6. KAPITEL
Die Augen der Frau rollten unter den Lidern, die sich Sekunden später erst wenig, dann vollständig hoben. Sie ließen das Leben heraus und den Schrecken hinein in dieses Wandbild vor ihm. Er stellte Glas und Teller auf dem Tisch ab und schob sich aus dem Stuhl hoch. Jegliche Fluchtversuche der Frau wurden unterdessen von den Gurten gefangen. Wie sein letztes Opfer hatte sie im Auto nur gejammert. Jetzt brüllte sie ihre Angst heraus, sie schleuderte ihm Worte entgegen. Er sah ihre Mundbewegungen, hörte ihre Stimme. „Schrei ruhig. Hier hört dich sowieso keiner“, hatte er ihnen früher entgegnet, sogar manchmal die Hand auf ihren Mund gedrückt. Aber mittlerweile erreichte ihn weder der Inhalt ihrer Beschimpfungen noch der ihres Flehens. Erstaunt hatte er eines Tages festgestellt, dass er dank Beates dauernder Schimpftiraden diese Fähigkeit besaß. Wie ein Fakir, dessen Fußsohlen weder heiße Kohlen noch Nagelspitzen spürten, konnte er seinem Gehirn befehlen, nicht zuzuhören. Dieses Mal gelang es nicht. Zweifel nagten seit Tagen an ihm. Was hatte er sich dabei gedacht, von der vorgeschriebenen Reihenfolge abzuweichen? Nach der letzten jungen Frau, deren Bild gerade erst ausgekühlt war, hätte er eine ältere suchen müssen. Er betrachtete sein Opfer. Warum hatte er ihr nicht widerstehen können? Eine schlanke und trotzdem sehr weibliche Figur. Ihre birnenförmigen Brüste hoben und senkten sich im Rhythmus ihres hastigen Atmens. Wie schön war sie gewesen! Sie verhöhnte ihn. Schwach und widerstandslos hatte ihn ihre Ähnlichkeit mit Beate gemacht und so seine Kontrolle gebrochen, die er mühsam fast dreißig Jahre lang aufrechterhalten hatte. Aber das passte zu Beate. Sie wollte ihn immer kontrollieren. Damit war jetzt Schluss.
Er ging so dicht an sie heran, dass er sein Bild in ihren glänzenden Pupillen erkennen konnte. Verzerrt wie in dem konvexen Spiegel auf dem Dorfjahrmarkt. Er lächelte sie an, hielt ihr Gesicht mit beiden Händen fest und drückte sanft seinen Mund auf ihre Lippen, spürte, wie sie sie zusammenpresste und ihren Kopf drehen wollte.
„Du bist jetzt still“, sagte er leise, und sie spuckte ihm ins Gesicht. Er trat ein paar Schritte zurück und zog ein sauberes Tuch aus der Hosentasche. Als er sein Gesicht säuberte, schien es, als befreie er seinen Kopf von mehr als ihrer Spucke. Tief in seinem Gehirn löste sich etwas und setzte schlagartig Erinnerungen frei.
Ein Schuss. Die Mitschüler stehen am Rand der Aschenbahn und feuern ihn an. Jetzt nur nicht nach links oder rechts sehen, das kostet wertvolle Sekunden. Rennen, als gehe es um das eigene Leben. Um das geht es auch, denn wenn er jetzt nicht siegte, hätte auch seine Gruppe verloren. Und das ganze Elend würde von vorn beginnen. Sie würden ihn beschimpfen und bespucken, wie sie es gemacht haben, bevor sie bemerkt hatten, wie wertvoll er im Sport für sie war, trotz seiner kurzen Beine. Dann würden sie ihn in den Dreck stoßen und seine Schultasche klauen. Er rennt auf das Ziel zu und hinter ihm jubeln sie schon.
Mit Nachdruck, als könnte er damit die unsichtbaren Gegner von der Bahn drängen, stopfte er das gebrauchte Taschentuch zurück in seine Hose, wendete und ging mit schnellen Schritten zur gegenüberliegenden Wand, an der die Glasplatte schon bereitstand. Er holte tief Luft, griff in die Halterungen der beiden Saugnäpfe und hob die Platte an, die kaum weniger wog als die Frau. Wieder stand er dicht vor ihr, dieses Mal das Glas zwischen seinem und ihrem Atem. Er hatte alles gut vorbereitet und musste kaum hinsehen, als er die Glasplatte einpasste. Die Augen der Frau erzählten ihm alles, was gerade in ihr vorging. Ihre Blicke rasten die Konturen der Glasscheibe ab. Wahrscheinlich verglich sie sie mit dem Auslass in der Wand, in dem sie selbst in den Gurten hing, und in diesem Moment schien sie das Ausmaß der Situation zu erfassen. Ihr Mund öffnete sich zu einem erneuten Schrei, aber es kam nur ein heiseres Krächzen heraus. Er drückte das Glas fest auf die Gummidichtung und ihre Laute erstarben zu einem hohlen Seufzen, als hätte er seinen Kopf tief unter Wasser getaucht. Er lehnte sich mit seinem ganzen Körper gegen das Glas, war ihr so nah wie ein Liebender auf der Geliebten. Schnell schob er die in der Wand verankerten Riegel auf allen Seiten vor die Scheibe. Er löste die Saugnäpfe, prüfte ein letztes Mal den Sitz der Platte und konzentrierte sich wieder auf das Gesicht der Frau.
