5. Kapitel
Tonya öffnete die Hüttentür. Der Morgenhimmel war blau und klar, im Gegensatz zu dem finsteren, wolkenverhangenen Himmel vom Abend zuvor. Leise stahl sie sich hinaus, um ihren Gast nicht zu wecken.
Vogelgezwitscher empfing sie wie Klänge einer romantischen Windharfe, als sie die nassen Stufen herunterkam. Auf dem Weg zur Vogelfutterstelle, wo auch eine Schale mit Zuckerwasser stand, schwirrten zwei Kolibris so dicht an ihr vorbei, dass sie ihren Flügelschlag wahrnahm.
"He, was war das denn?" fragte eine tiefe, sinnliche Stimme hinter Tonya.
Sie fuhr herum. Webster stand in Socken auf der obersten Stufe der kleinen Treppe, die von der Veranda herunterführte. Er hatte Charlies Flanellhemd übergezogen, und da es offen stand, ließ es die nackte Brust sehen. Die graue Jogginghose, die Tonya ihm als Schlafanzug angeboten hatte, saß bedrohlich tief, als wollte sie ihm jeden Moment von den schlanken Hüften rutschen. Tonya sah viel mehr gebräunte Haut und viel mehr seidiges Brusthaar, als für ihren Seelenfrieden gut war. Mit dieser Figur könnte er ohne weiteres Werbung machen für ein Fitnesscenter – oder für Designerwäsche.
Verflixt, wenn sie zu wenig Sex-Appeal hatte, so hatte dieser Mann einfach zu viel. Ihr wurde heiß bei dem Anblick, und sie wusste vor Verlegenheit nicht, wo sie hinsehen sollte.
Hastig wandte sie sich ab, um die Kolibris zu beobachten, doch ihr Puls flatterte so heftig wie die Flügel der kleinen Vögel. Aber war das ein Wunder? Ein solches Prachtexemplar von einem Mann schneite einem schließlich nicht jeden Tag ins Haus.
Webster sollte nicht so gut aussehen in Charlies abgetragenen sackartigen Sachen. Er war verschlafen, sein Haar war zerstrubbelt, er hatte Druckstellen vom Kissen auf den Wangen, die einen leichten Bartschatten aufwiesen, und sein Blick war noch leicht verhangen. Und dennoch wirkte er durch und durch maskulin, geradezu urig in dieser wildromantischen Umgebung. Die kühle Luft hatte dafür gesorgt, dass seine Brustwarzen hart waren wie kleine Perlen. Wie gern hätte Tonya sie zärtlich gerieben und gestreichelt …
Leider war Webster auch der Grund, warum sie in der letzten Nacht fast kein Auge zugetan hatte. Durch sein plötzliches Auftauchen hatte er all ihre lang verdrängten, beunruhigenden Gefühle wieder aufgerührt. Von Ausgeglichenheit und Ruhe war sie weit entfernt.
"Kolibris", erklärte Tonya schließlich und versuchte, sich wieder zu fangen. Auf keinen Fall durfte er merken, welch überwältigende Wirkung er auf sie hatte. "Um diese Zeit ziehen sie nach Süden. Eigentlich hätte ich ihnen kein Futter mehr geben sollen." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich konnte mich nicht dazu überwinden. Sie sind so hübsch. Ich beobachte sie gern, wenn sie pfeilschnell auf den Futterplatz zusteuern und dann wieder in den Fichten verschwinden."
Sie wusste, sie würde vielem aus Charlies Waldgebiet nachtrauern, wenn sie abgereist war. Es gab unzählige schöne Momente und Überraschungen. Doch im Grunde wollte sie mit ihrem Reden nur vermeiden, dass sie wie eine Närrin Websters Brust anstarrte. Seine Muskeln. Seine Lippen, die sie zu gern auf ihren gespürt hätte. Sogar seine Bartstoppeln fand sie sexy. Sie verliehen ihm etwas Verwegenes und Gefährliches, und sie fragte sich, wie gnadenlos er wohl sein konnte, wenn er etwas durchsetzen wollte.
