9. KAPITEL
„Hallo? Sind Sie da unten?“
Ein Moment der Stille, dann ein erneuter Ruf. „Hallo. Ich bin’s. Hab ein Päckchen für Sie. Und Ihre Zeitung hab ich auch gleich mit reingebracht.“
Sein erster Gedanke war Flucht. Sein zweiter, wie dumm dieser Gedanke war. Er schnellte hoch. „Ich komme schon.“ Im Spurten zog er den Hosenbund hoch. Er nahm zwei Stufen auf einmal und prallte mit dem Briefträger zusammen. Der schlaksige junge Mann, der seit ein paar Wochen die Post brachte, grinste ihn an und wich keinen Zentimeter zurück.
„Gehen wir nach oben“, forderte er den jungen Mann auf, der versuchte, an ihm vorbei nach unten zu spähen. Er machte sich so breit wie möglich, hob beide Arme hoch und legte sie langsam und raumgreifend auf das Geländer links und rechts. Sichtbar widerwillig drehte sich der junge Mann um und stieg die Stufen wieder hoch.
„Haben wohl ein Geheimnis da unten, was?“, lachte er und ging ein paar Schritte in Richtung Scheunentor, durch das helles Sonnenlicht flutete.
Es musste schon mindestens zehn Uhr sein. So lange hatte er bisher niemals geschlafen. Noch immer grinste der junge Mann und machte sich an seinem Handlesegerät zu schaffen. Zu seinen Füßen stand ein kleines Päckchen. Der Briefträger forderte die Unterschrift, und mit noch immer fröhlichem Gesicht wandte er sich zum Gehen.
Er dagegen blieb stehen, schaute dem Postboten hinterher, vergewisserte sich, dass der wirklich im Begriff war, das Grundstück zu verlassen. Dann drehte er sich um und stürzte die Treppe hinunter. Auf der Stufe, auf der zuvor der unerwünschte Besucher gestanden hatte, stoppte er. Fieberhaft suchte er mit den Augen das Ausmaß einer möglichen Erkenntnis ab. Das warme Lichtergemisch der Bilder strahlte bis hierher. Eine Ecke des ersten linken Bildes war zu sehen. Und ein Teil des vorderen Fußbodenbildes. Wenigstens hatte das keine Beleuchtung. Bei einem schnellen Blick konnte man es für Mosaiken im Fußboden halten. Er bückte sich etwas vor, ohne sich von der Stufe zu bewegen. Was konnte man jetzt mehr sehen? Viel. Zu viel. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte wie von Sinnen wieder nach oben. Von der Scheunenwand griff er einen Spaten. „Warten Sie“, schrie er. Das Tor zur Straße, das er so sträflich unverschlossen gelassen hatte, wollte sich gerade hinter dem Briefträger schließen. Es stoppte, öffnete sich wieder, und das Gesicht des jungen Mannes leuchtete ihm entgegen.
„Warten Sie. Ich muss …“ Er war außer Atem, seine Finger krampften sich um den Spatenstiel. Das Tor. Es musste erst vor neugierigen Blicken verschlossen sein.
„Woll’n Se ’nen Schatz da unten vergraben, oder was?“, fragte der junge Mann mit Blick auf den Spaten.
Im ganzen Dorf würde er quatschen, und irgendjemand würde auf dumme Ideen kommen. Näher. Komm näher, flehten seine Gedanken. Am besten wieder zurück in die Scheune. Wo war das Chloroform? Er kramte in seiner Erinnerung. Es lag noch im Handschuhfach. Welche Geschichte konnte er jetzt erzählen?
Das Lächeln auf dem Gesicht des jungen Mannes verschwand. „Ich muss weiter.“
Tapfer kämpfte er gegen die Panik, die seine Gedanken durcheinanderbringen wollte. Der Postbote würde schreien, sich wehren. Im Sommer standen alle Fenster offen. Der junge Mann trat jetzt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
„Verraten Sie mich nicht“, bat er, und sein Griff um den Spatenstiel lockerte sich.
