Sonntagmorgen
Durch den Nebel war Petra Westman über das Kopfsteinpflaster am Norra Hammarbyhamnen gelaufen, von der Polizeiwache am unteren Ende der Östgötagatan bis zum Danvikskanal und wieder zurück. Sie lief an den Booten vorbei, von denen manche mit lustigen Wimpeln und andere mit bunten Laternen geschmückt waren, die über gepflegten Decks hingen. Kurz vor der Barnängsbryggan lag ein Fischerboot, das zum Verkauf stand. Sie schaute auf das schwarze Wasser hinaus, das sich im Wind kräuselte. In der Ferne sah sie den Hang des Hammarbybacken, der grün und verlassen aussah und zu dieser Zeit höchstens als Reklamefläche für Skireiseveranstalter dienen konnte. Abgesehen von dem fernen Rauschen frühmorgendlicher Autofahrer war es vollkommen still.
Es war erst halb sieben, aber sie joggte bereits seit zwanzig Minuten. Mittlerweile war sie auf der zweiten Runde, bog in Richtung Vita Berget ab und lief die Tengdahlsgatan zur Schrebergartenkolonie hinauf. Die Luft war kühl und feucht und roch leicht nach Herbst, obwohl die Bäume ihre Blätter noch nicht verloren. Gartenmöbel und Grills standen nach wie vor draußen, Sommerblumen zierten die Pflanztöpfe vor den Häusern.
Irgendwo hinter ihr fiel eine Haustür ins Schloss, und instinktiv drehte sie ihren Kopf. Niemand zu sehen. So war sie früher nicht gewesen. Sie wäre ungerührt weitergelaufen, hätte vielleicht gedacht, dass sie nicht die Einzige war, die am frühen Sonntagmorgen schon auf den Beinen war, aber wahrscheinlich hätte sie das Geräusch gar nicht beachtet.
Peder Fryhk saß in sicherer Verwahrung im Gefängnis von Norrtälje und würde mindestens noch drei Jahre sitzen, wahrscheinlich noch länger. Petra hatte mit der Verhaftung nichts zu tun gehabt, war von der Polizei nie vernommen worden und hatte im Prozess nicht als Zeugin ausgesagt. Ihr Name tauchte nicht ein einziges Mal in den Ermittlungsakten über Fryhk und seine systematischen Vergewaltigungen auf. Dass Petra eines seiner Opfer war, wussten außer ihr nur der Staatsanwalt Hadar Rosén, der Kriminaltechniker Håkan Carlberg aus Linköping und Fryhk selbst.
Und eine weitere Person. Der andere Mann. Carlberg hatte herausgefunden, dass das Sperma in den Kondomen, die sie nach der Vergewaltigung nach Linköping gebracht hatte, zu zwei verschiedenen Männern gehörte, von denen einer Peder Fryhk war. Der andere war unbekannt.
Petra hatte viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, nachdem sie im vergangenen November unter Drogen gesetzt und vergewaltigt worden war. Sie hatte Fryhk ihren Vornamen verraten, mehr nicht. Sie hatte gesagt, dass sie als Versicherungsvertreterin bei Folksam arbeitete, und er hatte keinen Grund gehabt, ihr nicht zu trauen. Vermutlich hatte er ihre Brieftasche durchsucht, bestimmt wollte er wissen, mit wem er es zu tun gehabt hatte. Okay, er hatte also ihren Nachnamen und ihre Sozialversicherungsnummer. Aber damit hatte er sich hoffentlich zufriedengegeben. Er hatte die Brieftasche bestimmt nicht so sorgfältig untersucht, dass er ihren Polizeiausweis gefunden hätte, der gut verborgen hinter dem Führerschein gesteckt hatte, oder etwa doch? Vielleicht hatte er es doch getan, aber selbst dann gäbe es für ihn nicht den geringsten verdammten Grund zu der Vermutung, dass sie hinter seiner Festnahme steckte. Sie hatte ihre Rolle gut gespielt, sich über ihren Katzenjammer beklagt und sich am Morgen zärtlich von ihm verabschiedet. Ohne irgendeine Spur bei ihrer privaten Tatortuntersuchung zu hinterlassen.
Aber ein paar Anhaltspunkte deuteten leider doch in eine andere Richtung. Peder Fryhks Keller war voll von Videoaufnahmen seiner übrigen Vergewaltigungen. Es war wahrscheinlich, dass er auch eine Erinnerung an Petra aufbewahrt hatte, aber ein solcher Film wurde nie gefunden. Warum? Wo war die Aufnahme hingekommen?
Fryhk war ein ehemaliger Fremdenlegionär. Intelligent, gebildet, gerissen. Ein Oberarzt am Karolinska-Krankenhaus, der viel zu verlieren hatte. Ein hübsches Eigenheim, einen hohen gesellschaftlichen Status, einen guten Ruf. Trotzdem tat er es, immer und immer wieder. Vergewaltigte. In seinem eigenen Zuhause. Und das alles hatte er gefilmt. Und verloren. Alles.
Der andere Mann hielt die Kamera. Schwenkte kunstvoll über die Szene, änderte die Perspektive, um das Drama aus unterschiedlichen Winkeln zu zeigen, zoomte. Und vergewaltigte. Doch ohne sich jemals selbst filmen zu lassen. Er war vorsichtiger als Fryhk, nicht so risikofreudig. Hatte vielleicht noch mehr zu verlieren? Konnte man mehr verlieren als Peder Fryhk? Kaum. Aber der andere Mann war nicht bereit, überhaupt irgendetwas zu verlieren.