Sie war still. Tränen liefen über ihre Wangen und ihre Augen kämpften um seine Blicke, wie ein Ertrinkender unter vielen um die einzige schwimmende Holzplanke. Er wich ihren Blicken nicht aus. Ebenso wenig, wie er damals denen Beates ausgewichen war, als sie ihn angestarrt hatte. Das erste Mal in ihrer Ehe hatte sie sich ihm bedingungslos ergeben, weil er der Einzige gewesen war, der über Leben und Tod hätte bestimmen können. Damals hatte er es nicht vermocht. Aber schon lange war der Weichling von damals einem starken Mann gewichen. Die Frau müsste das erkennen, aber sie ballte die Hände zu Fäusten, versuchte immer und immer wieder, von innen gegen den gläsernen Sargdeckel zu schlagen. Doch der Bewegungsradius, den er mit den Gurten bestimmt hatte, war perfekt. Schließlich spreizte sie die Finger weit auseinander. Wie gefächerte Blätter hielt sie sie ihm entgegen. Weniger als fünf Zentimeter trennten sie von einer Berührung, die sie doch nicht retten würde. Deutlich konnte er die Handinnenlinien erkennen. Da war es: das erste Detail seines Werkes. Schnell griff er zum dünneren der beiden Eddings, die auf dem Tisch bereitlagen, und fuhr die Linien damit nach. Die Lebenslinie ihrer rechten Hand war lang und durchgehend. Er lächelte bei dem Gedanken, dass er die Macht hatte, sie zu unterbrechen.
Zuerst hatte es ihn gestört, dass sie nicht wirklich ertranken, dass der Körper auf langsam zu Ende gehenden Sauerstoff anders reagierte als beim plötzlichen Abbruch der Atemmöglichkeit im Wasser. Aber dann hatte er die Parallelen erkannt. Wichtig war allein der Moment der Erkenntnis, jetzt gleich zu sterben. Wieso sollte er ihnen den Tod selbst grausamer gestalten als notwendig? Jeder körperliche Todeskampf würde nur diese Erkenntnis in ihrem Gesichtsausdruck verfälschen, und damit das Einzige, das es wert war, festgehalten zu werden.
Seine Hand flog mit dem Edding über die Glasplatte. Er musste sich beeilen, denn der Gesichtsausdruck verfiel schnell. Die Skizze war fertig, und er griff zu Pinsel und Palette. Lockerer halten, nicht so fest. Der Pinselstrich musste gleiten. Leicht und fließend sollte sich die Farbe auf das Glas setzen. Junge, halte den Stift nicht so verkrampft, hatte Mutter immer gesagt. Dir wird die Hand wehtun. Dabei hatte die Hand beim Schlachten viel mehr geschmerzt, wenn er stundenlang das Blut im Topf rühren musste, damit es ja nicht klumpte. Am Anfang war das gar nicht schwierig. Der große Holzlöffel glitt ohne Widerstand durch die körperwarme Flüssigkeit. Wenn dann nach und nach die Fleischbrocken hinzukamen, wurde es immer schwieriger. Dazu der Gestank, der sich in die Haare und in die Kleidung fraß und den man tagelang nicht loswurde.
Er tippte die Pinselspitze in die grüne Acrylfarbe. Die Augen stimmten noch nicht. Nicht so grau, mehr grün waren die Pupillen. Und um sie herum kleine Äderchen. Aber Rot kam erst nachher an die Reihe. Immer eins nach dem anderen. Er hatte eine Ordnung, die jedes Mal etwas besser war als beim Mal zuvor. Früher hatte er zum Skizzieren einen dünnen Filzstift genommen, jetzt reichte ein breiter Edding. Sicher, damit wurde es nie so exakt. Die Ränder der Linien erschienen ausgefranst wie herausgerissene Fleischfetzen in den Krallen eines Raubvogels. Er dagegen sah die Konturen klar und deutlich, nahm das Gesicht mit allen Einzelheiten in sich auf. Er erkannte, wenn die Augenbrauen gezupft waren oder ob sie, wenn der natürliche Schwung fehlte, eine Wimpernzange benutzte. Jede Falte um die Augen, die Nase und den Mund sah er, egal, welches Make-up sie trug. Denn er sah sie von ganz nah. Er sah in sie hinein.
