14. KAPITEL

„Du siehst umwerfend aus“, flüsterte Oleg ihr im Vorbeigehen ins Ohr. Andrea trug ein dunkelblaues kurzes Kleid, dessen elastischer Faseranteil ganze Arbeit leistete und sich ohne eine Falte über einen einteiligen und beinahe nahtlosen Body schmiegte. Dazu einen blassrosa Seidenschal und Schuhe gleicher Farbe. Ein Nachteil dieser elastischen Stoffe war, dass man ständig am Saum des Kleides zupfen musste, um es ja nicht zu weit hochrutschen zu lassen. Aber bei einer Vernissage gab es keine Sitzplätze. Also genoss sie die Wirkung ihres Outfits, lächelte Oleg an und schritt weiter durch den Raum. Sie schüttelte Hände, nickte zustimmend, ermunterte zaghafte Gäste, kannte den Namen eines jeden Angehörigen von Rüdiger Hauswald, der Gott und die Welt für diese Vernissage mobilisiert hatte. Jeden der Gäste bedachte Andrea mit einem Lächeln oder einem Wort zum Bild, vor dem er gerade stand. Sie erkannte unter ihnen diejenigen, die ohne jede Ahnung zur Kunstszene gehören wollten und die dem Künstler angestrengt zuhörten, um sein Wortrepertoire für die nächste Vernissage strategisch günstig einzusetzen. Sie kannte auch die Schnorrer und die, die nur den neuen Partner an ihrer Seite beeindrucken wollten, und sie ahnte, wer die ernsthaften potenziellen Käufer waren. So, wie das Ehepaar, das gerade im Gespräch mit Rüdiger Hauswald vertieft ihm förmlich an den Lippen hing. Zur Verstärkung seiner Aura legte sie die Hand auf seinen Unterarm. Die Augen seiner Gesprächspartner funkelten noch stärker, und Andrea war sich sicher, dass das Paar über einen Kauf zumindest nachdachte.

Sie nahm ihre Hand von dem wertvollen Künstlerarm und wandte sich zur Tür, denn in diesem Moment trat ihre Mutter ein. Mit ihrer vornehmen Zurückhaltung war sie eine Bereicherung für jede offizielle Feier. Dazu war sie wunderschön. Andrea wurde warm ums Herz. In den gesamten drei Jahren hatte ihre Mutter bei keiner Vernissage gefehlt. Dabei hatte sie damals, als Andrea die Räume suchte, auf den Kurfürstendamm geschworen. Andrea hatte nur gelacht, denn für sie hatte der Ku’damm seine Hochzeit vor gefühlten hundert Jahren gehabt. In einer Zeit, in der noch mehr Leute als nur ihre Eltern in Ost-West-Kategorien dachten. Wenn ihre Mutter in die Galerie kam, nach Ostberlin fuhr, wie sie es noch immer formulierte, musste sie nach wie vor das Navi einschalten.

Andrea begrüßte und umarmte ihre Mutter und ließ sie erschrocken wieder los, denn sie erkannte hinter ihr ihren Vater. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal in ihrer Galerie gewesen war.

„Wir dachten, du brauchst heute vielleicht besondere Unterstützung. Aber wie ich sehe, war das ein Irrtum. Wie viele Leute sind da? Dreißig? Vierzig?“

„Zwei Drittel sind Verwandte und Freunde des Künstlers. Aber pst! Nicht weitersagen, Papa“, flüsterte sie ihm bei ihrer Umarmung vergnügt ins Ohr. Gewohnheitsmäßig ging ihr Vater dabei in die Knie, denn er war in etwa so groß wie Oleg. „Soll ich euch den Künstler vorstellen?“, fragte sie und hakte ihre Mutter unter. „Danke, Papa, dass du mitgekommen bist.“

Er machte eine abwehrende Handbewegung, strahlte dabei aber über das ganze Gesicht. „Geht mal. Ich schau mich lieber allein um.“

Langsam ging Andrea Arm in Arm mit ihrer Mutter durch die Galerie und spürte, wie sie alle Blicke auf sich zogen. Ganz am Ende der Rundung ihres Iglu-Büroraumes stand Oleg. Ein Glas Prosecco in der Hand und lässig an die Wand gelehnt. Als er sie erblickte, stellte er sich kerzengerade auf. Andrea sah das Erstaunen und die Bewunderung, als seine Augen die Frau neben ihr erfassten. Dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. Schlagartig verlor sie jeden Zweifel, dass Oleg vielleicht nur ein Spiel mit ihr spielte. Sie wusste nicht, was es war, das ihr aus seinen Augen entgegenstrahlte, aber es schien echte Zuneigung zu sein. Sie spürte, wie ihre Mutter sie im Gehen prüfend von der Seite ansah und verbot sich, darauf zu reagieren.

