Montagabend
Schon am Morgen hatte Hanna vorausschauend gehandelt und alle Packungen aus dem Tiefkühlfach gezogen, denen sie von außen ansehen konnte, was sich darin befand. Jetzt kniete sie auf Papas Stuhl in der Küche und aß kalte, aber nicht mehr gefrorene Fleischklößchen direkt von der Tischplatte. Am Vormittag hatte sie eine ungeöffnete Packung Leberpastete im Kühlschrank gefunden und hatte nach langem Zögern schließlich doch das große Messer benutzt, um sie aufzumachen. Und es war ihr gelungen, ohne dass sie sich dabei geschnitten hatte. Dann hatte sie die ganze Leberpastete ohne Brot verschlungen, aber es war lecker gewesen, und satt war sie auch geworden.
Am Morgen hatte sie erst eine Weile in ihrem Zimmer gespielt, aber sie hatte sich einsam dabei gefühlt. Obwohl sich außer ihr niemand in der Wohnung befand, fühlte sie sich sicherer, wenn sie in einem der Zimmer war, in dem sich sonst auch der Rest der Familie aufhielt. Sie hatte ihren kleinen Puppenwagen voll mit Spielsachen geladen und ihn ins Wohnzimmer gezogen. Anschließend hatte sie den Rest des Tages mit ihren Spielsachen vor dem Fernseher verbracht. Obwohl sie das meiste von dem, was sich auf dem Bildschirm abspielte, nicht verstehen konnte, war es ihr lieber, sich in einem Raum voller Stimmen und Geräusche aufzuhalten. Als sie sich am Nachmittag langsam müde zu fühlen begann, hatte sie sich eine Weile im Bett der Eltern schlafen gelegt und war erst wieder aufgewacht, als die Sonne schon niedrig am Himmel stand.
»Dumme Barbro«, sagte sie laut vor sich hin.
Diese dumme Barbro, die versprochen hatte, zu kommen und sie zu retten. Sie hatte zwar gesagt, dass es eine Weile dauern könnte, aber jetzt hatte Hanna schon eine Ewigkeit gewartet. Und den ganzen Tag hatte niemand angerufen. Nicht einmal Mama. Wenigstens Mama könnte doch anrufen und eine Weile mit ihr reden. Auch wenn sie nicht mehr hier wohnen wollte. Hanna hatte selber versucht anzurufen, aber nirgendwo war jemand ans Telefon gegangen. Sie stopfte sich noch ein Fleischklößchen in den Mund, und das war so groß, dass der Mund ganz voll davon wurde.
»Gumme Gaggo«, kam heraus, als sie zu sprechen versuchte.
Das klang lustig. Sie lachte, dass ihr die Fleischklößchenbröckchen aus dem Mund flogen.
»Gumme Gaggo«, sagte sie mehrere Male, bis es irgendwann wieder wie »dumme Barbro« zu klingen begann.
Die Fleischklößchen, die sie nicht mehr schaffte, legte sie in die Verpackung zurück, die sie auf dem Tisch stehen ließ. Im Kindergarten mussten die Kinder, die keine Windeln mehr trugen, nach dem Essen auf die Toilette und Pipi machen, also machte Hanna es genauso. Es hatte sogar richtig gut geklappt. Nur ein einziges Mal hatte sie Pipi in die Hose gemacht, und da konnte sie es sogar anhalten und schnell auf die Toilette laufen und ihr Pipi zu Ende machen. Wenn Papa nach Hause kam, würde er zufrieden darüber sein, dass sie so etwas schon konnte. Wenn er überhaupt irgendwann nach Hause kommen würde.
Als sie nach dem Toilettenbesuch auf ihrem kleinen, weißen Schemel stand und sich die Hände wusch, klingelte das Telefon. Zum ersten Mal an diesem Tag klingelte das Telefon. Ohne sich die Hände abzutrocknen, stürmte sie in den Flur hinaus, kletterte schnell, aber vorsichtig auf den Hochstuhl und nahm den Hörer ab.
»Hallo!«, rief sie, aber am anderen Ende blieb es still.
»Hallo! Hallo! Bist du das, Barbro?«
Keine Antwort, aber trotzdem spürte sie, dass dort jemand war. Sie musste daran denken, was Barbro gesagt hatte. Dass sie, wenn jemand anrief – ganz egal, wer anrief – dasselbe noch einmal erzählen sollte, was sie ihr erzählt hatte.
»Meine Mama ist ausgezogen und Papa ist in Japan und ich bin ganz allein!«
Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
»Kannst du kommen und mich retten, denn ich bin hingefallen und habe mir wehgetan und es ist Blut gekommen, aber das ist jetzt schon fast wieder weg. Ich kann nicht rauskommen, weil Mama mich eingeschlossen hat, weil ich so ungezogen bin. Barbro wollte kommen und mich retten, aber das ist schon viele Tage her und ich bin so allein.«
Immer noch keine Antwort, aber sie war sicher, dass sie jemanden atmen hörte, sodass sie fortfuhr:
»Aus meinem Fenster kann ich ein Schloss sehen. Ein schönes, gelbes Schloss mit einem Turm für die Prinzessin und roten und blauen Karos drauf. Und Buchstaben …«
»Ich weiß, wo du wohnst«, sagte plötzlich eine tiefe Stimme aus dem Hörer.