Er gähnte und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Wie schön, dass wenigstens einer von ihnen beiden einen gesunden Schlaf gehabt hatte. Sie würde für die durchwachten Stunden schwer büßen. Aber sie hatte bereits beschlossen, sich an Webster dafür zu rächen, sobald sie die Bären, die sich am Rand der Lichtung versammelten, gefüttert hatte.
"Aha, der Sturm aufs Frühstücksbüffet setzt ein", bemerkte Webster dicht hinter ihr.
"Die sind schon lange da und haben geduldig gewartet."
Ein großer Bär stellte sich auf die Hinterbeine, blickte in ihre Richtung und knurrte laut.
"Dein Begriff von Geduld deckt sich absolut nicht mit meinem. Du willst doch nicht wirklich da hingehen, oder?"
"Die Bären und ich, wir haben eine Abmachung", versicherte Tonya und ging auf den Schuppen zu, in dem Charlie das Futter lagerte. "Ich füttere sie, dafür fressen sie nicht mich. Es funktioniert prima. Aber du bleibst besser hier."
"Wenn du darauf bestehst."
Sie grinste. Er würde sich keinen Schritt von der Tür wegwagen, solange die Bären zu sehen waren, das wusste sie.
"Hungrig, Jungs?" fragte sie laut, als sie zwei kleine Bären in einem Baum erblickte. Sie schnalzte mit der Zunge, so ähnlich, wie es Bärenmütter taten. "Das sind Jenna und Barbara Bush. Nein, schau höher. Es ist Lauras Frühjahrswurf. Sie hat sie nach oben geschickt, bis sie ihnen Entwarnung gibt."
"Das beantwortet wohl meine Frage."
"Die wäre?"
"Hätten mich die Bären nicht für Futter gehalten, wenn ich auf einen Baum geklettert wäre?"
Tonya verbarg ihr Lächeln, stellte einen Eimer auf die Erde und schüttete Charlies Futtermischung hinein. "Siehst du die großen Tiere, die am Rand der Lichtung Wache halten? Die beiden dort sind Eisenhower und Nixon. Der mit der Narbe an der Schnauze ist Agnew. Es sind lauter alte Herren."
"Verstehe. Charlie ist ein offenbar überzeugter Republikaner."
Wieder lächelte sie. "Allerdings. Ah, da kommen Bush senior, Bush junior und Cheney."
Webster lachte. "Das wird langsam zur Parteiversammlung. Und warum halten sich die anderen zurück? Lauert da irgendwo ein heimlicher Clinton-Anhänger?"
"Keines von den Tieren fängt an zu fressen, bevor die Alten das Okay geben. Ich kenne das Signal nicht, aber die Bären kennen es genau." Tonya begann, die Näpfe zu füllen und sie auf mehrere Baumstümpfe und Felsen zu verteilen.
"Wirklich eindrucksvolle Tiere, nicht?" meinte Webster, als Tonya nach ungefähr zehn Minuten zum Schuppen zurückkehrte, um ihn abzuschließen.
Eindrucksvoll wie du, schoss es Tonya durch den Kopf. Immer wenn sie ihn ansah, entdeckte sie einen weiteren faszinierenden Zug an ihm. Im Augenblick war es sein Gesichtsausdruck, während er sich ans Treppengeländer lehnte, die Füße gekreuzt. Er wirkte wie ein kleiner Junge in Disneyland. Er war so versunken in die Betrachtung der Bären, dass er gar nicht daran dachte, seine Begeisterung zu verbergen. Deutlich sah sie sein Staunen, seine Bewunderung und auch seinen Respekt vor der Schönheit dieses Naturschauspiels.
"Genau", gab sie leise zurück.
Verwirrt schaute er sie an. "Genau was?"
"Was du gerade empfindest. Genau deshalb durchstreife ich Wälder und Dschungel und erkunde mit Schlangen bevölkerte Flüsse. Es berührt mich tief drinnen. Es ist eher eine Leidenschaft als ein Beruf."