„Mama, darf ich dir den Künstler Rüdiger Hauswald vorstellen? Herr Hauswald, das ist Frau Giorgia Wahrig-Bertani, meine Mutter. Sie ist eine Ihrer größten Bewunderer.“

Sichtlich erfreut übernahm Rüdiger Hauswald die weitere Führung ihrer Mutter, der Andrea wie schon so oft im Stillen dankte. Giorgia Wahrig-Bertani war die größte Bewunderin eines jeden ihrer bisherigen Künstler oder Künstlerinnen, spielte diese Rolle äußerst überzeugend und half Andrea bei der Gratwanderung, die eine Galeristin bei jeder Vernissage abzuleisten hatte: Ihre Aufmerksamkeit angemessen aufzuteilen zwischen der stolzgeschwellten Brust des Künstlers und den Gästen, die für den schnöden Mammon sorgen sollten.

Andrea zögerte, schwankte zwischen weitergehen in Richtung Oleg, der an unveränderter Stelle stand, oder umkehren, um sich einem beliebigen Gast zu widmen. Doch in diesem Moment hatte ihr Vater, der links herum den zentralen Büroraum umrundete, Oleg erreicht. Die Blicke der beiden Männer trafen sich, und sie nickten sich kurz zu. Geh weiter, Papa, flehte Andrea in Gedanken. Aber er tat ihr den Gefallen nicht. Er stellte sich etwas breitbeiniger als normal vor eines der Bilder. Umständlich legte er den Kopf zuerst nach rechts, dann nach links, bog dabei seinen Oberkörper ein Stück in die jeweilige Richtung mit, bis auch ein letzter Beobachter erkennen konnte, dass er über den Sinn und Inhalt dieses Kunstwerkes grübelte und beides nicht verstand.

Ach Papa! Geh einfach weiter. Am besten gleich auf die Straße. Zu spät. Dieser Einladung konnte Oleg nicht widerstehen. Wie befürchtet, trat er neben Andreas Vater und begann eine Unterhaltung.

Na, wenn du dich da mal nicht täuschst, Papa. Mit Sicherheit hatte ihr Vater einen Verbündeten in Oleg gesucht, und mit ebensolcher Sicherheit würde er den nicht finden. Zumindest in künstlerischer Hinsicht nicht. Sie nahm sich ein Glas Prosecco und lief weiter zwischen ihren Gästen herum. Dabei ließ sie die beiden Männer nicht aus den Augen. Während sie nach links und rechts lächelte, nickte, kurze Erläuterungen gab, Visitenkarten entgegennahm und ihrerseits auf den Stapel ihrer eigenen auf einem Tisch am Ausgang verwies, grübelte sie darüber, warum sie um Himmels willen ständig Oleg und ihren Vater verglich. An diesem Abend erschienen ihr beide so verschieden, wie Männer es nur sein konnten, egal wie herzlich sie gerade miteinander lachten und wie sehr sie sich offensichtlich gegenseitig amüsierten. Mehrfach ließ Oleg den Blick durch den Raum zu ihr schweifen, und sie bemühte sich um eine möglichst desinteressierte Mimik. Auch das schien ihn zu amüsieren.

Hätte sie das noch vor wenigen Wochen geärgert, glich es jetzt eher einem Spiel zwischen ihnen. Spätestens seit ihren gemeinsamen Überlegungen wegen der Sache Maximilian Ross schien es nur noch eine Frage der Zeit und der Gelegenheit zu sein, wann sie miteinander schlafen würden. Und der Gedanke daran verursachte, dass Tausende von Ameisen über ihren Körper liefen und sie sich nur mit Mühe daran hindern konnte, Oleg in diesem Moment einfach ins Gesicht zu sagen, dass sie Sex mit ihm haben wollte. Auch, um ihn endlich einmal aus seiner verdammten Überlegenheit zu reißen. Sie sah sich erneut nach Oleg um. Leider stand ihr Vater noch immer neben ihm, was ihren überraschenden Mut zusammenfallen ließ wie ein zu früh aus dem Ofen genommenes Soufflé. Stattdessen gesellte sie sich zu einigen Gästen, die auf der Straße eine Rauchergruppe gebildet hatten. Sie wollte sich gerade an der Unterhaltung beteiligen, als ihr Blick auf eine männliche Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel. „Maximilian?“, murmelte sie.