Fryhk täuschte seine Opfer, lockte sie zu sich nach Hause. Er riskierte, in der Öffentlichkeit wiedererkannt zu werden, verließ sich einfach auf seinen Charme und auf die Gedächtnislücken und Schuldgefühle seiner Opfer. Der andere Mann hatte bei seinen Opfern keinerlei Erinnerungen hinterlassen. Und Fryhk war anscheinend solidarisch, er hatte kein einziges Wort über einen Mittäter verloren. Ein echter Soldat. Er schwieg wie ein Grab, als er während des Verhörs nach der Person befragt wurde, die während der Vergewaltigungen in seinem Haus die Kamera gehalten hatte. Trotz des falschen Versprechens, die Strafe zu mindern, hielt er dicht.
Und Petra schwebte immer noch in Ungewissheit. Sie war von einem Mann ohne Namen und ohne Gesicht vergewaltigt worden. Die Polizei wusste nicht, dass dieser Kameramann ebenfalls ein Vergewaltiger war, und die Bemühungen, ihn ausfindig zu machen, waren schon längst eingestellt worden. Aber jetzt gab es jemanden, der sie nachts anrief. Nicht oft, aber auch nicht selten genug, um es mit einem Achselzucken abzutun. Ein, zwei Mal im Monat wurde sie in tiefster Nacht vom Telefon geweckt, ohne dass sich jemand meldete, wenn sie abnahm. Der andere Mann konnte nach menschlichem Ermessen ihre Telefonnummer nicht kennen, da sie geheim und im Telefonbuch nicht zu finden war. Trotzdem war es genau das, was sie insgeheim befürchtete. Dass er sie anrief, dass sie bestraft werden sollte, weil sie Fryhk ans Messer geliefert hatte. Sie sollte zum Schweigen gebracht werden. Er wollte sie zerbrechen, um seine Macht zu demonstrieren. Ging es bei einer Vergewaltigung nicht genau darum? Macht. Darüber machte sich Petra Westman Sorgen. Und über die Tatsache, dass es ihn gab. Dass er gesund und munter war. Und frei. Der andere Mann.
Inzwischen war sie weiter gelaufen als normalerweise, und doch fühlte sie sich an diesem taufrischen Septembermorgen immer noch nicht ausgepowert. Mit leichten Schritten lief sie weiter, und der schlaftrunkene Zeitungsbote, der ihr entgegenkam, zuckte zusammen, als sie an ihm vorbeischoss. Ansonsten war die Gegend, soweit sie es sehen konnte, vollkommen verlassen. Kurz bevor sie die Kleingartenkolonie erreichte, verließ sie die asphaltierte Straße und lief die kurze Treppe zwischen den Mietshäusern hinauf, die zum Vitabergspark führte. Sie joggte den Kiesweg zwischen matschigen, ramponierten Rasenflächen entlang, vorbei am Amphitheater und dem geschlossenen Terrassencafé bis zum Wendehammer am Ende des Stora Mejtens Gränd. Es roch nach Hagebutte und nassem Asphalt.
Die Sofia-Kirche oben auf dem Hügel war noch hinter dem Nebel verborgen, aber plötzlich sah sie etwas anderes. Zu ihrer linken Seite wuchs dichtes Gestrüpp im Schatten eines roten Holzhauses, und ganz tief in diesem Gebüsch lag ein großes, blaues Etwas, das fast vollständig von Blättern und Zweigen bedeckt war. Neugierig änderte sie ihre Laufrichtung und joggte zu dem Gestrüpp hinüber, bückte sich und schob die Zweige auseinander. Es war ein Kinderwagenaufsatz aus marineblauem Stoff mit kleinen, weißen Punkten. Er sah hübsch aus, nur wenig gebraucht, und ihr erster Gedanke war, dass irgendwelche egomanen Hooligans mit Pubertätsakne den Kinderwagen geklaut und den Aufsatz ins Gebüsch geworfen hatten. Sie griff mit beiden Händen nach dem Gestell und zog es kräftig zu sich heran. Es gelang ihr, den Aufsatz halb aus den widerspenstigen Zweigen zu befreien. Bevor sie zu einem weiteren kräftigen Ruck ansetzte, warf sie einen Blick in den Aufsatz.
Dort lag ein kleiner Mensch mit geschlossenen Augen und einer hellblauen Mütze auf dem Kopf, der aus einem Fußsack herausschaute. Instinktiv richtete sie sich aus ihrer gebückten Haltung auf und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht in die Büsche. Dornige Zweige drangen durch ihre dünne Hose und kratzten an ihren Beinen. Mit dem Körper schirmte sie das Baby von den Zweigen ab, während sie sich vorsichtig hinunterbeugte, eine Hand unter den Kopf des Kindes legte und mit der anderen Hand unter dem Fußende den Fußsack zu sich hinaufhob. Irgendetwas im Gesicht des Kindes brachte sie zu der Überzeugung, dass es sich um einen Jungen handelte. Sie legte ihre Wange an seine, konnte aber nicht feststellen, ob er noch atmete.