„Verraten? Ja, was denn? Ick hab nix gesehen. Irgendwas Buntes und schöne Beleuchtung. Was meinen Se denn, was ick schon alles jesehen hab bei den Leuten?“ Jetzt lachte er wieder und zeigte seine jungen gesunden Zähne.
„Wissen Sie, ich hab mein Mädchen gefunden. Ich will ihr einen Antrag machen. Und die Frauen wollen das ja immer so romantisch.“ Er stellte den Spaten an der Hauswand ab.
„Ick bin noch nich so weit. Nee.“ Und der Briefträger schüttelte sich, als wäre die Ehe etwas Ekliges. Wie dumm er doch noch war!
„Ich schon. Und deshalb habe ich da unten alles mit Rosen und Lampen geschmückt und meine schönsten Bilder angehängt.“
„Ick weeß. Sie sind Maler oder so.“
„Nun muss ich nur noch ein paar Kerzenhalter anbringen und dann bin ich fertig.“
„Wer ist denn die Glückliche?“
„Wer?“
„Na Mensch, der der Se ’nen Antrag machen wollen.“
„Die kommt gleich. Ich dachte schon, das wäre sie, als Sie nach unten riefen. Deshalb mein Schreck.“
„Machen Se sich mal keene Gedanken. Ick kenn die ja nich mal. Ich muss jetzt och weiter. Will fertig werden. Fahr nämlich heute nach Berlin rin uffen Konzert. Ist schließlich Samstag. Wer da zu Hause hockt, is selber Schuld. Und wer weeß? Vielleicht komm ick ja och mit eener zurück.“ Er lachte gackernd und kehrte sich zum Tor zurück. „Aber nich gleich mit Heiraten und so.“
Seine Beine zitterten. In den ganzen Jahren hatte es so etwas nicht gegeben. Das Tor vergessen, schlafen bis zehn Uhr. Er wurde nachlässig. Und unendlich müde fühlte er sich schon wieder. Er nahm alle restliche Kraft zusammen und holte seinen Schlüsselbund, ging zurück zum Tor und drehte den Schlüssel zweimal herum. Dann stieg er in sein Gewölbe, löschte alle Lampen. Vorsichtig berührte er mit einem Finger das Gemälde der letzten Nacht. Die Farben waren beinahe trocken, und das Glas fühlte sich noch immer warm an. Je nach Körperstatur reichte die Atemluft etliche Stunden. Dann kühlte das Bild langsam aus. Spätestens am Abend würde es so kalt sein wie die anderen Bilder auch.
Oben in der Scheune hob er im Gehen das kleine Päckchen vom Boden und studierte den Absender. Die neuen Pinsel, die er bestellt hatte. Angewidert warf er die Zeichen seines groben Fehlers in die Ecke, hängte das schwere Vorhängeschloss in den Riegel des Scheunentores ein und ging ins Haus. Aufräumen würde er später.
Er kochte sich einen Kaffee und blätterte die „Berliner Morgenpost“ durch, ohne zu finden, was er suchte. Der Artikel, der ihn so verstört hatte wie selten eine Zeitungsnachricht, war vor zwei Wochen erschienen, und er hatte ihn ausgeschnitten und in seiner Küchenschublade verstaut. „Frischfleisch für die Galerien – oder wie die Szene neue Künstler verbrennt.“ Der Artikel erhob die Anschuldigung, dass anstelle eines langsamen Aufbaus neuer Talente in der Künstlerszene bisher unbekannte Maler und Bildhauer in finanzieller Gier der Galerien und mithilfe der Regenbogenpresse durch hochgepushte Erwartungshaltung quasi im Entstehen schon verbrannt würden. Der Artikel endete mit der Befürchtung, dass es der Neuentdeckung Maximilian Ross, der in Kürze in der Galerie Andrea Wahrig ausstellen würde, ähnlich ergehen könnte. Denn bereits jetzt bezeichne die „BILD“ seine mannshohen Glasbilder als „Todesfratzen im sakralen Kleid“. Ein Foto eines der Werke des Künstlers war ebenfalls abgedruckt gewesen, und das hatte das Blut in seinen Adern beinahe zum Stocken gebracht. Noch immer erhöhte sich sein Puls, wenn er an diesen Artikel dachte.