»Wirklich?«, sagte Hanna erstaunt. »Dann musst du kommen und mich retten, bitte, bitte! Ich werde nicht ungezogen sein und bestimmt gehorchen.«
»Das klingt ja gut«, sagte der Mann mit etwas schleppender Stimme.
»Wie heißt du?«, fragte Hanna.
»Teddy«, antwortete die Stimme.
Hanna wusste nicht, dass man so heißen konnte. Sie fand den Namen süß, aber auch ein bisschen seltsam. Aber das sagte sie nicht. Sie wollte den Onkel ja nicht traurig machen.
»Und wie heißt du?«, wollte der Onkel wissen.
»Hanna. Findest du den Namen schön?«
»Ich finde, das ist ein sehr schöner Name«, sagte der Onkel freundlich. »Bist du ganz alleine zu Hause?«
»Das habe ich doch schon gesagt! Kommst du jetzt?«
»Heute Abend kann ich nicht kommen, dafür ist es schon zu spät. Aber morgen vielleicht?«
»Ja!«, jubelte Hanna. »Dauert das noch lange?«
»Tja«, antwortete die Stimme unschlüssig, »kommt darauf an, was man lange findet. Zuerst musst du die ganze Nacht schlafen, dann ist es morgen. Ich komme dann, wenn es Abend geworden ist.«
»Aber Mama hat mich eingeschlossen und man kann die Tür nicht aufmachen«, fiel Hanna plötzlich ein.
»Das Problem werden wir morgen schon lösen. Ich habe so viele Schlüssel. Da wird einer von ihnen bestimmt in euer Schloss passen. Hast du etwas zu essen?«
»Ich habe Fleischklößchen aus dem Kühlschrank gegessen. Und Leberpastete. Aber die Süßigkeiten sind alle.«
»Dann werde ich dir Süßigkeiten mitbringen, wenn ich morgen komme. Und Hamburger vielleicht. Magst du Hamburger?«
»Ja, super! Das finde ich toll!«
»Du musst ja ziemlich schmutzig sein, Hanna. Ist das so?«
»Ich habe gebadet, aber dann habe ich Wasser in die Nase bekommen und …«
»Das solltest du nicht tun«, sagte der Onkel. »Wir können morgen baden, du und ich. Ich bringe Hamburger und Süßigkeiten mit, dann machen wir ein kleines Fest, und danach baden wir, damit du richtig nett und sauber wirst.«
»Ja, so machen wir das«, sagte Hanna.
»Aber du, darüber sollten wir mit niemandem reden, finde ich. Das soll unser kleines Geheimnis bleiben …«
»Okay«, sagte Hanna. »Ich verspreche dir, alles genau so zu machen, wie du gesagt hast. Ich werde nie mehr ungezogen sein, das habe ich beschlossen.«
»Das ist sehr gut. Tschüß, Hanna.«
Das Gespräch war vorbei, aber Hanna freute sich wie ein Schneekönig. Jetzt hatte sie noch jemanden, auf den sie hoffen konnte, und sie war so aufgeräumt, dass sie an diesem Abend länger aufblieb. Erst als die Stimmen und die Musik, die den ganzen Tag aus dem Fernseher geströmt waren, sich in ein wütendes Rauschen verwandelten, zog sie sich ins Schlafzimmer zurück, kauerte sich in dem großen Doppelbett zusammen und schlief ein.
*
Sie hatte nie geglaubt, dass man sich so fühlen konnte. Obwohl sie in der Schule immer Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren, hatte sie jetzt nichts anderes mehr im Kopf als dieses eine Ereignis. Diese Sekunden, in denen sie etwas vollkommen Idiotisches angestellt hatte. Wie hatte sie nur so bescheuert sein können? Nichts konnte so viel wert sein, dass man eine solche Angst dafür ertrug. Und das alles nur für ein paar armselige Hunderter.
Sie hatte fast gar nicht mehr geschlafen, seit es passiert war. Sie sah diese leeren, wässrigen Augen vor sich. Den Blick, der über sie wanderte, aber niemals ihrem Blick begegnete. Dieser Blick, der sie betrachtete, ohne sie zu sehen. Die Hand, die sich auf und ab bewegte, auf und ab, die seltsamen Laute, die ausgestoßen wurden, sich wiederholten, immer und immer wieder. Die Finger, die über ihren Körper wanderten, die sich zwischen ihre Schenkel suchten, während sie mit gespreizten Beinen und hochgezogenem Rock und dem Höschen in der Jackentasche dasaß. Immer und immer wieder musste sie ihn ermahnen, ihn wegschieben. Immer und immer wieder kam er zurück.