Dann rannte sie mit dem Kind im Arm und blutenden Schrammen an den Beinen auf das mächtige Gartentor zu, das in den Garten das Hauses führte. Sie zog und zerrte daran herum, aber es war fest verschlossen. Also rannte sie Richtung Stora Mejtens Gränd. Auf dem Rasen jenseits des Wendehammers fiel ihr ein ordentlich abgestellter Kinderwagen ohne Aufsatz auf. Mit der Hüfte stieß sie das Gartentor zu einem der Einfamilienhäuser an der Straße auf und stürmte den kurzen Weg und die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. Sie klingelte, während sie gleichzeitig gegen die Haustür trat und schrie, dass sie einen Notarzt brauchte.
Nach einer halben Ewigkeit wurde die Tür von einer älteren Dame geöffnet, die sie ohne weitere Umstände eintreten ließ, auf ihr ungemachtes Bett in einem Zimmer hinter dem Flur deutete und zum Telefon eilte, um den Notarzt und die Polizei zu alarmieren.
»Das Kind ist unterkühlt und möglicherweise verletzt, vielleicht ist es auch schon tot!«, rief Petra der Frau hinterher. »Ich habe es im Park gefunden. Es kann dort schon lange gelegen haben.«
Sie zog den Reißverschluss des Fußsacks hinunter und legte den Jungen auf das Bett. Er zeigte keine Lebenszeichen und war viel zu kalt. Während sie ihm mit tiefen Zügen warme Atemluft ins Gesicht blies, massierte sie Arme und Rumpf, um ihn warm zu bekommen. Sie griff nach seinen Waden und beugte die Beine, um Leben in ihn hineinzupumpen. Schließlich nahm sie ihn einfach in den Arm und versuchte den kleinen Körper ganz mit ihrem eigenen zu umschließen. Die Tränen kullerten ihr die Wangen hinunter, als die Rettungssanitäter endlich eintrafen.
*
Ewa Tuominen war erschöpft. Eine Kollegin war krank geworden, sodass sie Doppelschichten arbeiten musste und mittlerweile mehr als eine Stunde hinter ihrem Plan zurücklag. Sie putzte seit neun Jahren auf der Viking Amorella und hatte schon viel gesehen, trotzdem seufzte sie laut, als sie die Tür öffnete und die Schweinerei in der Toilette erblickte. Zu allem Überfluss lag dort auch noch ein junges Mädchen und schlief mitten in dem ganzen Chaos, noch dazu in einer sehr unbequemen Haltung. Zwischen Jeans und Lederjacke schaute ein Stück nackter Haut hervor. Sie sollte hier nicht liegen, jeder könnte über sie herfallen.
Im selben Augenblick, als Ewa dem leblosen Wesen einen leichten Tritt gegen den Fuß verpasste, wurde ihr klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Die Körperhaltung war unnatürlich. Nicht einmal der betrunkenste Mensch könnte in einer solchen Position einschlafen. Das Mädchen reagierte nicht auf die Berührung. Panik ergriff sie, ihr Herz fing an zu rasen, und sie hielt einige Sekunden lang die Hand vor den Mund, während ihr Gehirn fieberhaft arbeitete. Dann beschloss sie, direkt den Arzt zu rufen und nicht erst zu versuchen, den Puls des Mädchens zu fühlen. Sie trat ein paar Schritte nach hinten, ging zurück in die Besenkammer und rief mit ihrem Handy die Notfallnummer des Schiffsarztes an.
Doktor Magnusson, der kurz darauf eintraf, konnte nur noch den Tod des Mädchens feststellen. Als er sie umdrehte und die Würgemale erblickte, die sich am Hals ausformten, entschied er, das Mädchen nicht vom Ort des Geschehens wegzubewegen. Hier handelte es sich zweifellos um einen Fall für die Polizei. Er wies Ewa Tuominen an, das Badezimmer abzuschließen, und nahm Kontakt zur Brücke auf. In einer Stunde würden sie in Åbo anlegen.
*
Die ganze Nacht hatte Hanna auf dem Boden im Flur verbracht. Einmal war sie aufgewacht, und da tat ihr Kopf weh, und die Wunde auf der Wange brannte. Im Mund fühlte sich alles wund und geschwollen an. Der Fußboden, auf dem sie lag, war so kalt, dass sie zitterte. Sie brachte nicht genug Kraft auf, um aufzustehen und in ihr schönes, warmes Bett zu gehen, aber sie schaffte es, das kurze Stück zum Teppich hinüberzukrabbeln. Dort blieb sie in der einzigen Haltung liegen, in der es noch auszuhalten war. Als sie früh am Morgen erwachte, lag sie in Embryonalstellung auf dem Teppich, mit der gesunden Wange nach unten und dem Kinn auf den geballten Händen.
Die verbrannte Hand tastete vorsichtig die Wange ab, die von geronnenem Blut bedeckt war. Als sie die eigentliche Wunde berührte, zuckte sie vor Schmerz zusammen und zog die Hand zurück. Aber sie weinte nicht. Sie kniff die Augen zu und biss fest die Zähne zusammen, wie man es tun sollte, wenn es schlimm wurde. »Da muss man eben die Zähne zusammenbeißen«, sagte Mama immer, wenn Hanna weinte. Also tat sie es jetzt. Zum ersten Mal. Obwohl es eigentlich schon zu spät war. Aber es hatte ja keinen Zweck zu weinen, wenn niemand da war, der einen trösten konnte. Ihr Mund und ihre Hand taten so furchtbar weh, aber verglichen mit der Wunde an der Wange und den schrecklichen Kopfschmerzen war es fast gar nichts.