Nachdenklich nickte er. "Okay, das kann ich nachvollziehen – wenn man ein Mensch ist, der auf gewisse Standards verzichten kann, wie Elektrizität, Klimaanlagen, _E-Mails … oder Fernsehen."
Da war sie wieder, seine spöttische Überlegenheit, hinter der er sich normalerweise verschanzte. Doch einen Moment lang hatte er ehrfürchtiges Staunen empfunden und hatte ihre Leidenschaft für die Natur verstanden. Und das vereinfachte die Situation für Tonya nicht gerade, denn es machte ihn menschlicher, sympathischer und damit noch verführerischer.
"Ich koche Tee und suche etwas fürs Frühstück", erklärte sie, ging die Stufen hoch und an Webster vorbei. "Danach ziehen wir los."
Webster betrachtete sie, während er ihr folgte, und seufzte. Was ihre Wandlungsfähigkeit anging, war diese Frau ein echtes Phänomen.
Er seufzte schwer und rief sich zur Ordnung. Die hübsche blonde Sexbombe in Rosa vom Abend zuvor war verschwunden. An ihre Stelle war die Waldläuferin im Tarnanzug getreten. Sie trug jetzt eine weite Cargo-Hose und ein grünes Kapuzenshirt gegen die morgendliche Kühle. Und natürlich ihre Stiefel, die vermutlich Stahlkappen hatten.
Aber ich kenne dein süßes Geheimnis, kleine Miss Salatgrün, dachte er, innerlich triumphierend. Du hast eine Schwäche, die verrät, dass du auch weiche, feminine Seiten hast. Und vielleicht hatte sie auch noch mehr Schwächen, doch darüber wollte er jetzt nicht nachdenken, denn es erschien ihm zu gefährlich.
Es genügte ihm, eine ihrer Schwächen entdeckt zu haben: ihre Vorliebe für Dessous aus zarter Spitze und Seide. Und da ihre sexy Wäsche am Morgen nicht mehr in dem primitiven Bad gehangen hatte, konnte es gut sein, dass sie den BH und den Slip heute angezogen hatte.
Mit diesem Gedanken befand er sich erneut auf gefährlichem Terrain.
Es waren die Gegensätze in ihrem Wesen, die er so erotisch fand und die ihn ständig von seinem Ziel ablenkten. Er fand Tonya extrem anziehend. Und irgendwie funktionierte er in dieser Umgebung nicht wie sonst. Vielleicht hatte der umstürzende Baum ihn gestern doch am Kopf getroffen.
Kaffee! meldete sich eine kleine Stimme in ihm. Ja, er brauchte eine ordentliche Dosis Coffein, um einen klaren Kopf zu bekommen. Und er musste Tonya ein wenig umschmeicheln, sonst würde sie den Vertrag nie unterschreiben.
Entschlossen folgte er ihr in die Hütte.
Sie hatte den alten kupfernen Teekessel bereits aufgesetzt. Doch Brombeerblätter, Rotbusch & Co. würden ihm heute Morgen nicht genügen. Er überlegte, ob man von Coffeinmangel auch Entzugserscheinungen bekommen konnte. Im Moment neigte er dazu, die Frage zu bejahen.
Er betastete seine Kleidung, die er zum Trocknen aufgehängt hatte, auf Reste von Feuchtigkeit. Zum Glück waren sie trocken, weit gehend zumindest, und die Stiefel ebenfalls.
Tonya hatte offenbar Mitleid mit ihm, denn als er aus dem Bad kam, mit seinen eigenen Sachen bekleidet, stand ein altmodischer Kaffeekocher aus Metall auf dem Herd.
Webster schnupperte und stöhnte dankbar auf. "O Tonya, dafür könnte ich dich lieben."
"Sag das Charlie", korrigierte sie ihn. "Das sind seine Vorräte."
"Aha. Der Mann gefällt mir. Aber noch mehr gefällst du mir."