Am Ende, nach einer Ewigkeit, dieser langgezogene, erstickte Schrei, der in sich gekehrte Blick, die Brieftasche, die dalag und darum bettelte, geklaut zu werden, der Ekel und eine plötzliche Eingebung. Die Stimme, die in ihrem Kopf noch lange nachhallte, die Worte, die immer noch in der Luft hingen: »Du verdammte kleine Hure! Was zum Teufel machst du da! Ich werde …« Und dann der Blitzstart, kreischende Reifen und knallende Autotüren. Aber sie war schon weit weg, lief, so schnell sie konnte. Bevor sie in eine andere Straße abbog, drehte sie sich um und sah ihn ein letztes Mal – plötzlich war er aus dem Auto raus, wollte ihr stattdessen nachlaufen. Dann war sie außer Hörweite, sah ihn nicht mehr. Sie war so verdammt unglaublich schnell gelaufen, und er hatte sie nicht mehr einholen können.
Trotzdem war er die ganze Zeit da. Sie hatte eine solche Angst, dass sie sich kaum vor die Tür wagte. Wenn sie ihm zufällig über den Weg laufen würde, was würde sie dann machen? Wenn sie rausging, nahm sie den Hinterausgang zum Tjurberget hinüber. Auf die Götgatan wagte sie keinen Fuß zu setzen. Sie machte lange Umwege, um die Gegend um diesen verdammten Zeitungskiosk zu vermeiden.
Die Brieftasche lag in einer Schublade mit Kleidern unter ihrem Bett und brannte ihr auf der Seele. Sie hatte noch nicht einmal gewagt, sie zu öffnen; hatte es nicht gewagt, das Geld zu nehmen, das sie so gerne haben wollte, dass sie zum ersten Mal ein Verbrechen begangen hatte. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit ihr anfangen sollte. Sie konnte sie nicht loswerden, denn er könnte ja zu ihr kommen und die Brieftasche zurückfordern. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, sie zu behalten. Es war so schon schlimm genug, ohne dass sie ihr Zimmer mit der Ursache ihres Unglücks teilen musste.
Und mit Jennifer, dachte sie manchmal. Mit Jennifers Unglück. Dieses Brieftaschenelend hatte ihre Gedanken dermaßen in Beschlag genommen, dass sie weder die Zeit noch die Kraft hatte, richtig um Jennifer zu trauern. Jennifer war weg, sie war tot. Ermordet. Aber sie selbst war mit anderen Dingen beschäftigt. Sie hatte Gewissensbisse wegen Jennifer. Alle anderen trauerten um sie. Elise vermisste sie, so war es nicht. Aber es war auch schön, in Frieden gelassen zu werden. Das Zimmer und seine Gedanken für sich selbst zu haben. Jennifer hätte sie aufgezogen, hätte sie ausgelacht, wenn sie erfahren hätte, was sie für einen Mist gebaut hatte. Wenn sie noch leben würde.
Wer würde Elise vermissen, wenn sie starb? Absolut niemand. Mama würde die andere Last auch noch loswerden und könnte wie gewohnt mit ihren widerlichen Kumpanen weiterfeiern. Nina und ihre anderen Freundinnen? Sie würden vielleicht eine kleine Krokodilsträne verdrücken, aber dann wäre sie vergessen. Das Leben geht weiter. Wenn man auf der Welt keinen Platz für sich in Anspruch genommen hatte, dann bleibt auch kein leerer Fleck zurück, wenn man starb. Aber Jennifer hatte eine große Leere hinterlassen.
Dann musste sie an Jocke denken. Mit dem Bart und den freundlichen Augen. Vielleicht vermisste er Jennifer. Ja, das tat er ganz bestimmt. Falls sie überhaupt noch zusammen gewesen waren, so ganz klar war das ja nicht. Vielleicht hatte er sie auch umgebracht. So war es ja meistens. Eifersüchtige Freunde oder Ehemänner oder Exmänner – das waren die Leute, die Frauen umbrachten. Sie schauderte, als sie sich Jocke und Jennifer vorstellte. Er einen Kopf größer, die starken Hände um Jennifers Hals gelegt. Jennifer in Panik, zappelnd, um Atem ringend. Lange, lange, bis sie schließlich aufgibt. Dann lässt er sie los, und sie bricht zusammen.
Und dann wieder diese Brieftasche. Sie versuchte logisch zu denken. Ständig wurden Brieftaschen geklaut. Sie war nicht die erste Diebin der Weltgeschichte. Was wurde mit Dieben gemacht? Meistens wurden sie nicht geschnappt. Ansonsten – ja, was? Die Polizei verhaftete sie, und sie saßen ihre Strafe ab. Was würde in ihrem Fall dabei herauskommen? Gefängnis? Beim ersten Mal wohl kaum. Geldbußen, Besserungsanstalt? Sie würde in der Verbrecherkartei landen. So what? Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Und trotzdem dieser Zustand lähmenden Schreckens. Es war dieser Blick. Die Augen, die sahen, aber trotzdem nicht sahen. Für diesen fiesen Typen war sie nicht mehr wert als eine Zigarettenkippe unter seiner Sohle. Und trotzdem – er würde sie ja nicht gleich umbringen, nur weil sie seine Brieftasche gestohlen hatte. So kranke Menschen gab es nicht. Wenn nicht, dachte sie plötzlich, wenn nicht eine riesige Menge Geld in dieser Brieftasche steckte.