Was sollte sie jetzt tun? Jetzt waren schon ganz viele Tage vergangen. Würde Papa nicht bald nach Hause kommen? Oder wusste er, dass Mama und Lukas ausgezogen waren? Wohnte er jetzt vielleicht bei ihnen? Aber Papa hatte Hanna doch ganz schrecklich lieb, trotz allem. Papa war nicht so streng wie Mama, und er spielte oft mit ihr, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam und Mama sich nur um Lukas kümmerte. Doch, Papa würde zu Hanna nach Hause kommen, wenn er aus Japan zurückkehrte.
Fast ohne dass sie es bemerkte, war ihr Kacka auf dem Teppich gelandet. Sie musste anfangen, darauf zu achten, und stattdessen auf die Toilette gehen. Mama hatte es schon so oft gesagt, aber irgendwie war nie etwas daraus geworden. Die ganze Zeit gab es so viele andere Dinge zu erledigen. Jetzt musste sie aufstehen und alles wegmachen, bevor Papa nach Hause kam. Musste vergessen, wie weh es überall tat und hinter sich saubermachen. Mühsam kam sie auf die Beine, und ihr fiel das vollgepinkelte Nachthemd ein. Sie wackelte ins Badezimmer, zog das Nachthemd aus dem Wäschekorb und ging in den Flur zurück. Nachdem sie eine Weile gewischt und gerieben hatte, war es immer noch nicht gut, aber schon viel besser, also brachte sie den verdreckten Lappen wieder ins Badezimmer und stopfte ihn zurück in den Korb. Ihre Hände stanken. Wenn man Kacka gemacht hat, muss man duschen, dachte sie. Aber das war schwierig. Das ganze Badezimmer wurde nass davon, auch an den Wänden und an der Decke. Das Wasser konnte sogar bis ins Schlafzimmer spritzen, was Mama überhaupt nicht mochte. Hanna beschloss, stattdessen zu baden. Und sich die Haare zu waschen. Dann wäre Papa froh, wenn er nach Hause kam, und er würde finden, dass sie gut riecht.
Sie wusste, wie man es macht. Sie steckte den Stöpsel auf den Abfluss und drehte den Wasserhahn auf. Zuerst war das Wasser kalt, aber dann wurde es wärmer. Hanna setzte sich auf den Toilettendeckel und schaute zu, wie das Wasser aus dem Hahn in die Badewanne strömte. Ihr war ganz wirr im Kopf. Manchmal war es besser, wenn sie nur mit einem Auge guckte, um klar sehen zu können. Ihre Zähne klapperten, und sie sehnte sich danach, endlich in das warme Wasser hinunterkrabbeln zu können, aber sie wagte nicht hineinzusteigen, bevor die Wanne voll war. Sie mochte das Rauschen des laufenden Wassers nicht.
Nach einer Weile drehte sie den Hahn zu und stieg in die Badewanne. Wie schön das war! Sie setzte sich vorsichtig hin, aber weiter kam sie nicht, denn das Telefon draußen im Flur begann zu klingeln. Oh, warum musste es ausgerechnet jetzt klingeln? Sie musste rangehen, musste mit jemandem reden. Schnell, schnell! Sie richtete sich auf, rutschte auf dem glatten Wannenboden aus, machte eine reflexartige Bewegung, sodass ihr Kinn die Badewannenkante um Haaresbreite verpasste. Aber sie verlor Zeit, und jetzt kamen die Tränen, obwohl sie die Zähne zusammenzubeißen versuchte. Sie unternahm einen neuen Anlauf und kam wieder auf die Beine, vorsichtiger diesmal, und kletterte aus der Wanne. Aber bevor sie überhaupt im Schlafzimmer war, hatte das Klingeln schon aufgehört.
Sie trottete ins Badezimmer zurück und machte es sich erneut in dem warmen Wasser bequem. Mit einer feuchten Hand versuchte sie, die Tränen von ihren Wangen zu wischen. Die Kacheln an der Wand flossen vor ihren Augen ineinander, und sie strengte sich nicht weiter an, sie deutlicher zu sehen. Obwohl sie die ganze Nacht geschlafen hatte und gerade erst aufgewacht war, fiel sie erneut in einen tiefen Schlaf.
*
Jocke schreckte aus dem Schlaf hoch, als jemand an die Tür klopfte. Er stützte sich auf die Ellenbogen und schaute sich schlaftrunken um. Das Bett, in dem Jennifer eigentlich hätte schlafen sollen, wenn sie schon nicht in seinem eigenen gelandet war, sah unbenutzt aus. Schräg unter sich sah er Fanny bewegungslos in ihrer Koje liegen. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr und stellte fest, dass es erst acht Uhr war.
Es klopfte schon wieder, und jetzt hörte er, wie sich in der Koje unter ihm jemand bewegte. Er nahm an, das Malin allmählich zum Leben erwachte. Fanny rührte sich immer noch nicht. Plötzlich erinnerte er sich in seinem benebelten Zustand daran, wie der Abend und die Nacht schließlich ausgeartet waren, und er spürte, wie die Übelkeit in ihm hochschwappte. In der Kabine war es stickig, und der Schweiß trat ihm auf die Oberlippe. Es hämmerte wieder an die Tür, diesmal fester.
