5. KAPITEL

Sie hatte den Drohbrief beinahe wieder vergessen und das vergangene Wochenende in der Galerie gearbeitet. Doch in der letzten Nacht hatten sich die Post des Unbekannten, die Gesichter, Maximilians Werke und der Inhalt ihres aktuellen Krimis zu einer Mischung zusammengefunden, die Andrea jeglichen erholsamen Schlaf geraubt hatte. Nicht einmal der Kaffeevollautomat konnte heute etwas an ihrer miesen Stimmung ändern. Seufzend startete sie ihr MacBook und kontrollierte als Erstes, ob Martin bei Skype online war. Doch er war natürlich nicht angemeldet. Bei ihm war es jetzt mitten in der Nacht, und er würde tief und fest in seinem Bett schlafen. Aber vielleicht studierte er auch das Nachtleben von Singapur, womöglich in attraktiver weiblicher Begleitung. Es wäre sein gutes Recht. Trotzdem versetzte ihr diese Vorstellung einen Stich. Seit ein paar Wochen war er am anderen Ende der Welt und arbeitete an seiner vielversprechenden Karriere. Wirklich beendet hatten sie die Beziehung nicht, und doch war beim Abschied am Flughafen klar gewesen, dass sie fortan ein „Ex“ vor ihrer Freundschaftsbezeichnung tragen würden. Sie hatten nur wenige Zentimeter voneinander entfernt am Check-in gewartet, und als sie sich dann mit einer Umarmung verabschiedeten, hatte es sich angefühlt, als sei Martin bereits in der endgültigen Flughöhe von zehntausend Metern angekommen.

Trotzdem hätte sie gerade jetzt seinen Rat bitter nötig. Schon den ganzen Morgen über versuchte sie, sich selbst davon zu überzeugen, dass der ominöse Brief nichts weiter als ein übler Scherz gewesen war. Wahrscheinlich sogar von dem verärgerten Maler, dessen Ausstellung sie zugunsten Maximilian Ross’ verschoben hatte.

Ihr E-Mail-Postfach gab piepend eine neue Nachricht bekannt.

Liebe Frau Wahrig,

ich habe nachgedacht, und ich bin mit der geplanten Ausstellung nicht glücklich. Bitte lassen Sie uns eine Alternative ausarbeiten. Wir könnten z. B. nur eines der Glasbilder ausstellen, z. B. das des schlafenden Jungen. Wenn tatsächlich Kunden daran interessiert sein sollten – was ich nicht glaube –, könnten wir uns ja mit denen verabreden, um weitere zu zeigen. Bitte verstehen Sie, dass ich meinen künstlerischen Weg nicht in den Glasbildern sehe. Es widerstrebt mir, darum so ein Aufhebens zu machen.

Hoffnungsvolle Grüße

Ihr Maximilian Ross

Andrea rief seine Festnetznummer an, erreichte aber nur den Anrufbeantworter, bei seiner Handynummer nur die Mailbox. Mit betont fröhlicher Stimme sprach sie ihre Bitte um Rückruf, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.

Was sollte das alles? Irgendjemand drohte ihr mit dem Tod der Mutter, wenn sie die Ausstellung nicht absagte. Jetzt wollte auch der Künstler selbst am liebsten die Glasbilder nicht mehr? Ausgerechnet sie sollten doch das Zugpferd sein. Die anderen seiner Bilder konnte er sich sonst wohin … War der Drohbrief etwa von ihm? Um sie weichzuklopfen? Blödsinn! Er wäre nicht gestern noch, nach der Zustellung der zweifelhaften Post, in die Galerie gekommen, um mit ihr die Einzelheiten zu besprechen. Aber vielleicht hatte er einen ähnlichen Brief erhalten? Sie musste auf der Stelle persönlich mit ihm sprechen, um sich Gewissheit zu verschaffen.

Eilig verließ sie die Galerie und machte sich auf den Weg. Maximilian Ross wohnte in der Reichenberger Straße 42 in Berlin-Kreuzberg. Während sie Ausschau nach einem Parkplatz hielt – am Wochenende ein schier aussichtsloses Unterfangen –, dachte sie an das erste Treffen mit ihm. In gewisser Weise war es unheimlich gewesen, und der Drohbrief und die heutige Mail des jungen Mannes milderten den Eindruck auch im Nachhinein kein bisschen ab.