Sie lag auf dem Rücken in ihrem Bett, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte auf die Unterseite von Jennifers Bett. Dort hatte sie vor vielen Jahren ein Robbie-Williams-Poster hingeklebt. Das Klebeband war vergilbt, und eine Ecke hatte sich bereits gelöst. Das Zimmer duftete immer noch schwach nach Jennifers Parfum. Es war stiller als sonst. Aus der Küche waren ein paar Stimmen zu hören, aber die meisten Freunde ihrer Mutter waren heute nicht aufgetaucht. Vielleicht hatten sie einen anderen Ort gefunden, an dem sie heute Abend abhängen konnten.
Ansonsten machte ihre Mutter weiter, als wäre nichts geschehen. Schon möglich, dass sie irgendwo in ihrem Nebel um Jennifer trauerte, dass sie Gefühle für ihre Töchter hatte, aber davon war nichts zu spüren. Wenn sie sich manchmal mit nüchternen Menschen unterhielt, wie den beiden Polizisten, die sie heute Nachmittag besucht hatten, machte es ihr dermaßen große Schwierigkeiten, die Nüchterne zu spielen, dass man hinter dieser Maske kaum erkennen konnte, wer sie wirklich war. Elise hatte bemerkt, wie idiotisch und gekünstelt sich ihre Mutter aufgeführt hatte. Ihr Bemühen, alle Konsonanten sorgfältig auszusprechen, was zur Folge hatte, dass die Wörter übertrieben lang gerieten und das R ganz lächerlich hervortrat. Bei solchen Anlässen schämte sich Elise für ihre Mutter. Es war ihr lieber, wenn sie ordentlich besoffen war, wie meistens. Dann war sie immerhin sie selbst.
Elise setzte sich auf die Bettkante. Mit einem tiefen Seufzen hockte sie sich schließlich hin und zog die Schublade unter dem Bett hervor. Sie nahm ein paar Stapel Kleider heraus, und da war sie auch schon. Eine kleine, dünne Brieftasche aus schwarzem Leder. Sie wog sie in einer Hand, als wollte sie eine Vorahnung davon bekommen, was sich darin befand. Dann öffnete sie sie ganz vorsichtig, als hätte sie Angst davor, dass sie ihr in den Händen zerfallen oder explodieren könnte. Sie enthielt keine Kreditkarten, aber eine Krankenversicherungskarte, eine ICA-Kundenkarte, eine Coop-Kundenkarte und einen Mitgliedsausweis der Videothekenkette Buylando. Im Geldfach fand sie sechs Fünfhunderter: dreitausend Kronen. Das war sehr viel Geld für sie, aber war es das auch für ihn? War es genug, um dafür das Gesetz in eigene Hände zu nehmen, sie aufzuspüren und ihr etwas anzutun? Sie wusste es nicht. Aber sie wusste jetzt, wer er war. Mit ernster Miene betrachtete er sie aus seinem Führerschein. Sie kannte seinen Namen, seine Sozialversicherungsnummer und seine Adresse. Aber was sollte sie mit diesen Informationen anfangen?
*
Conny Sjöberg saß zusammen mit Hamad in Erikssons Büro und ging die Listen mit den Namen von Personal und Passagieren der großen Finnlandfähre durch. Einar Eriksson hatte neue Listen produziert. Listen mit Namen, sortiert nach Geschlecht, Alter und Nationalität, Listen über Familien mit Kindern, Listen mit vorbestraften Personen und mit Personen, die in Kriminalermittlungen schon einmal aufgetaucht waren, Personen, die mit dem Sozialamt zu tun hatten, Listen von allen Minderjährigen sowie Listen, die nach etlichen anderen Kriterien sortiert waren.
Sjöberg wurde allmählich klar, dass sie den Personenkreis für ihre Suche nach dem Täter erweitern mussten, auch wenn es Ewigkeiten dauern würde, die Vernehmungen auf der Grundlage dieser Listen durchzuführen. Einer dieser Menschen hatte Jennifer Johansson umgebracht, aber es war unwahrscheinlich, dass es ein x-beliebiger Täter war. Wer immer es auch war, er musste einen wichtigen Grund gehabt haben, dem Mädchen das Leben zu nehmen. Es musste jemand sein, den sie gekannt hatte, jemand, dem sie in irgendeinem Zusammenhang begegnet war, ein Schatten aus der Vergangenheit, der ebenfalls an Bord gegangen war, vielleicht bereits mit der Absicht, sie zu töten.
Oder es war jemand, den sie auf dem Schiff getroffen hatte, jemand, über den sie zu viel herausgefunden hatte oder dessen Gefühle sie verletzt hatte, sodass er sie im Affekt getötet hatte. Es musste Zeugen geben, dachte er. Es musste Zeugen geben für irgendetwas, das zu diesem Mord geführt hatte.