»Aufmachen, hier ist die Polizei!«, rief draußen eine Stimme mit finnischem Dialekt.
Jetzt begann sich sogar Fanny zu rühren, und mit dem Gesicht im Kissen jammerte sie:
»Verdammt, Jocke, jetzt mach doch endlich auf!«
»Ich komme!«, rief er schlapp und ließ sich umständlich aus dem Bett zu Boden gleiten.
Bevor er öffnete, kontrollierte er sicherheitshalber, dass er etwas anhatte und zog, bekleidet mit einer Unterhose, die Tür auf. Draußen standen zwei Männer, keiner von ihnen trug eine Polizeiuniform. Einer zeigte ihm allerdings etwas, das ein Polizeiausweis sein konnte. Jocke trat instinktiv einen Schritt zur Seite und ließ die Polizisten in die Kabine.
»Nieminen, Kommissar von der Polizei in Åbo«, stellte sich der Polizist, der ihm am nächsten stand, in seinem singenden Dialekt vor. »Und das ist Inspektor Koivu. Wer seid ihr?«
Der andere hielt sich ein bisschen im Hintergrund und studierte ein paar Papiere. Als Jocke seinen Namen sagte, machte er einen Haken mit einem Kugelschreiber. Beide Polizisten fassten jetzt die Mädchen ins Auge, die sich mittlerweile in ihren Betten aufgesetzt hatten und neugierig zurückschauten.
»Und ihr, Mädels?«
Sie nannten ihre Namen, und weitere Haken wurden hinzugefügt.
»Trotzdem muss ich mir eure Ausweise anschauen, würdet ihr also bitte so freundlich sein, sie herauszusuchen«, forderte Nieminen sie auf. »Wer schläft dort?«, fragte er schließlich und deutete auf die leere Oberkoje.
»Jennifer, aber sie hat heute Nacht nicht hier geschlafen«, antwortete Jocke.
»Jennifer Johansson?«
»Ja.«
»Wisst ihr, wo sie heute Nacht gewesen ist?«, wollte Nieminen wissen.
Die Mädchen kamen aus ihren Betten und begannen in ihren Taschen zu wühlen. Keiner von ihnen wusste etwas auf diese Frage zu antworten, sodass der Polizist ungeduldig wurde.
»Also, wann habt ihr sie das letzte Mal gesehen?«
»Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit wir bei den Jungs hier in der Nebenkabine ein bisschen vorgeglüht haben«, antwortete Malin. »Das war noch ziemlich früh am Abend.«
Fanny nickte zustimmend und fügte hinzu:
»Du müsstest es doch wissen, Jocke. Schließlich ist sie deine Freundin.«
Jocke betrachtete geniert seine Füße und wusste nicht so recht, was er darauf sagen sollte.
»Aha, du bist also ihr Freund«, sagte Nieminen.
»Nein, ich weiß auch nicht«, antwortete Jocke lahm. »Nein, so kann man das eigentlich nicht sagen. Worum geht es eigentlich?«
»Auf einer Toilette ist ein totes Mädchen gefunden worden. Wir glauben, dass es sich um Jennifer handeln könnte. Wenn sich auf dem Schiff keine Angehörigen von ihr befinden, muss ich einen von euch bitten, uns zu begleiten und sie sich anzuschauen.«
Jocke ließ sich auf Malins Bett sinken.
»Wenn wir zunächst einmal die Ausweise sehen könnten.«
Malin und Fanny hielten ihm ihre Ausweise hin, die echten diesmal. Es schien ihnen wohl besser, jetzt keine Dummheiten zu machen. Jocke griff nach seiner Jeans, die am Fußende der Koje auf dem Boden lag, und zog die Brieftasche aus der Gesäßtasche. Er reichte Nieminen gleich die ganze Brieftasche, aber der reichte sie direkt an seinen Kollegen weiter. Keiner der Jugendlichen sagte ein Wort. Sie starrten die beiden Polizisten mit großen Augen an, ohne so richtig zu begreifen, was gerade geschah.
»Würdest du mit uns kommen?«
Nieminen hatte sich an Jocke gewandt, der eine unhörbare Antwort murmelte und sich seine Hose anzuziehen begann.
»Es tut mir furchtbar leid. Aber es wäre gut, wenn wir so schnell wie möglich Gewissheit haben, mit wem wir es zu tun haben«, fuhr Nieminen in einem freundlicheren Tonfall fort.
Koivu gab den Jugendlichen ihre Ausweise zurück, während Jocke sich sein T-Shirt überzog.
»Wir werden uns im Laufe des Tages noch einmal mit euch unterhalten müssen, Mädels. Bis dahin versucht euch bitte zu erinnern, was ihr wann gemacht habt und was Jennifer gestern Abend und heute Nacht unternommen hat.«
Jocke und die beiden Polizisten verschwanden durch die Tür, die hinter ihnen von selbst ins Schloss fiel.