Tonya drehte sich zu ihm um und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, bei dem sich ihr Grübchen zeigte. Sie war so hübsch, dass er sie hingerissen betrachtete und zunächst gar nicht merkte, dass sie ein Lachen zu unterdrücken versuchte.
"Was ist denn?" fragte er irritiert und schaute an sich herunter, ob etwa seine Hose offen stand.
"Das ist wirklich ein starkes Outfit. Hast du auch einen Stetson und spitze Schlangenlederstiefel zu Hause im Kleiderschrank, für den Fall, dass du dich als Cowboy verkleiden willst?"
"Na, hör mal", gab Webster in beleidigtem Ton zurück. Allerdings kam er sich in seiner topmodischen Sportkleidung reichlich lächerlich vor: eine Leinenhose und ein Safarihemd mit unzähligen Taschen mit Klettverschlüssen, beide nagelneu. Er hätte lieber sein altes Sweatshirt mitgenommen, aber Pearl hatte für ihn gepackt. "Das trägt der Mann von Welt heute, wenn es ihn zurück zur Natur zieht."
"So, so." Tonya reichte ihm einen Becher mit Kaffee.
"C.C. Bozeman würde es überhaupt nicht schätzen, dass du dich über seine Kollektion lustig machst."
"Schön, solange du dich darin wohl fühlst, habe ich kein Recht, dich zu kritisieren."
"Und ich bin so glücklich über den Kaffee, dass ich den Schlag gegen mein Ego locker verkraften kann."
"Übrigens, du solltest deine Stiefel einfetten, wenn sie länger halten sollen."
Webster grinste, als sie völlig unbeeindruckt sein Outfit begutachtete. "Sollte ich länger bleiben und ein paar Bäume fällen wollen, werde ich deinen Rat vielleicht beherzigen."
"Oh, da fällt mir etwas ein. Wie geht es eigentlich deiner Schulter?"
Sie schmerzte noch ein bisschen, doch es war erträglich. "Es ist nett, dass du fragst. Meiner Schulter geht es gut, sie ist nur ein bisschen steif. Und zu deiner Information, für die Kleidung ist meine Sekretärin verantwortlich."
Tonya zog die Augenbrauen hoch.
"Sie ist außerdem meine Patentante und nimmt ihre Arbeit sehr ernst."
"Hauptsache, du nimmst dich selbst nicht zu ernst in dem Kostüm."
"Wirklich nicht. Ich komme mir vor wie ein Jemand, der in einem billigen Film einen Abenteurer spielen soll. Es fehlt bloß noch der Tropenhelm, und dann gehe ich auf die Suche nach einem vom Aussterben bedrohten Indianerstamm am Amazonas."
Sie lächelte wieder, doch diesmal wirkte ihr Lächeln etwas gezwungen. "Aber nicht hier."
"Da hast du auch wieder Recht." Verwundert stellte Webster fest, dass Tonya ihn trotz aller Selbstermahnungen noch genauso fesselte wie am Abend zuvor, "Hier suche ich nur nach dir, um dir meinen Vertrag anzubieten. Aber darüber will ich jetzt nicht reden", fügte er rasch hinzu, als er ihre unwillige Miene sah.
Der Kaffee schmeckte so gut, wie er duftete. Webster trug seinen Becher zum Tisch, um beim Trinken heimlich Tonya zu beobachten, die sich an Herd und Ausguss zu schaffen machte. Er gestand sich ein, dass das ziemlich machohaft war, aber es war so ungewöhnlich, dass eine hübsche Frau für ihn kochte. Und hübsch war sie, trotz der zu einem strengen Zopf geflochtenen Haare und des üblichen Militär-Looks.
Verflixt, ich habe meine Ansichten total geändert, obwohl ich ihr erst gestern begegnet bin, schalt er sich. War es wirklich erst vor zwölf Stunden?
Er kratzte sich am Stoppelbart und überlegte. Tonya war attraktiv mit ihrer selbstsicheren, energischen, gesunden Art. Und es stand außer Zweifel, dass sie eine strahlende Schönheit sein konnte, wenn es angezeigt war.