„Was ist?“, fragte Oleg direkt hinter ihr. Hatte er nicht gerade eben noch neben ihrem Vater am anderen Ende der Galerie gestanden? Sie überquerte die Straße. Doch in diesem Moment drehte sich der Fremde von ihr weg, noch bevor sie sein Gesicht genau erkennen konnte, und entfernte sich schnell. „Maximilian Ross?“, rief sie nun laut. Doch, obwohl keine weitere Person in der Nähe war, drehte sich der Mann nicht einmal um; im Gegenteil, er beschleunigte sogar seine Schritte. Ratlos blieb Andrea stehen. Die Größe und die Statur passten zu Maximilian. War er doch in Berlin? Wieso meldete er sich bei ihr nicht? Weder per Mail noch telefonisch. Und kam dann hier zur Galerie? Das ergab keinen Sinn.

Oleg war ihr gefolgt. „War das Maximilian Ross?“

„Ich muss mich wohl geirrt haben“, antwortete Andrea gedankenverloren.

Die Ausstellungseröffnung war schneller zu Ende gegangen, als sie gedacht hatte. Ein äußerst zufriedener Rüdiger Hauswald samt Lebensgefährtin war soeben gemeinsam mit ein paar engen Freunden des Künstlers als Letzter gegangen, und Andrea räumte Gläser und leere Flaschen zusammen. Oleg half ihr. Ihr Plan, ihn wenigstens ein kleines Stück aus seiner Überlegenheit zu schubsen, ging nicht auf. Längst schien er auch ohne Worte die emotionale Veränderung in ihr verstanden zu haben. Sie bewegten sich beide so unverfänglich wie möglich im Raum, der sich mit jeder Sekunde mehr mit Spannung auflud. Wie ein Luftballon, den man an einer groben Strickjacke rieb. Andrea war sich sicher, dass ihre Haare knisternd zu Berge stehen würden, sollte Oleg sie während des Aufräumens berühren. Sie schaffte es, ihm jedes Mal rechtzeitig aus dem Weg zu gehen, was anstrengender war, als auf dem Rummel eine ganze Runde Autoskooter ohne Kollision zu meistern.

Eine halbe Stunde später betrat Andrea Olegs kleine Wohnung. „Ich habe oft späte Termine, und immer ‚Nein danke!‘ sagen, wenn meine Kunden etwas zu trinken bestellen, kann ich auch nicht. Da ist es besser, ich habe auch ein kleines Domizil in der Stadt“, hatte Oleg ihr erzählt. Unter seinem Arm klemmte eine volle Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank der Galerie. Andrea sah sich um. Fast alle Möbel bestanden aus Glas und Chrom, die Couch war aus weißem Leder. Muss ein Vermögen gekostet haben, schoss es ihr durch den Kopf, als ihre Hand das angenehm kühle Material streichelte.

Ihr erstes Zusammensein war getrieben von hektischen Berührungen und kraftvollem Verlangen. Explosionsartige Entladung einer Spannung, die sich zu lange aufgestaut hatte. Danach lagen sie still beieinander und genossen das Gefühl, dass es genau so und nicht anders richtig war. Bis sie erneut Lust aufeinander verspürten. Ruhiger, leiser und sinnlicher. Bereits den gesamten Abend über fühlte Andrea eine seltsame Klarheit in dem, was sie tat. Sie war voller Optimismus. Sie war jung und gesund, und nicht zuletzt war sie erfolgreich. Das machte sexy. Ihre Figur war makellos und ihre Haut wie Seide. Oleg lag ihr nicht nur sprichwörtlich zu Füßen, sondern war ein wirklich guter Freund geworden, und in der Realität dieses Moments lag er sogar unter ihr. Es war ihr egal, wie lange eine Beziehung mit ihm dauern konnte, denn ihre Zukunft schien viel weiter geöffnet als jemals zuvor. Die ewigen Zweifel an sich selbst, seit sie denken konnte, die dichten Wolken vor ihrem Horizont, das alles schien wie weggeweht. Und das war auch Olegs Verdienst, besonders durch die Geborgenheit und Hilfe, die er ihr momentan bot. Dafür liebte sie ihn. Im Hier und Jetzt. Sie griff seine Hände, die ihre Hüfte umfasst hatten, und schob sie nach oben auf ihre Brüste. Er sollte spüren, wie schön sie waren, und sie wollte, dass seine Finger auf ihrer Haut nach ihr suchten. Sie beugte sich zu ihm herunter. Ihre Blicke saugten sich gegenseitig fest. Keine Überlegenheit mehr in seinen Augen. Er war nicht nur in ihr, sondern ganz bei ihr. Plötzlich beschleunigte er den Rhythmus seiner Bewegungen und unterbrach so ihre glasklaren Gedanken. Sie schwamm davon auf einer Welle der Erregung und Lust; kein Platz mehr für Analysen, kein Raum mehr für ihre Angst.

