hände griffen nach mir. »Was ist passiert?«
»Nur ein sehr schlechter Traum.«
»Erzähl ihn mir.«
Ich legte meinen Kopf aufs Kissen. »Hast du jemals jemanden sterben sehen?«
»Nein«, antwortete sie und wandte sich mir zu, so dass unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Noch nie.«
Ich erzählte ihr die ganze Geschichte von meinem Besuch bei Courtney im Krankenhaus, stellte sie aber als Traum oder Halluzination dar. »Ich habe lange geglaubt, mein Vater würde es mir verübeln, dass ich der Gesunde bin und noch lebe.«
»Ich glaube nicht, dass das wahr ist«, sagte Holly, und im gleichen Moment fielen Tränen aus ihren Augen auf das Kissen. Sie wischte sie schnell weg.
»Tut mir leid. Ich hätte das nicht alles bei dir abladen sollen.«
»Nein, ist schon gut. Du kannst mir alles sagen. Und das meine ich ernst.« Sie nahm meine Hand und führte sie an ihre Lippen. »Ich wünschte, ich wüsste, wie sie ausgesehen hat.«
»Aber du sie hast doch …«, ich unterbrach mich, da mir wieder einfiel, dass die Holly von 2009 nur ein leeres Zimmer und ein paar Bilder von mir in der Wohnung gesehen hatte. »Ich meine, möchtest du ein Foto sehen? Ich hab eins.«
Sie nickte, und ich wühlte in meinem Portemonnaie herum und zog die Karte heraus, die ich Courtney nie überreicht hatte, zusammen mit einem Foto, das uns beide an Heiligabend im Central Park zeigte, nur einen Monat bevor sie krank wurde. Hollys Augen wanderten von dem Foto zu dem Geschriebenen auf der anderen Seite. Und ich ließ sie lesen, weil die Holly von 2007 es auch getan hatte und es mir daher nur fair erschien.
Sie wischte sich die Tränen weg und reichte mir die Karte zurück; ihr Blick verriet, dass sie entschlossen war, sich zusammenzunehmen. »Ich hätte das auch nicht gekonnt. Jemandem, den man liebt, beim Sterben zuzusehen. Ich hätte viel zu große Angst davor gehabt.«
»Ich weiß, dass du es könntest, Holly.« Ich streichelte ihre Wange.
»Jetzt vielleicht schon, aber mit vierzehn auf keinen Fall.«
Ich lächelte sie an; sie war noch immer den Tränen nah. »So, jetzt ist aber Schluss mit dem traurigen Zeug. Das ist ja Folter, dich mit all dem zu quälen.«
»Dann reden wir aber auch nicht mehr davon, dass ich sechs Kinder kriegen soll. Allein bei dem Gedanken habe ich das Bedürfnis, die Beine übereinander zu schlagen und daran nie wieder was zu ändern.«
Das war genau das Richtige, um mich aus meiner gedrückten Stimmung zu reißen. »Das liebe ich so an dir, dass du mir ohne mit der Wimper zu zucken solche Sachen an den Kopf knallst. Wie wäre es, wenn du mir jetzt ein Geheimnis verrätst? Oder mir vielmehr eine Frage beantwortest.«
»Vielleicht …«
»Wie bist du an einen Typen wie David Newman geraten?«
»Was stimmt denn nicht mit David?«
»Nichts, aber was hat dich an ihm gereizt? Wie fing das alles an?«, fragte ich.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Willst du das wirklich hören?«
»Ich bin nur neugierig, das ist alles.«
»Wir haben uns irgendwann mal betrunken und auf einer Party vor jeder Menge Leute rumgeknutscht, und da wir schon gut miteinander befreundet waren, haben sie einfach angenommen, das wäre unser Moment gewesen. David war so betrunken, dass er sich nicht mal mehr daran erinnern konnte. Und es auch immer noch nicht kann.«
»Das ist alles?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, als ich noch jünger war, hatte ich die Vorstellung, dass der perfekte Mann irgendwo auf mich wartet, und dann hab ich einfach beschlossen …«
»… dich mit weniger zufriedenzugeben?«
Sie lächelte verlegen. »Ja, aber das war keine bewusste Entscheidung. Ich kannte die Alternative ja nicht.«
Ich rutschte näher und ließ meine Hände um ihre Taille gleiten. »Ich weiß, was du meinst.«
»Eine Zeitlang habe ich dich dafür gehasst, dass ich wegen dir Zweifel an meiner Entscheidung bekam. Mit David fühlte ich mich nicht … Er hat nicht …«
»… deine Leidenschaft entfacht?«
»Nein, das hat er nicht.« Sie küsste mich, rollte sich auf mich und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Dann lehnte sie sich zurück, um zu gähnen. »Entschuldigung.«
Ich drückte sanft ihren Nacken nach unten, bis sie ihren Kopf auf meine Brust legte. »Schlaf ein bisschen. Du siehst erschöpft aus.«
»Möchtest du, dass ich rüberrutsche?«, fragte sie leise lachend.
Ich legte meine Arme fester um sie. »Nein, bleib liegen. Du bist schön warm.«
Sie hob den Kopf. »Darin warst du schon immer gut.«
»Worin?«
»Du hältst mir immer genau im richtigen Moment die Hand und hast ein perfektes Timing beim Küssen. So als wäre das deine Art das zu sagen, was du nicht sagen kannst. Aber ich wusste, dass du es irgendwann tun würdest.« Sie legte ihren Kopf wieder auf mein Hemd.
»Tut mir leid, dass ich jemals an deiner Geduld gezweifelt habe.«
Die ganze restliche Nacht machte ich kein Auge zu. Ich lag einfach nur da, spürte, wie Hollys Wärme durch meinen Körper strömte, und dachte an Dad und an das, was er alles verloren hatte. Er würde mich nicht im Stich lassen. Selbst wenn es seine Aufgabe war, jemand anderen zu retten. Das wusste ich jetzt.
Die Narben an seiner Schulter von der Kugel, die ihn siebzehn Jahre zuvor getroffen hatte, hatte ich bereits gesehen, aber nicht gewusst, woher sie stammten. Wie konnte ich mich im Jahr 2007 nur hinsetzen und jammern, weil ich eine jüngere Holly treffen musste, eine, die mich nicht kannte, wenn mein Vater keine Chance hatte, Eileen jemals lebend wiederzusehen?
Und seitdem ich erfahren hatte, dass sie wie eine Mutter zu uns gewesen war, wollte ich noch so viel mehr über sie wissen. Alles. Wenn das nur nicht so weit zurückgelegen hätte. Als die ersten Sonnenstrahlen durch den Vorhang fielen, wusste ich, dass die Dinge nie mehr so einfach sein würden wie in diesem Moment. Aber ich ließ keine Gedanken an etwas anderes zu. Noch nicht.