Er stellte sie sich in seidenen Designermodellen vor. Vielleicht in Blau, passend zu ihren Augen – etwas Schulterfreies, eng Anliegendes. Oder in ihrer Lieblingsfarbe Pink. Etwas Winziges mit Spitze, in dem sie viel von ihrer zarten Haut und ihrem sexy Körper zeigte, den sie normalerweise so erfolgreich verhüllte.
"Kann ich irgendwie helfen?" erkundigte er sich abrupt. Er musste sich von diesen gefährlichen Gedankengängen ablenken.
Tonya warf ihm einen überraschten Blick zu. "Klar. Du kannst Saft einschenken und den Tisch decken, wenn du möchtest. Und sag mir, wie du deine Eier zubereitet haben möchtest."
"So, wie du sie machst, ist es okay."
Während sie am Herd stand, suchte er Teller, Gläser und Bestecke zusammen und arrangierte alles auf dem Tisch. Zu seiner Überraschung fühlte er sich locker und entspannt, keineswegs unbehaglich oder fremd, wie es zu erwarten gewesen wäre. Eigentlich hätte er Heimweh nach seiner komfortablen Wohnung haben müssen.
Doch er fühlte sich rundum wohl, zusätzlich zu seinem Interesse an Tonya. Er holte tief Luft und ermahnte sich, dass er nicht zum Ausspannen hier war, auch wenn Pearl sich das gewünscht hatte. Er wollte den Vertrag abschließen, egal, mit welchen Methoden. Seiner Lieblingskandidatin für den Posten, den er anzubieten hatte, ein wenig näher zu kommen lag genau auf dieser Linie. Nebenbei konnte er sich ja ein bisschen entspannen, das half vielleicht sogar.
"Normalerweise nehme ich kein so üppiges Frühstück zu mir", erklärte Tonya, während sie zwei Teller mit Rührei auf den Tisch stellte. "Aber ich sollte die Vorräte aus dem Kühlschrank besser verbrauchen, falls der Strom noch länger ausbleibt."
"Hältst du das für möglich?" Webster machte sich über die Eier her.
Tonya zuckte mit den Schultern. "Das hängt davon ab, wie schwer die Schäden sind und wie schnell die Elektriker sie finden. Übrigens, wir sollten nachsehen, ob wir dein Auto wieder flott bekommen."
"Es ist ein Totalschaden", bemerkte er. "Wie hast du diese Eier zubereitet? Sie sind köstlich."
"Das kommt von der frischen Luft, die macht Appetit."
"Das bezweifle ich. Wo hast du kochen gelernt?"
"Pure Notwendigkeit und spärliche Zutaten. Ich habe immer meine eigenen Gewürze dabei."
"Wirklich köstlich." Wie du, fügte er im Stillen hinzu, als ihre Wangen sich leicht röteten. Wer hätte das gedacht? Sie war Komplimente nicht gewöhnt. Aber es gefiel ihr, und das war gut für ihn. Außerdem verschaffte es ihm eine kleine Pause. Sie wirkte so jung … Ihm kam plötzlich eine Erinnerung, verschwommen zunächst, doch dann völlig klar.
Verblüfft lehnte er sich zurück, während das Bild Gestalt annahm. "Ich werd' verrückt!"
"Was ist?" fragte sie beunruhigt.
"Ich kenne dich von früher. Meine Güte, die ganze Zeit über kamst du mir irgendwie vertraut vor, ich wusste nur nicht, woher ich dich kannte. Du hast mal bei uns gearbeitet, richtig?"
Tonya saß da wie vom Donner gerührt. Die Röte wich aus ihren Wangen. Ohne ihn anzusehen, legte sie ihre Gabel hin und stand auf. "Möchtest du noch Kaffee?"
"Es ist ein paar Jahre her", fuhr er fort. Er war seiner Sache zunehmend sicher. "Sag schon, habe ich Recht?"