Er schaltete seinen Computer an und rief die Homepage der Galerie auf. Noch immer standen unverändert unter „Aktuelles“ die Ankündigungen der kommenden Ausstellung Hauswald und der folgenden Ausstellung Ross. Keine Absage.
Er starrte endlose Minuten auf den Bildschirm. Dann griff er nach Schere und Klebestift. Als er mit dem Ergebnis seiner Arbeit zufrieden war, duschte er, zog sich saubere Kleidung an und setzte sich in seinen Wagen.
Andrea Wahrig trat aus der Haustür, und rasch zog er sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in den Schutz eines dicken Kastanienstammes zurück. Nur wenige Meter entfernt parkte sein Auto, in dem er gewartet und die Haustür der jungen Frau nicht aus den Augen gelassen hatte. Sie überquerte gerade die Straße und kam direkt auf ihn zu. Er drehte sich um und beobachtete ihr Spiegelbild im Schaufenster vor ihm. Seine Sorge war unbegründet. Die Galeristin schien tief in Gedanken versunken und ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen, sondern stieg in einen dunkelgrünen Mini, der nur drei Fahrzeuge vor seinem geparkt stand.
Es war Samstagvormittag, und der wenige Verkehr machte es ihm leicht, ihr zu folgen. Sie nahm die Stadtautobahn in Richtung Norden. Kurz vor der Stadtgrenze wechselte sie auf die B 96. Das gelbe Bundesstraßenschild war ihm vertraut. Wie der Schnitt eines Tortenmessers grub sich die alte Bundesstraße von Süd nach Nord durch die gesamte Stadt und führte auch ins Berliner Umland. Hier, wo Andrea Wahrig gerade in eine Seitenstraße abbog, wohnten die Menschen in ihren gartenumsäumten Einfamilienhäusern. Hatten sie kein Auto, mussten sie zu Fuß durch die kleinen Straßen bis zu den Geschäften oder zur Bushaltestelle an der Hauptstraße. Eine ideale Gegend für ihn. Wenn er nicht zu oft kam. Aber bisher stammte nur ein Jungen-Model im Gewölbe aus dieser Wohngegend, und das war schon viele Jahre her.
Langsam, als suche er die Adresse eines alten Freundes, folgte er der Galeristin, die ebenfalls ihre Fahrt verlangsamte und vor einem Einfamilienhaus mit leuchtend gelber Fassade zum Stehen kam. Der Jägerzaun und die Holzverkleidung an der Treppe zum Eingang schimmerten rötlich in der Sonne. Er fuhr langsam an dem Grundstück vorbei und beobachtete, wie Andrea ausstieg und einer Frau winkte, die sich an Blumenkübeln im Vorgarten zu schaffen machte. Diese Frau schien Geschmack zu haben, denn alle Blumen in den Kübeln und auch die Beete spiegelten die Farben des Hauses wider: ein rötliches Braun, dazu Gelb und Weiß. Die Frau mochte Anfang sechzig sein und hatte ein südländisches Aussehen. Bei der Entfernung konnte er ihre Augenfarbe nicht erkennen. Trotzdem war er sich wegen des intensiven Brauntons ihrer Haare sicher, dass sie fast schwarz sein würden – wie bei seiner Mutter. Der Anblick holte längst vergrabene Gefühle hoch. Winzige Momente im Glauben, doch geliebt zu werden. Warum nur hatte sie sich niemals auf seine Seite gestellt, wenn sein Vater dieses Gefühl wieder einmal brutal zerstört hatte? Täglich. Manchmal auch öfter. Allein dafür hast du verdient zu sterben.