Die finnische Polizei arbeitete intensiv daran, die beiden Geschäftsleute ausfindig zu machen, mit denen Jennifer in dem Tanzlokal gesehen worden war. Sjöberg hoffte, dass dabei schnell etwas herauskommen würde. Ihre andere Aufgabe, den einsamen schwedischen Mann von der Bar zu finden, schien ihm jedenfalls bedeutend schwieriger. Aber wenn dieser Mann der Mörder war, wenn er diese Reise einzig und allein unternommen hatte, um Jennifer zu töten, war er vermutlich ohne Begleitung unterwegs gewesen und somit leichter zu finden. Eriksson arbeitete an einer Aufstellung aller allein reisenden Männer, die eine Einzelkabine oder eine Mehrbettkabine zusammen mit ihnen unbekannten Menschen gebucht hatten. Diese Liste konnte – zusammen mit der Liste aller vorbestraften Personen – besonders wichtig werden. Natürlich nur, wenn der Mann von der Bar sich wirklich als wichtig für die Ermittlungen herausstellen sollte. Es gab viele Wenns, aber Sjöberg setzte im Augenblick große Hoffnungen in diesen Mann.
Jennifer Johansson war obduziert worden. Es gab nichts Auffälliges: keine Schwangerschaft, keine Spuren von Misshandlungen, weder aktuell noch in der Vergangenheit. Keine Anzeichen irgendwelcher Krankheiten, keine andere denkbare Todesursache als durch Erwürgen. Man hatte Haare von einer Reihe unterschiedlicher Personen gefunden. Sie konnten von jedem auf dem Schiff stammen, sie konnten beim Gedränge auf dem Tanzparkett in ihren Kleidern hängen geblieben sein oder vom Toilettenboden stammen, auf dem man sie gefunden hatte. Sie konnten auch vom Mörder stammen.
Man hatte ebenfalls festgestellt, dass Jennifer Johansson in ihren letzten Stunden sexuell aktiv gewesen war. Das Sperma musste noch analysiert werden. Es sprach natürlich einiges dafür, dass es von Jocke stammte, aber falls es nicht so war, eröffneten sich neue Möglichkeiten. Hatte der Mörder sie vergewaltigt? Kaum. Jedenfalls nicht unmittelbar vor der Tat, das wäre auf der öffentlichen Toilette viel zu riskant gewesen, von der Enge in der Toilettenkabine ganz zu schweigen. Aber vielleicht hatte sie freiwillig mit ihm Sex in der Toilette gehabt, bevor sie ermordet wurde? Das war möglich. Es war genauso gut möglich, dass sie mit dem Mörder früher am Abend Sex gehabt hatte. Oder mit jemand anderem auf dem Schiff. Es gab, wie gesagt, viele Möglichkeiten, aber das Sperma würde sie früher oder später zu einer Person führen, die sie belogen oder ihnen wichtige Informationen vorenthalten hatte.
Während er die letzten Reste aus seinem Kaffeebecher trank, beobachtete er heimlich Hamad. Jamal Hamad, der Mann mit dem Elefantengedächtnis. An seinem eigenen Gedächtnis gab es auch nichts auszusetzen, aber Hamads war etwas ganz Besonderes. Konzentriert ging er die seitenlangen Listen durch, die Eriksson erstellt hatte. Sjöberg sah, wie sich sein Blick hin und her bewegte, hin und her und mit großer Aufmerksamkeit über die Zeilen wanderte. Ihm selbst brannten nach einer Weile die Augen davon, und er wollte das eine oder andere mit seinen Kollegen besprechen, aber Eriksson saß mit grimmiger Miene vor seinem Computer und hämmerte in die Tastatur, und Hamad murmelte nur eine kurze Antwort, ohne die Augen von seinen Listen zu nehmen. Das Handy piepte, und als Sjöberg sah, dass es eine SMS von Åsa war, nutzte er die Gelegenheit, um auf den Flur zu gehen und sich ein paar Minuten Abwechslung von seiner eintönigen Arbeit zu gönnen.
»Kinder krank, bleibe bei Oma. Viele Küsse, arbeite dich nicht tot«, stand dort. Er war offensichtlich in Gnaden wieder aufgenommen worden. Die Mitteilung war bereits am Nachmittag geschickt worden, aber der verdammte Provider ließ sich manchmal viel Zeit damit, eine SMS zu befördern. Er löschte die Mitteilung und wählte die Nummer seiner Schwiegereltern.
»Ich habe deine Nachricht erst jetzt bekommen«, entschuldigte er sich, nachdem er Åsa an den Hörer bekommen hatte. »Was ist passiert?«
Åsa seufzte tief am anderen Ende der Leitung.