Sie atmete hörbar aus und füllte seinen Becher nach. "Du hast ziemlich lange gebraucht, um darauf zu kommen."
Ihr Ton war nicht erfreut. Mehr noch, ihre Stimme drückte überhaupt keine Emotion aus.
Webster dagegen wurde immer aufgeregter. "Du hattest kurzes Haar, trugst eine Brille und … war dein Name nicht Tammy oder so ähnlich?"
Sie lächelte bitter. "So hast du mich bloß genannt, weil du meinen Namen vergessen hattest."
"Die Weihnachtsparty!" fuhr er aufgeregt fort. "Rosa Pulli, schwarzer Rock."
"Und zu viel Weihnachtsseligkeit", setzte Tonya hinzu, während er versuchte, sich weitere Einzelheiten in Erinnerung zu rufen.
Sie spülte das Geschirr und stapelte es im Ausguss, und er erlebte die Szene im Geist noch einmal. Er war spät auf der Weihnachtsparty eingetroffen. Er war gereizt und wollte einer gewissen Juristin, die in der Rechtsabteilung arbeitete und ihn seit Wochen nervte, aus dem Weg gehen. In der Menge hatte er von weitem Tammy – nein, Tonya – ausgemacht. Der festlich geschmückte Raum hallte wider von lautem Gelächter und Partylärm, der Champagner floss in Strömen. In den vergangenen Monaten war er der neuen Foto-Assistentin ein, zwei Mal auf dem Flur begegnet. Sie war niedlich mit ihrer rührenden Schüchternheit, und offensichtlich schwärmte sie für ihn.
Und auf der Party, nun ja … Die Neue war hübsch, und sie tat ihm ein wenig Leid, als sie ihm hoffnungsvolle Blicke zuwarf. Er hatte alle Mühe, die bewusste – wie hieß sie doch gleich? Rebecca, genau, Rebecca mit den zu kurzen Röcken und den zu eifrigen Händen – zu meiden. Er musste vor Rebecca gerettet werden ebenso wie Tonya vor dem Champagner.
Folglich ignorierte er Rebeccas anzügliche Angebote und bot stattdessen Tonya an, sie nach Haus zu bringen. Damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe, wie er sich sagte: Er entging einer drohenden Klage wegen sexueller Belästigung, und die schüchterne Tonya entging den Nachstellungen des schleimigen William Wycoff, der sie seit fast einer Stunde belagerte.
Sie war so süß. Hochrote Wangen und Anbetung im Blick, aber wohl zu schüchtern, um auf ihn zuzugehen.
Wie gründlich er sich da getäuscht hatte!
Das Taxi hielt vor ihrem Haus, er sagte ihr Gute Nacht, und im nächsten Moment lag die kuscheligste, anschmiegsamste und am besten duftende Frau aller Zeiten in seinen Armen. Trotzdem hatte er sich gezwungen, den Kuss schon bald zu beenden und Tonya mit einem freundlichen, amüsierten Lächeln zu verabschieden.
Noch Monate später dachte er an diese Nacht, und immer wieder versuchte er sich einzureden, der Kuss habe nichts zu bedeuten. Dass die Explosion der Gefühle bei der Berührung ihrer Lippen nichts als Einbildung gewesen war.
Aber Tatsache war, dass ihm das Ganze unter die Haut gegangen war. Dieser unschuldige, gefühlvolle Kuss hatte ihn beinah dazu gebracht, Tonya in ihr Apartment zu folgen. Und was dann passiert wäre, hätte ihn eine Nacht lang unbeschreiblich glücklich gemacht und ihm am nächsten Morgen Gewissensbisse beschert. Ebenso wie ihr.
Erstens war sie sehr jung. So schien es zumindest. Zweitens hätte er ihre Naivität ausgenutzt. Doch der wahre Grund war, dass der Kuss ihn zutiefst erschüttert hatte.