Pünktlich hatte sie vor drei Wochen vor dem Haus gestanden, dessen Erdgeschossfassade komplett mit weißen Linien besprüht war. Die Haustür hatte einen Spalt offen gestanden und den Geruch von frischen Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln und muffigem alten Holz auf die Straße entlassen. Klarglasscheiben dienten als billiger Ersatz für die ehemals sicher bunten Kassettenfenster. Im Halbdunkel war Andrea die Stufen bis in den ersten Stock hinaufgestiegen.

Erst auf das zweite Klingeln hin öffnete ihr Maximilian Ross, und sie stellte fest, dass diesem Mann absolut nichts Künstlerisches anhaftete. Das Verhältnis zwischen kurzem Unter- und langem Oberkörper ließen ihn kleiner erscheinen, als er tatsächlich war. Er bat sie herein, und seine Stimme wirkte kaum lebhafter als der erste Blickkontakt.

Das Wohnzimmer hatte zwar ein großes Fenster und sogar Zugang zu einem Balkon, doch die Straßenbäume ließen so gut wie kein Licht herein. Für einen Maler denkbar ungünstige Bedingungen, dachte sie und entdeckte an der Zimmerdecke sechs mindestens zwei Meter lange Leuchtstoffröhren. Besondere, die, wie ihr der junge Künstler erklärte, Tageslicht simulieren sollten und deshalb ein Vermögen gekostet hätten.

Er führte sie in den anliegenden zweiten Raum. Dieser maß mindestens zwanzig Quadratmeter, aber bewegen konnte man sich nur enge Gassen entlang. In mehreren parallelen Reihen standen Holzgestelle, wie man sie auf den Lieferwagen von Glasereien sah. Einige der Gestelle waren leer, andere bargen offenbar die Schätze des Malers, denn sie waren mit vergilbten Bettlaken verhängt. Auf dem Fußboden überlappten sich mehrere in Farbe und Material unterschiedliche Teppichbodenreste, die wahrscheinlich noch niemals Kontakt mit einem Staubsauger gehabt hatten. Maximilian steuerte auf ein Billy-Regal an der Wand zu, das mit Pinseln, Farbtöpfen, Gläsern und anderen Malutensilien gefüllt war. Davor lehnten Leinwandbilder in unterschiedlicher Größe. Maximilian begann, diese Bilder so auseinander zu stellen, dass Andrea sie betrachten konnte.

„Interessant, aber in erster Linie würden mich die Glasbilder interessieren, von denen die ‚tip‘ berichtet hat“, wiederholte sie freundlich das Anliegen aus ihrem Telefongespräch. Er wirkte im ersten Moment enttäuscht, um sie gleich danach wieder so teilnahmslos anzusehen wie zuvor. Als er das erste Tuch in seiner Reichweite herunterzog, freute sie sich. Es war jedes Mal ein besonderer Augenblick, vor einem Original zu stehen, egal wie hochauflösend die Bilder in der Präsentationsmappe eines Künstlers waren. Doch ihr Mund blieb offen stehen, und ihr Pulsschlag erhöhte sich rasant, denn auf diesen Anblick war sie nicht vorbereitet. Beeindruckt und gleichzeitig zutiefst erschrocken betrachtete sie die ungefähr ein Meter achtzig hohe Glasplatte, die im unteren Bereich zu zwei Dritteln mit unregelmäßigen geometrischen Feldern bedeckt war. Grün, gelb, blau und violett, aber deutlich viel mehr Rot, zeigten ihre volle Sättigung nebeneinander. Die Farben wirkten dunkel, leuchteten aber gleichzeitig. Wie bei Bleiverglasungen von Kirchenfenstern oder Tiffanylampen grenzten sich die unregelmäßigen geometrischen Formen anthrazitfarben von einander ab. Unwillkürlich tastete Andrea mit dem Finger, ob sich die Linien tatsächlich vom Untergrund erhoben. Doch sie waren nur gemalt. Sein Handwerk beherrschte der Künstler also. Das obere Drittel zeigte den Oberkörper einer jungen Frau. Es schien, als sei das Gesicht unmittelbar hinter dem Glas, und Nase und gespreizte Hände pressten sich mit aller Kraft dagegen. Obwohl auch hier die Farben unnatürlich intensiv waren, wirkte das Gesicht der Frau erschreckend echt, als sehe man durch das Objektiv einer Kamera, vor dem ein Sättigungsfilter geschoben worden war. Diese Frau hatte definitiv Todesangst. Ihre unnatürlich geweiteten Augen standen vor. Der Mund war so weit aufgerissen, dass man die Kronen auf ihren Zähnen erkannte. In ihren Pupillen lag ungläubiges Staunen.