Als sie auf einem der oberen Decks aus dem Fahrstuhl stiegen, sah Jocke, dass an allen möglichen Stellen bereits Absperrbänder gespannt worden waren. Einige uniformierte Polizisten sorgten dafür, dass sich kein Unbefugter hinter die Absperrung begab. Jocke konnte nicht klar denken. Er wurde zu einem Raum geführt, bei dem es sich, einem Schild neben der Tür zufolge, um das Behandlungszimmer des Schiffsarztes handelte, das ebenfalls von einem Polizisten in Uniform bewacht wurde. Die beiden Männer, die Jocke begleiteten, wechselten ein paar Worte auf Finnisch miteinander, bevor sie die Tür aufschlossen und ihn vor sich her in den Raum schoben. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und Jocke machte ein paar zaghafte Schritte nach vorne. Die Beine schienen unter ihm nachzugeben, und instinktiv hielt er den Atem an.
Auf einer Pritsche an einer der Wände lag Jennifer. Sie war es ganz sicher. Aber alle Lebendigkeit war aus ihrem Gesicht gewichen, das seltsam rot angelaufen war. Ihre Stirn war gepunktet, ebenso die geschlossenen Augenlider. Auf dem Hals entdeckte er einige größere, leicht rötliche Abdrücke, die er ebenfalls nicht wiedererkannte. Und ihre Lippen glänzten nicht mehr. Sie trug nach wie vor ihre kurze, schwarze Lederjacke, und zwischen Hemd und Hosenbund lugte immer noch ein Stück Bauch hervor. Jocke wurde plötzlich die unheimliche Stille bewusst. Kein Laut war zu vernehmen, sogar die Polizisten schienen den Atem anzuhalten.
Schließlich wurde diese Stille von einem langgezogenen, heulenden Laut unterbrochen, der sich aus Jockes Mund drängte. Das Geräusch wurde lauter, und schließlich schlug er die Hände vors Gesicht und ließ seinen Tränen freien Lauf. Er drehte sich hastig um und lief auf die Tür zu.
»Lasst mich hier raus!«, flehte er. »Es ist Jennifer, ich will es nicht mehr sehen! Lasst mich raus, lasst mich raus!«
»Ich weiß nicht, was sie in der Nacht gemacht hat«, musste Jocke zugeben, als er eine Weile später von dem finnischen Kriminalkommissar in einem Raum neben dem Behandlungszimmer vernommen wurde.
Ihm war mitgeteilt worden, dass die Fähre in Åbo angelegt hatte und kein einziger Passagier das Schiff verlassen durfte, bevor nicht alle vernommen worden waren, die sich an Bord befanden. Für ihn selbst hatte das zwar keine Bedeutung, aber es würde noch eine Weile dauern, bis sie nach Stockholm zurückkehren würden.
»Wurde sie ermordet?«, fragte Jocke, obwohl er die Antwort bereits wusste.
»Es sieht so aus, ja. Wahrscheinlich erwürgt. Auf einer der Toiletten.«
»Es könnte also jeder getan haben?«, fragte Jocke.
»Solche Dinge werden selten von jemand x-Beliebigem getan«, antwortete der Polizist mit einem freudlosen Lächeln.
Er verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch und räusperte sich, bevor er einen neuen Anlauf nahm.
»Und du warst oder warst nicht oder warst nur ein bisschen ihr Freund. Wie verhält es sich denn nun in dieser Angelegenheit?«
Nieminen trat zwar korrekt und freundlich gegenüber Jocke auf, doch sein Misstrauen konnte er nur schwer verhehlen. So musste man in seinem Beruf wohl sein. Jocke fühlte sich unwohl und wand sich in seinem Stuhl, nach wie vor ganz erschüttert von seiner Begegnung mit dem ausdruckslosen Gesicht des Todes.
»So und so«, antwortete er verunsichert.
Er verstand ja nicht einmal selbst, wie es sich wirklich verhalten hatte, wie sollte er es dann erklären können?
»Manchmal waren wir zusammen, könnte man sagen. Manchmal auch nicht.«
»Du hast sie ausgenutzt, wann und wie es dir gerade gefiel? Du bist vierundzwanzig, und sie war sechzehn. Eigentlich war sie doch nichts für dich, oder?«
»Vielleicht nicht.«
Jocke konnte immer nur eine Frage auf einmal beantworten, und die Unterstellung, dass er Jennifer ausgenutzt habe, blieb unwidersprochen. Hatte er sie ausgenutzt? Er war doch in Jennifer verliebt gewesen. Es war doch alles echt gewesen. Bis gestern. Bis er sie dabei beobachtet hatte, wie sie sich vor diesen beiden Knackern in der Bar gespreizt hatte. Da waren die zärtlichen Gefühle und alle Hoffnungen erloschen. Danach hatte er nur noch Zorn empfunden. Und Verachtung. Zuerst war er verletzt gewesen, aber das war ihm schon viele Male vorher passiert. Man kann nicht ständig herumlaufen und bluten, sodass er seine Wunden zwang, schnell zu verheilen. Aber sie hatten immer hässliche Narben hinterlassen.