In der Nacht hatte Regen die Stadt gewaschen. Das Pflaster der Bürgersteige glänzte, und auf den geparkten Autos glitzerten die Regentropfen im Licht der aufsteigenden Sonne. Andrea sog die Luft tief ein. Der staubige Geruch war verschwunden, als sei die schwere Luft der vergangenen Sommertage durch einen Weichspüler geweht worden. Die Blätter der Straßenbäume sahen so frisch aus wie sonst nur im Frühling. Oleg begleitete sie, denn ihr Auto stand noch vor der Galerie. Er setzte sie dort ab, bevor auch er in seine Firma fuhr, und versprach, sich sofort zu melden, sobald Michael und der Mitarbeiter etwas Interessantes herausgefunden hatten. Sie sah ihm hinterher und schob dann die Gedanken an die letzte Nacht beiseite. Schnellstens mussten die Spuren der gestrigen Vernissage beseitigt werden, doch schon wieder bimmelte die Türglocke. Nur widerwillig unterbrach sie das Aufräumen und ging dem Galeriebesucher entgegen. Ein Mann, geschätzt Ende dreißig. Sein Gang war sportlich, sein Blick lässig, und die Jeans saßen perfekt. „Andrea Wahrig?“

Sie nickte.

„Florian Matussek. Kriminalhauptkommissar.“

Sein Händedruck war so selbstbewusst wie sein Äußeres. „Sie haben gestern Morgen eine Vermisstenanzeige nach einem Clemens Borchert alias Maximilian Ross aufgegeben. Dazu habe ich noch ein paar Fragen.“

Sie hatte damit gerechnet, dass das Formular noch immer auf einem der Schreibtische seiner Bearbeitung entgegensah, und jetzt besuchte sie gleich ein Kriminalhauptkommissar persönlich? Gleichzeitig mit dieser Überraschung nahm die Beklemmung zu, denn dies konnte nur eines bedeuten: Mit ihrem Schützling stimmte tatsächlich etwas gewaltig nicht.

„Sie haben eine Sammlung über Zeitungs- und Internetmeldungen gefunden, die sich angeblich im Besitz des Vermissten befand?“

Herzklopfend antwortete sie, was sie mit Oleg abgesprochen und auch am Vortag bereits zu Protokoll gegeben hatte. „Herr Ross war vor seinem Verschwinden hier bei mir in der Galerie. Wir hatten einiges wegen seiner bevorstehenden Ausstellung zu besprechen. Dabei hat er einen Aktenordner vergessen. Ich bemerkte es erst, als er weg war, und konnte ihn danach nicht mehr erreichen.“

„Und irgendwann haben Sie dann mal reingeschaut?“ Der Kriminalbeamte sah sie verschmitzt an.

„Hätten Sie das nicht gemacht?“, fragte sie lächelnd zurück.

„Ganz sicher. Aber kam es Ihnen nicht komisch vor, dass Herr Borchert diese Unterlagen bei einem geschäftlichen Termin mit sich führte? Was war sonst noch in dem Ordner?“

„Nur unser gemeinsamer Schriftverkehr und der Vertrag, alle Unterlagen, die seine kommende Ausstellung in meiner Galerie betrafen.“ Ihr Herz klopfte bei dieser Aussage. Oleg und sie hatten mit Kopien ihrer eigenen Unterlagen diesen ominösen Ordner produziert und die gesammelten Vermisstenanzeigen in eine Plastikhülle als Letztes darunter abgeheftet. „Vielleicht hatte er einen alten Ordner genommen und die Hülle nur vergessen auszuheften?“, spekulierte sie.