„Können Sie das Bild von hinten beleuchten?“, murmelte sie.

„Nein, in diesem Raum nicht. Im Wohnzimmer habe ich eine Lichtkonstruktion dafür gebaut. Aber wenn sie fertig sind, brauche ich kein Licht mehr.“

„Wollen Sie mir etwas zu Ihrer Intention für dieses Bild erzählen?“ Noch immer starrte sie auf das menschengroße Kunstwerk.

„Nein. Es spricht für sich.“

Überrascht sah Andrea ihn an. Sein Blick flackerte etwas, blieb aber bei ihr, bis sie ihren abwandte.

„Darf ich noch weitere sehen?“, fragte sie und stellte fest, dass ihre Stimme ungewohnt schüchtern klang.

Maximilian zeigte ihr noch drei Glasplatten, die jeweils als vorderste in den Gestellen standen. Mit der Begründung, die anderen zu enthüllen würde zu viel Aufwand bedeuten, lehnte er eine weitere Besichtigung ab. Zwei der Bilder zeigten ebenfalls Frauen. Beide mit jeweils ähnlich erschreckenden Gesichtsausdrücken. Auf dem letzten dagegen war ein Kind zu sehen. Ein Junge, etwa zehn Jahre alt. Er schlief friedlich. Nur die Finger seiner Hände, die auch wieder von der Innenseite gezeigt waren, schienen sich zu verkrampfen, so als wollten sie sich wie seine Bildnachbarinnen gegen die unsichtbare Oberfläche stemmen und nur die Kraft hierzu fehlte. Der Gesichtsausdruck wirkte kindlich und naiv. Andrea fragte sich, warum es sie beruhigte, dass Maximilian Ross auch fähig war, friedliche Bilder zu malen. Sie holte tief Luft und schlug vor, ins Wohnzimmer zurückzukehren, um sich das aktuelle Werk anzusehen.

Dort stand eines der Holzgestelle, das Andrea bisher nicht wahrgenommen hatte. Maximilian zog das Schutztuch ab und drückte einen Lichtschalter. Das obere Drittel des aktuell entstehenden Glasbildes war bereits vollständig mit Farbe bedeckt, in denen sich die Konturen eines Frauengesichtes abzeichneten. Obwohl das Abbild deutlich noch unvollendet war, konnte Andrea die Todesangst der jungen Frau bereits ahnen. Sie hatte ohnehin ständig das Empfinden, es wäre noch eine weitere Person im Raum. Hinter dieser Platte und doch gefangen in ihr, lange braune Locken schienen in nassen Strähnen an dem Glas zu kleben. Wie meine Haare, fuhr es Andrea durch den Kopf, und sie zwang ihren Blick wieder nach unten. Unordentlich lagen Acryltuben hinter der schräg angelehnten Glasplatte, eine der größeren Farbdosen war umgefallen, und rote Farbe hatte sich auf dem Packpapier ausgebreitet, das den Dielenfußboden schützen sollte. Sie brauchte dringend eine Pause von diesen Eindrücken. „Darf ich Ihr Bad benutzen?“