»Erzähl uns von dem Abend. Erzähl uns von Jennifer.«
»Wir saßen in der Kabine direkt nebenan und haben gefeiert, eine Stunde lang vielleicht. Jennifer und ich und noch ein paar andere. Sie saß auf meinem Schoß. Leute kamen und gingen. Eine Kabine weiter wurde auch gefeiert, und die Tür nach nebenan war geöffnet. Dieselbe Truppe. Ich kannte zuerst nur Jennifer, die anderen waren ihre Freunde.«
»Warst du betrunken?«
»Ja, das war ich wohl. Das war ja der Sinn der Übung. Alle waren besoffen.«
»Alle waren besoffen? Das sind doch noch Kinder! Wie sind die überhaupt auf das Schiff gekommen?«
»Die gucken nicht so genau hin. Ich musste meinen Ausweis zeigen, die Mädchen nicht. Ich weiß nicht, wie es bei den anderen war.«
Die halbe Wahrheit, aber Jocke sah keinen Grund, irgendetwas über die falschen Ausweise zu erzählen.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte Nieminen plötzlich.
Jocke hatte sich seit gestern nicht mehr im Spiegel betrachtet und total vergessen, wie er im Augenblick aussah. Instinktiv führte er die Hand zur Nase und betastete sie vorsichtig.
»Hab Prügel bekommen«, murmelte er.
Es widerstrebte ihm, aber unter dem durchdringenden Blick des Polizisten konnte er nicht lügen.
»Mein Alter«, fügte er hinzu. »Es war mein Alter.«
»Ist dein Vater auch auf dem Schiff?«
»Nein, verdammt. Das ist schon am Freitag passiert. Er wird manchmal ein bisschen sauer«, versuchte Jocke die Angelegenheit herunterzuspielen.
»Aha, und danach?«, fuhr Nieminen fort.
»Jennifer war verschwunden. Ich dachte, sie wäre in die andere Kabine gegangen. Nach einer Weile bin ich rübergegangen, um nach ihr zu sehen, aber dort war sie nicht. Ich zog an der Tür zu unserer eigenen Kabine, aber sie war abgeschlossen, und drinnen war es still. Wir hatten nur zwei Schlüsselkarten bekommen, und ich hatte keine von dieser Tür. Dann habe ich auf den Toiletten nachgeguckt, aber sie war weg.«
»Und damit hast du dich zufriedengegeben?«
»Nein, ich bin losgegangen und habe auf dem ganzen Schiff nach ihr gesucht, aber ich konnte sie nicht finden.«
»Wie spät war es, als du festgestellt hast, dass sie verschwunden war?«
»Neun, halb zehn vielleicht, ich weiß es nicht genau.«
»Und dann?«
»Ich habe den Fahrstuhl zu den oberen Decks genommen, um dort nach ihr zu suchen. Ich habe überall nachgesehen. In Bars und Restaurants, in der Disko, überall, aber sie war nirgendwo zu finden. Also habe ich mich oben an die Bar des großen Tanzsaals gesetzt und ein Bier getrunken.«
»Was hast du geglaubt, wohin sie gegangen ist?«
»Keine Ahnung. Manchmal macht sie solche Sachen. Einfach abhauen und so. Man weiß nie so richtig, woran man bei ihr ist. Nach einer Weile habe ich sie dann tatsächlich dort entdeckt. Sie saß am anderen Ende des Lokals, mit zwei Männern. Sie waren schon älter. Trugen Anzüge.«
»Bist du zu ihr gegangen?«
»Nein, bin ich nicht. Ich habe noch eine Weile dort gesessen und bin dann gegangen.«
»Warum? Sie war doch deine Freundin.«
Der misstrauische Blick war mittlerweile ganz unverkennbar. Ja, warum war er eigentlich nicht zu ihr gegangen? Wie sollte er dem Polizisten erklären, dass Jennifer in ihrer Beziehung immer das Sagen hatte, obwohl sie so viel jünger war? Dass er wie ein kleines Anhängsel von Jennifer war, dass er vor ihr noch nie eine Freundin gehabt hatte. Und dass sie angefangen hatte, ihn zu durchschauen.
»Sie war mir egal«, antwortete er leichthin. »Meinetwegen sollte sie doch da sitzen und sich vor diesen alten Knackern aufspielen.«
»Wie hast du dich da gefühlt? Warst du verletzt?«
»Ich hatte nur das Gefühl, dass sie nicht mehr meine Freundin war. Sonst nichts«, log Jocke.
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich ging in einen anderen Laden und habe noch ein paar Bier getrunken«, log er weiter. »Dann bin ich schlafen gegangen.«
»Und diese Männer – würdest du sie wiedererkennen?«
»Weiß nicht. Vielleicht.«
»Wie sahen sie aus?«
»Einer hatte dunkle Haare, der andere war blond, glaube ich. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«
»Waren sie Finnen? Oder Schweden?«
»Keine Ahnung. Ich saß zu weit weg.«
»Wir reden später weiter«, sagte Nieminen und deutete auf die Tür.
*
Im selben Augenblick, als der Krankenwagen Stora Mejtens Gränd mit dem kleinen Kind verließ, tauchte die Polizei auf. Petra dankte der Frau, die Ester Jensen hieß, für ihre Hilfe und bat um Entschuldigung für die Umstände und das Durcheinander, das sie hinterlassen habe. Sie erzählte, dass sie selbst auch Polizistin sei und dass sie sie im Laufe des Tages noch einmal aufsuchen würden, um sich ausführlicher mit ihr zu unterhalten.