»Sowohl Simon als auch Sara haben die Windpocken bekommen«, stellte sie erschöpft fest. »Da können wir genauso gut hierbleiben, wo Mama und Papa ein bisschen helfen können.«
»Und du? Du musst doch arbeiten?«
»Ich werde auf jeden Fall ein paar Tage freinehmen. Ich müsste am Donnerstag wieder arbeiten, aber wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht.«
»Windpocken«, sagte Sjöberg resigniert, »das dauert doch mehrere Wochen, oder?«
»Und ansteckend ist es auch«, sagte Åsa mit einem desillusionierten Lachen. »Dann wird wohl ein Monat vergehen, bis wir die Geschichte hinter uns haben.«
»Alle anderen Leute haben zwei Kinder. Warum müssen wir ausgerechnet fünf haben?«
»Tja, das hättest du dir vorher überlegen sollen!«
»Aber du kannst doch keine kranken Kinder im Zug mit nach Hause nehmen. Ich muss mit dem Bus kommen und euch abholen. Wie krank sind sie denn?«
»Es ist nicht so schlimm, ein bisschen Fieber«, sagte Åsa. »Aber sie jammern über das Jucken. Warte ruhig ein paar Tage ab, dann werden wir uns etwas überlegen.«
»Und die beiden kleinen Racker, die sind bestimmt gesünder als je zuvor, wenn ich mich nicht irre?«
Sjöberg meinte die beiden zweijährigen Zwillinge, die sie im Zusammenhang mit einem Fall, an dem er gearbeitet hatte, kurz nach ihrer Geburt adoptiert hatten. Ihre biologische Mutter war drogenabhängig und ahnte nichts von ihrer Schwangerschaft, als sie plötzlich, kurz vor ihrem Tod, die Zwillinge auf die Welt brachte. Sjöberg, der die beiden in ihren ersten Tagen regelmäßig im Krankenhaus besucht hatte, zögerte nicht eine Sekunde, die schon große Familie mit zwei weiteren Kindern zu bereichern, und Åsa musste er auch nicht lange überreden. Jonathan und Christoffer waren zwei – gelinde gesagt – lebhafte kleine Jungen.
»Stimmt, aber Opa ist begeistert«, sagte Åsa.
»Das glaube ich, aber er muss ja auch nicht hinter ihnen herräumen. Wie geht es dir, bist du müde?«
»Erschöpft«, antwortete Åsa ehrlich. »Aber wir sind ja zu dritt. Das macht die Sache leichter.«
»Ich werde meinen Teil übernehmen«, sagte Sjöberg, »wenn wir sie erst einmal nach Hause bekommen haben.«
»Mach dir darüber erst mal keine Gedanken. Was ist mit den Morden?«
Während er erzählte, spürte er, wie intensiv er sich nach Åsa sehnte. Nach seiner Lebensgefährtin und großen Liebe. Er brauchte sie, und er wollte sie bei sich haben. Ein paar Tage Junggesellenleben hatten vollauf gereicht. Jetzt wollte er seine Familie wiederhaben. Außerdem wollte er Trost in Åsas Armen finden, stillen Trost, einfach das Gefühl, dass sie zusammen waren. Den Zwischenfall – oder wie man es nun nennen wollte – mit Margit Olofsson hatte er zu den Akten gelegt, irgendwo ganz hinten verborgen. Keine weiteren Maßnahmen. Punkt.
Als Sjöberg zu den anderen zurückkam, verkündete Eriksson, dass die Auflistung der allein reisenden Männer auf der Amorella fertig sei. Wie konnte er so viel leisten, ohne sich je von seinem Stuhl zu erheben? Es handelte sich um etwa fünfzig Männer, die die Reise über die Ostsee ohne Begleitung gebucht hatten. Unter Hamads Verantwortung sollten diejenigen von ihnen, die in der Region Stockholm beheimatet waren, befragt werden. Sjöberg übernahm die Aufgabe, Jennifer Johanssons Schule zu besuchen, um sich mit der Hilfe ihrer Lehrer und Klassenkameraden ein noch genaueres Bild von ihr zu machen. Noch mehr Listen konnte er nicht verkraften, also beschloss er, für heute Feierabend zu machen. Hamad und Eriksson saßen immer noch da, als er das Polizeigebäude verließ.
*
Petra saß schon eine Weile wieder in ihrem Büro. Sie hatte eine Aufgabe nach der anderen abgearbeitet, um den Besuch beim Polizeidirektor so lange wie möglich vor sich herschieben zu können. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was er von ihr wollte, auf den Ton, den er ihr gegenüber am Telefon angeschlagen hatte. Und sie hatte keine Ahnung, wie ihr erster offizieller Medienauftritt gelaufen war. Gab es irgendeinen Grund, nervös zu sein?
Auf dem Rückweg zur Polizeiwache hatte sie diese verdammte Abendzeitung gekauft, und jetzt saß sie da und las sich den Artikel zum hundertsten Mal durch. Er füllte eine Seite. Eine ganze Seite, aber mehr auch nicht. Das war nicht wenig, aber auch nicht besonders viel. Für Petras seelisches Wohlbefinden war es allerdings viel zu viel. Sie wollte überhaupt nicht in den Medien auftauchen. Der Gedanke, dass Peder Fryhk und der andere Mann in der Zeitung von ihr lesen und entdecken würden, dass sie Polizistin war, behagte ihr überhaupt nicht. Die Reportage enthielt keine Porträtaufnahme von ihr, sondern nur ein Foto, das schon früher veröffentlicht worden war. Darauf trug sie zerrissene Laufhosen und hatte dem Fotografen den Rücken zugewandt, während sie mit anderen Polizisten hinter den Absperrbändern im Vitabergspark stand. Dagegen wurde sie im Artikel mehrfach namentlich erwähnt: »Kriminalassistentin Petra Westman machte den makabren Fund …«, »Das Kind könnte ein älteres Geschwister haben, so Petra Westman von der Hammarbywache«, »Westman gibt zu, dass es der Polizei bislang noch nicht gelungen ist, die tote Frau zu identifizieren«. Das war es. Dort könnte die Polizeiführung einen Anlass für Kritik gefunden haben. Die Wortwahl der Journalistin war nicht hundertprozentig zu Petras Vorteil geraten. Dass sie etwas »zugegeben« habe, vermittelte den Eindruck von einer gewissen Geheimniskrämerei, und dass der Polizei etwas »nicht gelungen« sei, deutete ein Ermittlungsfiasko an. Die Öffentlichkeit liebte so etwas, nicht aber die Polizeiführung.