„Oder Herr Borchert wollte, dass Sie sie finden?“

„Aber warum sollten vermisste Personen eine Bedeutung für mich haben?“

„Ich weiß es nicht. Sagen Sie es mir. Der Ordner schien jedenfalls neu, und Fingerabdrücke haben wir nur zwei unterschiedliche gefunden. Keine von denen passte zu den Fingerabdrücken in Herrn Borcherts Wohnung. Merkwürdig, nicht wahr? Die Wohnung schien auch kürzlich durchsucht worden zu sein. Unauffällig zwar, aber auch Profis verraten sich gelegentlich.“

Sie antwortete nicht, weil sie befürchtete, ihre Stimme könnte ihre Unsicherheit verraten, und weil sie alle Kraft benötigte, seinem durchdringenden Blick standzuhalten.

„Wissen Sie, was die OFA ist?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Wollen Sie es wissen? Dann könnte ich Ihnen erzählen, was jemand von der OFA beruflich macht. Natürlich nur, wenn es Sie interessiert, und nur, wenn diese Maschine da arbeitsfähig ist. Ich hatte schon lange keine Pause mehr.“

Erfreut, ihn nicht mehr ansehen zu müssen, stand Andrea auf und machte sich am Kaffeeautomaten zu schaffen. Währenddessen sprach er weiter. „OFA heißt Operative Fallanalyse. Ich bin polizeilicher Fallanalytiker beim Bundeskriminalamt. Quasi ein Profiler, falls Ihnen das durch amerikanische Fernsehkrimis geläufiger sein sollte.“

Selbstverständlich wusste sie, was Profiler waren – und jetzt einem gegenüber zu sitzen, ließ sie schnell nicken.

„Wir haben jedes Jahr in Deutschland Fälle, in denen Menschen einfach verschwinden. Im fünf- bis sechsstelligen Bereich; Frauen, Männer, Kinder. Besonders Kinder. Siebenundneunzig bis achtundneunzig Prozent der Fälle lösen sich von selbst. Weggelaufene Kinder, geflüchtete Ehepartner. Bei dem Rest haben wir oftmals nicht die geringsten Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen. Die Leute verschwinden von einem Tag zum anderen und tauchen niemals wieder auf. Die Vermisstenanzeigen werden aufgenommen. Die Polizei vor Ort ermittelt, und die Daten werden in zentrale Vermisstenkarteien eingetragen. Gemeinsamkeiten der Fälle und Ähnlichkeiten der vermissten Personen werden analysiert. Aber, wenn keine Leichen auftauchen, keine Entführung vorliegt oder keine Hinweise am Tatort des Verschwindens uns helfen, bleiben wir meist ratlos. Normalerweise habe ich mit Fällen zu tun, wo wir wissen, dass es einen Täter gibt, die Personen also nicht freiwillig verschwunden sind. Aber seit drei Jahren arbeite ich nebenbei auch an einer Theorie, die einige vermisste Personen betrifft, bei denen es nicht sicher ist, ob es überhaupt einen solchen Täter gibt. Es geht um ein Datum, das ihnen allen gemeinsam ist.“

„Der 22. Januar?“

„Der jedenfalls in den Unterlagen, die Sie – sagen wir mal – gefunden haben, auffällig oft vertreten ist. Ich glaube, der Cappuccino ist fertig.“

Sie reagierte nicht. Erst als der Ermittler schwieg und sie beharrlich anlächelte, verstand sie, was er wollte. Sie schüttete ein bisschen Kakaopulver auf den Milchschaum und schob ihm die Tasse entgegen.

„Perfekt.“

„Aber keine Ähnlichkeiten zwischen den Personen. Es waren Frauen und Jungen, nicht wahr?“, drängte sie ihn.