Der Maler schien sich in sein Bild zu vertiefen, als sehe er es das erste Mal, und zeigte nur mit dem Arm in Richtung Flur. Sie öffnete die erste Tür. Sofort strömte ihr ein markanter Geruch entgegen. Ein Frauenduft. Frisch und doch gleichzeitig ein wenig herb. Eine interessante Mischung. Prüfend sah sie sich in dem kleinen Bad um, entdeckte aber weder eine zweite Zahnbürste noch irgendein anderes weibliches Accessoire. Dabei war der Künstler zwar äußerlich alles andere als eine Lichtgestalt, aber keineswegs unattraktiv. Er trug Jeans und T-Shirt, und der Dreitagebart in seinem hübschen Gesicht schien nicht geplant zu sein. Schon fasste Andrea mit der Hand an den Türgriff des altmodischen Spiegelschrankes, als sie zögerte. Welches Recht hatte sie, sich für die Privatangelegenheiten eines Künstlers zu interessieren, der noch nicht einmal zugesagt hatte, auf ihr Ausstellungsangebot einzugehen? Doch Neugierde war schließlich eine der Grundeigenschaften eines Künstlers. Vorsichtig, um keine verdächtigen Geräusche aus dem Bad dringen zu lassen, zog sie eine nach der anderen der Spiegeltürchen auf. Außer langweiliger Männerkosmetika sah sie nur einen Flakon, der keine Aufschrift trug. Sie zog den Glasdeckel ab. Es überraschte sie nicht, dass es sich um das Parfum handelte, das überall in dem winzigen Raum wahrnehmbar war. Ließ er es etwa nur für sich herstellen? Das passte nicht zu seinem offenbar schmalen Geldbeutel. Sie stellte den Flakon zurück und wollte die Tür schließen, als ihr Blick auf ein kleines bunt bemaltes Holzkästchen fiel. Sie nahm es heraus. Das Kästchen wirkte wie das Geschenk eines Kindes zum Muttertag. Rote Herzchen und gelbe großblättrige Blüten waren unregelmäßig auf dem Deckel verteilt. Ein wenig harter Klebstoff auf der Innenseite des Deckels zeigte, dass auch diese Seite zuvor beklebt gewesen war. Innen lagen mehrere Tablettenblister. Stilnox entzifferte Andrea auf der Rückseite. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass es sich bei diesem Präparat um ziemlich starke, auf jeden Fall verschreibungspflichtige Schlaftabletten handelte. Sie wunderte sich. Zwar wäre Maximilian Ross nicht der einzige Künstler, der Alkohol, Tabletten oder andere Drogen nahm. Allerdings gehörten Schlaftabletten sicher nicht zu denjenigen Mitteln, die kreative Arbeitsschübe auslösten. Sorgfältig stellte sie das Schächtelchen wieder an seinen Platz und ging zurück ins Wohnzimmer.

„Ich habe keine Zeit mehr. Ich muss noch etwas erledigen“, sagte er und starrte dabei unverändert auf sein Werk.

„Etwas fehlt Ihnen, stimmt’s?“, sagte sie und stellte sich dicht neben ihn.

„Sie sind zu hart.“

„Die Linien oder die Farben?“

Er hatte nicht mehr geantwortet, und so hatte sie seine Wohnung verlassen. Es war definitiv nicht der richtige Moment gewesen, um mit ihm über eine Ausstellung zu sprechen. Erst fünf Tage später war er in ihre Galerie gekommen, sie hatten einen Vertrag aufgesetzt, und Andrea hatte ihn überglücklich verabschiedet. Heute dagegen hatte sie weniger Glück. Weder stand die Haustür offen, noch reagierte jemand auf ihr mehrfaches Klingeln. Sie trat ein paar Schritte zurück und sah zum Balkon im ersten Stock hoch, hinter dem sich die Wohnung des Malers befinden musste. Die Rollläden waren heruntergelassen.

Ratlos drehte sie sich um. Wo hatte sie geparkt? Sie lief in Richtung Manteuffelstraße. Dabei sah sie in fröhliche, teilnahmslose, mürrische, lachende oder traurige Gesichter, aber allesamt waren nach der Erinnerung an dieses erste Treffen mit dem introvertierten Maler wunderbar lebendig, selbst das von tiefen Falten zerfurchte Antlitz einer alten Frau, die nach vorn gekrümmt ihre Einkäufe in einem Handwagen hinter sich herzog. Wenn man wollte, konnte man in diesen Menschenstrom eintauchen – eine homogene Masse. Und wenn einem danach war, hob man seinen Kopf aus der Anonymität und streckte ihn in die gewünschte Richtung. Sie würde ihren Kopf schon bald erheben. Und sie würde diesen jungen Künstler, der gar nicht wusste, welche Schätze er da erschuf, mit sich emporziehen, ob er wollte oder nicht. Mit Syltrosen hatte noch niemand in der Berliner Kunstszene Aufmerksamkeit errungen. Und davon würde sie auch kein Irrer, der Erpresserbriefe bastelte, abhalten können.