Petra seufzte und erhob sich. Es war an der Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen und sich beim Polizeidirektor einzufinden. Sie ging bis zum Ende des Korridors und nahm den Aufzug in das oberste Stockwerk, wo die großen Tiere und Teile der Verwaltung saßen. Unterdessen übte sie ihre zugegebenermaßen naive Verteidigungsrede ein, die darauf hinauslief, dass es nicht ihre eigenen Formulierungen waren, die die Reporterin in ihrem Artikel benutzt hatte, und dass sie angewiesen worden war, das Interview zu geben, obwohl sie keine Erfahrungen in der Kommunikation mit den Medien hatte.
Die Tür zu Brandts Büro war geschlossen, und sie klopfte vorsichtig an.
»Ja«, erklang es hinter der Tür, und Petra streckte ihren Rücken, öffnete und trat ein.
»Petra!«, sagte der Polizeidirektor und erhob sich mit einem breiten Lächeln. »Willkommen!«
Petra lächelte zurück, und er kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Petra bereitete sich auf ein konventionelles Händeschütteln vor, aber er nahm ihre Hand in seine beiden Hände. Dann legte er eine Hand auf ihren Rücken und führte sie mit sanftem Druck zu einem der Sessel, die vor dem Fenster standen. Petra setzte sich auf den angewiesenen Platz, während er stehen blieb und sie mit einem Blick musterte, der unmöglich zu deuten war. Der Brustkorb, dachte sie. Er sah aus, als würde er gleich vornüberkippen. Sein Schwerpunkt lag im Brustkorb. Wie bei Groucho Marx.
»Kaffee?«, fragte er.
»Nein, danke«, antwortete Petra mit einer ablehnenden Geste.
»Mineralwasser?«
»Gerne.«
»Zwei Mineralwasser, bitte«, sagte er in die Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch und kam dann herüber und setzte sich in den anderen Sessel.
Zwischen ihnen stand ein runder Tisch, der so klein war, dass er ohne große Probleme hinüberreichen konnte. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und fragte:
»Wie kommen die Ermittlungen voran? Sie scheinen etwas zäh anzulaufen?«
Die Berührung ließ Petra erstarren, aber sie antwortete so entspannt, wie sie konnte:
»Ja, das kann man wohl sagen. Wir haben schon alle Hände voll damit zu tun, die Identität der Frau herauszufinden. Und keine der Werkstätten, mit denen wir bislang gesprochen haben, hat ein Auto hereinbekommen, dessen Schäden mit denen am Opfer und am Kinderwagen übereinstimmen.«
Es klopfte an der Tür, und Brandt nahm mit einer ungezwungenen Bewegung die Hand wieder von ihrer Schulter. Ein klassischer Sekretärinnentyp mittleren Alters, komplett mit Rock, Bluse und Perlenhalsband, kam mit einem Tablett herein, auf dem zwei Gläser und zwei Flaschen Wasser standen, und stellte es auf dem Tisch ab. Sie nickte beiden freundlich zu, verließ den Raum wieder, ohne ein Wort zu sagen, und zog die Tür hinter sich zu.
»Aha, es läuft also etwas zäh, sagst du«, seufzte Brandt und schaute sie mit einem Blick an, als wäre sie ein kleines Kind, das gefallen ist und sich wehgetan hat.
Petra schenkte sich Wasser in ihr Glas und trank einen Schluck, während Brandt sie mit schiefem Kopf weiter beobachtete.
»Aber es wird bestimmt bald einen Durchbruch geben«, sagte Petra in einem betont forschen Tonfall.
»Bestimmt«, sagte Roland Brandt. »Ich habe den Artikel über dich im Aftonbladet gelesen.«
»Über mich?«, erwiderte Petra mit einem Lachen. »Der war wohl eher über den Fall. Ich habe nur ein paar Fragen beantwortet.«
»Und das hast du gut gemacht.«
Was für ein verdammter Blick. Genau das musste gemeint sein, wenn es hieß: Er schaute ihr tief in die Augen. Ich muss ein bisschen Tempo in dieses Gespräch bringen, dachte Petra, damit es schnell überstanden ist.
»Schön zu hören. Ich habe versucht, mich an die Fakten zu halten. Nicht zu viel zu sagen und keinen Raum für freie Assoziationen zu lassen. Du denkst doch nicht …«
»Und du warst auch mit auf dem Bild«, unterbrach sie der Polizeidirektor. »Du hast gut ausgesehen.«
Breites Lächeln.