Er bog nach rechts in eine weitere kleine Seitenstraße und parkte den Wagen am Bordstein, stieg aus und schüttelte sich die Erinnerung aus dem Kopf.
Er schlenderte die Wege entlang und war nur noch einer unter vielen Spaziergängern im Hermsdorfer Fließ, einer geschützten Bachlandschaft, auf der Suche nach besonderen Vögeln auf den Bäumen oder Fröschen an den sumpfigen Ufern. Die Häuser, die an das sich kilometerlang hinziehende Naturschutzgebiet grenzten, waren durch Zäune und Hecken geschützt. Eine wunderbare Gelegenheit, sich unauffällig Einblick zu verschaffen. Auf einer Parkbank saß er lange in der Sonne und stand dann mühsam auf. Seine Knochen taten ihm weh, und abermals nahm er sich vor, endlich eine Heizung in die Gruft zu bauen. Und müde fühlte er sich schon wieder. Mutter war auch immer so müde gewesen. Bei ihr kein Wunder, sie hatte sich jeden Tag im Laden die Beine in den Bauch stehen müssen. „Guten Tag, liebe Frau Kleinschmidt. Was darf es denn heute sein? Darf es ein bisschen mehr sein? Ja? Danke. Ist heute im Angebot. Darf ich Ihnen die Tür aufhalten?“ Darf ich hier, und darf ich dort. „Müssen“ wäre das richtigere Wort gewesen.
Er war froh, dass er damals nach der Schule das Dorf verlassen hatte. Davor war es ein ewiger Kampf mit dem Vater gewesen. Brüllen, bis die Leute am Dorfende es auch gehört hatten. Schlagen, wenn er ein Widerwort gewagt hatte. Dabei mochte er nun einmal die Zahlen lieber als Koteletts und Rippchen. Schon als Kind hatte er im Hinterzimmer der kleinen Fleischerei Mutter bei der Buchhaltung geholfen. Hatte gelernt, dass Zahlen etwas Sicheres sind. Man konnte sich auf sie verlassen. Eine Zahl blieb dort, wo sie war. Schob man sie aber von ihrem Ort weg, wusste man immer, wie viel Platz sie leer zurückließ und wie viel sie an ihrem neuen Ort brauchte. Nie würde er die Freude vergessen, als er das Bilanzieren gelernt hatte. Er musste den Schreibtisch abräumen, weil das weiße Formular mit den roten Linien die ganze Breite benötigte. Und irgendwann war er fertig gewesen und hatte die letzte Zahl im Journal eingetragen und die letzte Spalte zusammengerechnet. Dann hatte er die Ergebnisse der Spalten genommen und sie in die Bilanz auf die Aktiva- und die Passivaseite übertragen. Er hatte sein Glück kaum fassen können. Beide Seiten waren tatsächlich gleich gewesen. Er hatte eine Riesentorte in viele kleine Stückchen zerschnitten, mehr noch: Er hatte sie zerbröselt. Und diese Brösel auf alle möglichen Spalten verteilt, und zum Schluss hatte es wieder den ganzen Kuchen gegeben. Es hatte nicht ein Pfennig gefehlt, obwohl niemand mehr auf einen Blick hatte sehen können, in welchen Tortenstücken er die einzelnen Krümel versteckt hatte. Es war das Faszinierendste, das er in seiner Jugendzeit erlebt hatte. Bis zu seinem ersten Mädchen. Danach hatte sich alles geändert. Aber nicht zum Guten.
Er sah auf die Uhr. Zeit, zurückzugehen. Als er wieder die Wohnstraßen erreichte, beschleunigte er seine Schritte. Er hatte keinen Hund bei sich, der ihm weiteres unauffälliges Schlendern erlaubt hätte. Der grüne Mini stand unverändert vor dem Gartentor, vor dem Andrea ihn geparkt hatte. Er sah sich um. Doch niemand beachtete ihn. Rasch zog er sein Handy aus der Jackentasche und knipste das idyllische Bild. Auf dem Weg zur Galerie Wahrig hielt er an einem Fotoshop.