„Es gibt siebzehn Vermisste, die alle an einem 22. Januar verschwanden oder entführt wurden. Zehn von denen befanden sich auch in den gesammelten Unterlagen Ihres Malers. Da kann man schon an einen Zusammenhang glauben. Alle Fälle ereigneten sich im nördlichen Bereich Deutschlands mit einer gewissen Konzentration auf Berlin und das Berliner Umland.“

„Retzow?“

„Sie meinen, weil das der Wohnort des Elternhauses Ihres Künstlers war? Nein, hier ist mir kein Fall bekannt.“

„Fingerabdrücke, Faser- oder DNA-Spuren bei den Fällen, wo man etwas gefunden hat?“

„Sie lesen gerne Krimis?“ Er schmunzelte über den Tassenrand hinweg. „Ein paar unbrauchbare Fingerabdrücke bei zwei alten Fällen. Danach nur noch Hinweise, dass der Täter, falls es denn einen gibt, Handschuhe trug. Fasern ja, aber Allerweltskleidung. Genmaterial: null. Auch die Zusammenstellung der von mir gesammelten Fälle ergibt keinen Sinn: fünf Jungen, sechs junge Frauen und sechs ältere. In den ersten Jahren könnte man ein Muster erkennen, aber das kann auch nur Zufall sein. Und bei den Jahresdaten gibt es eine auffällige Pause zwischen 1994 und 2001. Ansonsten ist fast jährlich um den 22. Januar herum eine Person verschwunden. Nur in den Jahren 1989, 2007 und 2008, im vorletzten Jahr und in diesem Jahr habe ich keinen entsprechenden Fall gefunden.“

„Siebzehn Fälle und die meisten davon im jährlichen Abstand. Und alle am 22. Januar. Wieso hat man nicht viel früher mit entsprechenden Ermittlungen angefangen?“

Er zuckte mit den Achseln. „Weil nicht jedes Mal der 22. Januar das Datum war, an dem die Personen von den Angehörigen als Tag des Verschwindens angegeben wurden, beispielsweise bei allein lebenden Menschen.“

„Der letzte Ausschnitt – diese Marlies von Graefen – ist nicht einmal eine Woche alt. Meinen Sie, dieser Fall hat ebenfalls etwas mit der Serie zu tun?“, fragte sie.

„Ich weiß, und auch fünf weitere Ausdrucke in der Sammlung Ihres Malers stammten aus anderen Monaten. Vier von ihnen würden genau die Jahreslücken in meiner Liste füllen. Aber das kann auch alles nur Spekulation sein. Meine Vorgesetzten glaubten sowieso nicht an einen Zusammenhang, sondern bei über hunderttausend Vermissten im Jahr an einen Zufall. Schade, dass Clemens Borchert offenbar erst 2001 begonnen hat, solche Nachrichten zu sammeln.“

„Mich wundert es eher, dass er schon 2001 angefangen hat. Immerhin war er da erst dreizehn“, widersprach sie. „Aber Sie sagten gerade, dass im Bereich von siebenundneunzig bis achtundneunzig Prozent die Vermisstenfälle aufgeklärt werden konnten. Und da klingt eine solche Häufung bei den ungeklärten Fällen doch nach allem anderen als nach Zufall.“

„Sie sprechen mir aus der Seele. Genauso habe ich auch argumentiert. Aber Sparmaßnahmen, aktuelle andere Fälle. Leider haben wir kaum mehr Personal, das sich ausschließlich um die ungeklärten Vermisstenfälle kümmern kann. Jedenfalls sind wir bemüht, schnellstmöglich Herrn Borchert zu finden, um von ihm selbst den Grund seines Interesses zu erfahren.“

„Und Sie meinen wirklich, hinter allem könnte ein Serienmörder stecken?“ Andrea musste sich Mühe geben, dieses Wort so gelassen wie möglich auszusprechen.

„Das sind alles nur Spekulationen. Und ich hoffe natürlich, dass ich mich irre.“

Das hoffte sie auch, von ganzem Herzen sogar. Denn alles andere bedeutete unter Umständen, dass ein Serienmörder ihr, Andrea Wahrig, Briefe geschrieben hatte.

„Wollten Sie mir noch etwas erzählen?“

Sie beeilte sich, den Kopf zu schütteln und fragte: „Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas wissen?“

Er erhob sich. „Haben Sie Fotos von den Bildern unseres verlustig gegangenen Malers?“

„Natürlich.“ Sie nickte, nahm die Fotos aus der Projektmappe und reichte sie ihm. „Die können Sie aber nicht mitnehmen.“

Er betrachtete die Bilder lange und eingehend. Drei Fotos sortierte er aus. „Könnten Sie mir diese einscannen und mailen? Hier ist meine Karte.“ Er hatte von Maximilians Bildern je ein Abbild eines Jungen, einer älteren und einer jüngeren Frau gewählt.