»Das muss ganz schön wehgetan haben«, sagte er und lenkte seine Blicke auf ihre übereinandergelegten Beine. »Die Hosen waren ganz kaputt.«
»Ach, das war nicht so schlimm«, sagte Petra und wand sich in ihrem Sessel. »Ich musste das Kind ja aus den Büschen herausbekommen. Manchmal muss man eben Opfer bringen«, fügte sie mit einem Lachen hinzu, das in ihren Ohren geradezu hysterisch klang.
»Magst du Kinder?«, fragte er überraschend.
Petra wusste nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Sie überlegte, gar nicht darauf zu antworten, aufzustehen und einfach wegzugehen, aber es gelang ihr, ihre Instinkte zu zügeln und sich zu besinnen. Um der Karriere willen, dachte sie. Um sich nicht alle Zukunftschancen durch eine einzige impulsive Handlung zu verderben. Der Kerl war ganz offensichtlich wahnsinnig. Aber dann lass ihn eben so sein, soll er dich doch mit seinen Blicken ausziehen und komische Dinge sagen, lass es ausnahmsweise einfach zu.
»Ja, das tue ich«, antwortete sie und ließ langsam die Luft aus ihren Lungen entweichen, damit es nicht wie das lange Seufzen klang, das es im Grunde genommen war. »Ich mag Kinder sehr gerne.«
Als er nicht darauf antwortete, sondern einfach nur dasaß und sie anschaute, fühlte sich Petra genötigt, noch mehr zu sagen. Das Schweigen war unerträglich.
»Aber du findest nicht, dass ich mich blamiert habe? Bei dem Interview? Ich habe ja keine Erfahrung mit den Medien und war zuerst auch skeptisch, als ich …«
»Petra, komm her«, unterbrach sie Roland Brandt mit einer Stimme, die vor Honig nur so troff. »Mach dir keine Gedanken, du hast eine ausgezeichnete Arbeit geleistet. Komm her.«
Er winkte lässig mit der Hand. Petra war kurz davor, die Fassung zu verlieren, aber sie durfte das hier auf keinen Fall verbocken. Halt bloß durch, dachte sie und stand auf und machte zwei Schritte in seine Richtung.
»Du leistest ausgezeichnete Arbeit, Petra«, sagte er und streckte seine linke Hand nach ihr aus.
Ihre eigenen Hände hingen schlaff an ihrer Seite hinunter, und sie machte keine Anstalten, das zu ändern.
»Als Beweis meiner Wertschätzung wollte ich dich heute Abend zu einem kleinen Essen einladen«, sagte er und lächelte sie mit einer Miene an, als wäre er der Weihnachtsmann.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Petra schnell. »Ich bin froh, dass dir gefällt, was ich mache, aber heute Abend muss ich arbeiten.«
Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich heran. Petra wagte es nicht, sich zu sträuben, denn wenn sie es tat, würde sie deutlich zeigen, dass sie das Ganze als üble Anmache betrachtete und nicht als eine freundschaftliche Geste.
»Mir gefällt, was du machst«, lächelte Brandt. »Ja, das kann man ruhig sagen, Petra. Und es gibt genug andere, die die Arbeit übernehmen können. Ich habe für heute Abend um acht schon einen Tisch für uns bei Mathias Dahlgren gebucht. Das ist nichts, was man ablehnen darf.«
»Ich muss es aber trotzdem tun, Roland«, sagte Petra und hörte selbst, wie merkwürdig das klang. Sie war ja gar nicht »Roland« mit ihm. »Ich habe andere Pläne für den Abend.«
Er zog an ihrem Arm, was hatte er vor? Kaum zu glauben, er versuchte sie auf seine Knie zu ziehen. Sie machte sich stark, standhaft, und blieb fest auf dem Boden stehen, Hand in Hand mit dem Polizeidirektor. So etwas gab es in Wirklichkeit doch gar nicht.
»Das habe ich auch, Petra. Ich dachte, dass wir ein paar Stockwerke höher weitermachen, wenn wir gegessen haben.«
Ein paar Stockwerke höher? Petra hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Aber sie begriff sehr wohl, was es bedeutete, dass er ihre Hand losließ und stattdessen ihre rechte Pobacke packte. Damit war das Maß voll. Sie trat einen Schritt zurück aus der Reichweite des Polizeidirektors, der sich mit einem zufriedenen Grinsen in seinem Sessel breitmachte.
»Tut mir leid, das sagen zu müssen«, sagte Petra, ohne noch einen Augenblick länger zu zögern, »aber das hier kann ich nur auf eine Weise deuten. Du baggerst mich an. Und das hier eben kann man als sexuelle Belästigung betrachten.«
Dann wandte sie sich von ihm ab und ging zur Tür.
»Soll das ein Witz sein, Petra?«, sagte der Polizeidirektor.
Petra drückte die Türklinke hinunter.
»Du hast doch gesagt, dass ich sexy bin?«, fuhr er mit einem Ausdruck in der Stimme fort, der in Petras Ohren wie Triumph klang.
Die Tür öffnete sich.
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Petra eiskalt. »Jemand anderes hat es mir in den Mund gelegt.«
Petra ging in den Korridor hinaus und verließ Roland Brandt, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie musste ständig an ihre eigenen Worte denken: »keinen Raum für freie Assoziationen lassen«.