Er bewegte den Hebel, und das Gummi des Wischerblattes schob die Wassertropfen nach unten weg. Einmal hatte er das Wischblatt falsch herum eingebaut. Ausgerechnet beim zehnten Jahrestag. Das Bild war nicht gut geworden, und vor Jahresablauf hatte er sich eine neue Frau suchen müssen, um das Bild zu wiederholen. Das Beschlagen der Scheibe war überhaupt das größte Problem. Er musste sich endlich um eine Lösung kümmern. Hier unten war es oft ziemlich kalt. Viel kälter als der Atem von der anderen Seite der Platte.
Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 in d-Moll war zu Ende. Sorgsam legte er den Pinsel auf dem Tisch ab, den inzwischen eine abwaschbare Decke schützte. Er hasste Farbflecken. Sie waren in der Regel zufallsabhängig. Und Zufälle hasste er ebenfalls. Er überlegte, ob er ein weiteres Mal Rachmaninow einlegen sollte. Er ließ seine Blicke durch den Raum schweifen. Das anheimelnde Licht der dreißig Wandkerzen täuschte über die klamme Feuchtigkeit dieser Nacht hinweg, die sich langsam dem Ende zuneigte. Durch die Öffnung der Treppe konnte er von oben bereits das Grau der Morgendämmerung ahnen. Er streckte seine Arme über den Kopf, bog den Oberkörper nach vorn und nach hinten und ging ein paarmal in die Knie. Eine Heizung wäre wirklich nicht schlecht. Todmüde und ausgelaugt fühlte er sich.
Die Knochen taten ihm weh. Seine gesamte Kraft steckte nun in dem sechsundzwanzigsten Bild in diesem Gewölbe, und es stand kurz vor der Vollendung. Sollte er sich gegen die Ermüdung jetzt schon gestatten, was er sonst erst tat, nachdem er den letzten Pinselstrich gesetzt und die letzte Farbtube geschlossen hatte? Er fand, es wäre ein gerechter Lohn, verstaute das Klavierkonzert sorgfältig in der Hülle und legte eine neue CD ein. Zu den ersten Klängen von Händels Wassermusik schritt er bedächtig die Wände entlang und drückte neben jedem seiner Bilder einen Schalter. Er hatte eine Menge Geld für die Glühbirnen ausgegeben, nur die besten Markenfabrikate genommen, um jeden der Wandauslässe mit Licht auszustatten. Denn er wusste, dass er die Birnen niemals würde auswechseln können. Schließlich waren alle dreiundzwanzig Wandgemälde von innen beleuchtet. Die Wände hatten noch Platz für vier weitere Auslässe. Dann würde sein Werk vollendet sein. Notfalls stünden noch große Teile des Fußbodens zur Verfügung. Dort schmückten seine drei ersten Bilder hintereinander die Mitte in diesem gut dreißig Meter langen Raum. Aber es würde ihm widerstreben, zu seinen ersten drei Werken weitere hinzuzufügen. Außerdem war es Zeit, zu einem Ende zu kommen. Und manchmal ertappte er sich dabei, von einem letzten Mal zu träumen.
Sein Rundgang war beendet, und er setzte sich auf eine der Stufen der Kellertreppe. Hingerissen betrachtete er sein Gewölbe, das nun beinahe so hell erleuchtet war wie eine Kathedrale auf einem hohen Berg. Wie von Sonnenlicht wurde das Innere der Glasbilder durchflutet. Satte Rot-, Blau- und Grüntöne mischten sich in das gelbe Kerzenlicht. Ein Meer an Farben spiegelte sich an der gewölbten Kellerdecke und auf dem blank geputzten Steinfußboden. Einzelne Farbstrahlen gegenüberliegender Bilder trafen sich irgendwo im Raum und mischten neue Töne, die er nie gemalt hatte. Er holte tief Luft und sah zufrieden in jedes einzelne Gesicht auf seinen Bildern, betrachtete Hände, die sich ihm entgegenstreckten, sah in schlafende Gesichter und in Antlitze, deren Augen und Münder weit offen standen. Jedes so, wie er es bestimmt hatte. Ein fremder Besucher hätte viel Fantasie gebraucht, um die Konturen der Besitzer dieser abgebildeten Gesichter weiter verfolgen zu können, denn die unteren zwei Drittel waren durch dichte bunte Mosaiklandschaften bedeckt. Aber er sah genau, wo das Licht hinter dem bemalten Glas durch Körper gebrochen wurde, die auch nach Jahren kaum verwest sein dürften. Hinter den Bildern war es feucht und kalt und kein Sauerstoff half ihnen, sich seinem heiligen Gewölbe zu entziehen.
Als er alle Malutensilien aus der Hand gelegt hatte, holte er unter der Treppe sein Feldbett hervor. Er trug es in den hinteren Bereich des Gewölbes und klappte es zu Füßen der Staffelei auf. Ein letztes Mal küsste er das Foto, das auf dem Holzgestell lehnte und vor dem die Rosenzweige noch immer wie frisch geschnitten wirkten. Eigentlich wollte er auch im Liegen noch weiter den Raum betrachten, aber ihm fielen vor Erschöpfung die Augen zu.