Sie ging auf die Straße, um die Polizisten in Empfang zu nehmen. Petra kannte die beiden Männer flüchtig. Der eine hieß Staaf und war von der harmlosen Sorte. Der andere hieß Holgersson und war ein Tollpatsch, der seinen Schwerpunkt zwischen den Schulterblättern zu haben schien. Beim Gehen schaukelte er dermaßen herum, als drohte er jeden Augenblick nach hinten umzukippen. So aufgepumpt, wie seine Oberarme waren, konnte er sie nicht wie normale Leute an den Seiten herabbaumeln lassen, aber vielleicht wollte er auch einfach nur, dass es genau so aussah. Er hatte am Freitag ebenfalls an dem Seminar zur Körpersprache teilgenommen. Mit einer leichten Irritation erinnerte sie sich daran, dass möglicherweise er es gewesen war, der ihr den Begriff »sexy« in den Mund gelegt hatte, als davon die Rede gewesen war, wie der Polizeidirektor sich bewegte.
Staaf erkannte sie wieder und lächelte. Holgersson hatte ebenfalls die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen, während sich seine Blicke auf ganz andere Teile ihres Körpers richteten als auf ihre Augen.
»Hallo«, sagte sie und nickte ihnen zu. »Ich habe das Kind gefunden.«
»Oh, verdammt«, sagte Staaf.
»Ich zeige euch, wo er gelegen hat«, sagte Petra und begann mit den beiden Polizisten im Schlepptau in den Park hinunterzugehen bis zu dem Gebüsch, in dem sie den Jungen entdeckt hatte.
Mit einer Geste signalisierte sie ihnen, dass sie stehen bleiben sollten, und näherte sich so vorsichtig wie möglich über das immer noch taunasse Gras dem Gebüsch. Instinktiv spürte sie Holgerssons Blicke in ihrem Rücken oder eher ein Stück tiefer. Jedenfalls war sie sicher, dass er guckte. Enge Laufhosen waren bestimmt nicht die Klamotten, die sie in Holgerssons Gesellschaft am liebsten trug.
»Hier drin hat er gelegen«, sagte Petra, und es gelang ihr, den Kinderwagenaufsatz mit einem Ruck aus den Büschen zu reißen.
Schließlich kehrten sie zum Wendehammer zurück, auf dem der Kinderwagen stand. Jetzt entdeckte sie, dass er beschädigt war. Eines der Räder saß vollkommen schief, und das Gestell war auf einer Seite ziemlich verbogen. Sie stellte den Aufsatz auf den Kinderwagen und ließ die beiden Tragriemen auf das kleine Bett fallen.
»Die beiden müssen zusammengehören«, sagte Petra. »Sie passen zueinander, auch wenn der Wagen ein bisschen mitgenommen aussieht. Wir werden ein ziemlich großes Gebiet absperren müssen«, fügte sie hinzu und deutete mit der Hand zu dem Gebüsch hinüber, das etwa dreißig Meter entfernt lag.
Ein weiterer Streifenwagen tauchte auf, und zwei Beamte stiegen aus. Holgersson forderte sie auf, die Absperrausrüstung mitzubringen. Petra berichtete von ihrer makabren Entdeckung und unternahm anschließend auf eigene Faust einen größeren Rundgang um den Fundort, während sie versuchte, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Erst jetzt spürte sie die Schmerzen, die von den Schrammen auf ihren Beinen herrührten. Sie schaute nach unten und musste feststellen, dass sie die teuren Nike-Hosen wegwerfen konnte.
Irgendjemand musste das Kind vermissen, dachte sie. Irgendjemand musste in diesem Augenblick vollkommen verzweifelt sein und nach einem blauen Kinderwagen mit weißen Punkten suchen. Wir müssen die Eltern des Jungen ausfindig machen. Aber das ist nicht meine Aufgabe, fiel ihr plötzlich ein. Ich bin nur eine Zeugin, ich muss es den anderen überlassen und nach Hause gehen.
Sie kehrte zu dem Wendehammer zurück. Die Absperrungen waren mittlerweile fast fertig aufgestellt. Aus reiner Routine warf sie einen Blick in den Mülleimer, den sie passierte, als sie sich wieder auf dem Weg befand. Nichts Besonderes. Es war nicht ihre Aufgabe, in Mülleimern zu wühlen und im Gras nach Spuren zu suchen. Darum sollten sich Staaf und Holgersson und ihre Kollegen kümmern.
»Ich bin jetzt weg!«, rief sie Staaf zu, der etwas weiter unten am Hang stand. »Ihr wisst, wie ihr mich erreichen könnt. Die alte Dame in der Nummer zehn da hinten weiß, dass ihr noch vorbeikommt. Viel Glück.«
»Danke. Wir melden uns«, antwortete Staaf und hob eine Hand zum Abschied.
Etwas weiter hinten stand Holgersson auf dem Rasen und sah ihr mit einem vieldeutigen Lächeln nach. Mit einem leichten Schaudern drehte sie sich um und ging in Richtung Kleingartenkolonie. Ohne direkten Grund blieb sie vor einer der umzäunten Sandkisten des Straßenbauamtes stehen, an der sie vorüberkam. Sie ging zu der Kiste hinüber und zog sich instinktiv den Ärmel der Kapuzenjacke über ihre Finger, bevor sie den schweren Deckel einen Spaltbreit anhob. Sie blieb einige Sekunden stehen, dann ließ sie den Deckel mit einem lauten Knall zufallen.
»Holgersson! Staaf!«, rief Petra Westman. »Ihr müsst die Absperrungen erweitern. Ich glaube, ich habe die Mutter gefunden.«