Es wäre der richtige Moment, ihm auch von den Drohbriefen zu erzählen. Eine irrationale Angst, die sie seit dem Erhalt ständig spürte, sie könne damit den Entführer verärgern, hielt sie davon ab. Die Polizei, sogar das Bundeskriminalamt, suchte nach dem Maler, und etwas anderes würden sie auch nicht tun, wüssten sie von den Briefen. Glaubte sie – oder besser hoffte sie – noch immer, dass Maximilian der Briefeschreiber war? Ein zugegeben dämlicher Versuch, seinen Rückzieher der Ausstellung zu untermauern? „Danke für Ihren Besuch“, sagte sie gedankenverloren und begleitete ihn zur Tür.

„Noch eine Frage: Wie gut kennen Sie Oleg Wesselov?“

Andrea stockte der Atem. Auch ohne Spiegel wusste sie, dass sich ihr Gesicht gerade rötete. „Was hat Oleg Wesselov mit unserem Gespräch zu tun?“, presste sie hervor.

„Nichts. Ich sah nur, wie er Sie hier abgesetzt hat.“

„Ein Kunde. Woher kennen Sie ihn?“

„Bestimmte Leute kennt man eben.“ Er sah sie an, als prüfte er einen Mitspieler am Pokertisch. „Reine Berufsneugier.“

Das Telefon klingelte. „Entschuldigen Sie, ich muss zurück ins Büro.“

„Bis bald“, rief er fröhlich.

„Nein. Warten Sie bitte“, rief sie in einem zitternden Ton, in dem all ihre Verwirrung lag. Hastig fertigte Andrea am Telefon den Installateur der Lichtwände ab. Der Einbruch in Ross’ Wohnung. Olegs ständige Anwesenheit in der Galerie. Seine Kenntnis ihrer Privatanschrift. All das hatte sie in dem Gefühlschaos der letzten Tage verdrängt. Möglicherweise, nein, sehr sicher, bewegte sie sich in einem kriminellen Umfeld, indem sie sich mit Oleg abgab. Jetzt traf sie die Erkenntnis mit voller Härte. Doch gleichzeitig regte sich ihr Widerspruch. Vielleicht hatte Oleg Wesselov mit Betrug, Schmuggelei oder Geldwäsche zu tun, und daher kannte ihn das Betrugsdezernat. Aber dieser Matussek beschäftigte sich mit vermissten Menschen. Wie oft las man vom Menschenhandel aus den osteuropäischen Staaten, der im Schutz ganz legaler Firmen geschah? Oder von Entführungen von Kindern für einen internationalen Pornoring? Unkontrolliert brach Andrea in Gelächter aus. Ihre Fantasie ging mit ihr durch. Durch die Lamellen vor dem Bürofenster prüfte sie, ob der Profiler noch an der Tür stand. Was sollte sie ihm jetzt sagen? Am besten wäre die Wahrheit. Er strahlte Kompetenz und Vertrauen aus. Und er war von der Polizei. Der richtige Ansprechpartner, wenn man bereits zwei Drohbriefe eines Verrückten erhalten hatte – und seit gestern Nacht einen polizeibekannten Geliebten hatte.

„Ich wollte Sie noch etwas fragen, und jetzt habe ich es vergessen“, lachte sie Florian Matussek entschuldigend an. „Ich bin ein wenig im Stress im Moment.“ Sie sah in sein skeptisches Gesicht. „Wissen Sie, das Verschwinden des Künstlers hat auch Folgen für mich! Finanziell und auch für mein Renommee. Deshalb wäre es einfach nett, wenn Sie mir Bescheid geben würden.“ Und ich werde Ihnen Nachricht geben, sobald ich mit Oleg geklärt habe, was da läuft. Versprochen, hätte sie am liebsten hinzugefügt. Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie jetzt aufgehalten habe.“

Nachdem der Profiler nun endgültig die Galerie verlassen hatte, verspürte sie das dringende Verlangen, Oleg sofort zur Rede zu stellen. Sie konnte unmöglich warten, bis er vielleicht irgendwann am Tag noch einmal in die Galerie kam. Was wusste sie schon von ihm und seinen Geschäften? Vielleicht gab es da noch wesentliche Dinge, nach denen sie bisher nicht im Traum gedacht hatte zu fragen? Sorgsam verstaute sie Florian Matusseks Visitenkarte in ihrer Handtasche, hängte das Abwesenheitsschild an die Tür und schloss die Galerie.