Er war gerade dreiundzwanzig, aber er hatte bereits einige Erfahrung. Er konnte unterscheiden zwischen Küssen, die sagten: "Ich möchte eine heiße Nacht mit dir verbringen" und "Ich möchte mein Leben lang mit dir zusammen sein". Tonyas Kuss gehörte zu der letzteren Sorte, das hatte er instinktiv geahnt.
Es war ein kurzer, verrückter Moment, doch er hatte Angst bekommen.
Auch jetzt verspürte er Angst, als er ihre steifen Bewegungen sah.
"Warum hast du nichts davon gesagt?" fragte er mit ehrlicher Neugier.
"Da muss ich direkt überlegen. Warum habe ich nicht einen der peinlichsten Momente meines Lebens angesprochen?"
"Peinlich? Ich fühlte mich sehr geehrt."
"Du hast Hals über Kopf das Weite gesucht", entgegnete sie heftig und warf sich das Geschirrtuch über die Schulter. Sie lehnte sich an den Ausguss und sah Webster ins Gesicht.
"Du warst … wie soll ich es behutsam ausdrücken?"
"Beschwipst?" schlug sie vor.
"Ja, vielleicht ein bisschen. Ich wollte die Situation nicht ausnutzen. Und du warst so jung."
"Dumm war ich."
"Aber du hattest einen guten Geschmack bei Männern." Er hoffte, ihr ein Lächeln zu entlocken.
Sie verzog unwillig den Mund. "Klar, Arroganz hat mich schon immer angeturnt."
"Na bitte."
Zu seiner Freude bekam Webster jetzt doch noch ein Lächeln von ihr. "Was ist danach geschehen? Ich wollte dich nach den Feiertagen sprechen, um sicherzugehen, dass alles okay war, und man sagte mir, du wärst nicht mehr bei uns beschäftigt." Er hatte so oft an den Kuss gedacht, dass er zu dem Schluss gekommen war, es gäbe für ihn nur einen Weg, um herauszufinden, ob er mehr hineininterpretiert hatte, als eigentlich da war: Er würde Tonya noch einmal küssen. Ein Teil seines Ichs hoffte inständig, sein erster Eindruck würde sich nicht bestätigen.
"Ich wurde gefeuert."
"Nein, wirklich?"
Sie nickte. "Das soll in großen Unternehmen vorkommen."
"Richtig, ich erinnere mich. Wir hatten ein schwieriges Jahr."
"Und ich hatte nichts in die Waagschale zu werfen."
Stumm starrte er sie an. Die begehrte Tonya Griffin, eine der besten Fotografinnen in der Branche, war dieselbe Frau, die ihm damals einen solchen Schreck eingejagt hatte.
Und er war damals so schockiert gewesen, dass er ihren süßen, intensiven Kuss und seine Gefühle dabei nie vergessen hatte. Gefühle, die ihn seitdem beschäftigten. Gefühle, die er niemals wieder empfinden würde, das war ihm klar geworden. Das Gefühl, jemand ganz Besonderem begegnet zu sein. Einem Menschen, den er anschließend aus den Augen verloren hatte, der jedoch sein Leben verändert hatte.
Damals hatte er sich eingeredet, es wäre besser so. Mit dreiundzwanzig war er ebenso wenig bereit, sich zu binden, wie heute. Er hatte das Leben und die Frauen genossen, und er hatte die eine nicht gefunden, die es wert war, für sie seine Freiheit aufzugeben. Die Frau, die ihn so sehr berührte wie die süße kleine Tonya, die so viel Gefühl in ihren Kuss gelegt hatte.
Zudem hatte er einer Frau wie ihr nicht genug zu bieten. Vor zwölf Jahren mochte das noch ein wenig anders gewesen sein. Mit den Jahren war er zynisch geworden, seine Emotionen waren abgestorben, er hatte keine tieferen Beziehungen zu Frauen. Er brauchte nur seine eigenen Eltern anzuschauen, um zu wissen, dass Liebe nicht ewig währte.
Dennoch musste er eine Geschäftsbeziehung zu Tonya Griffin aufbauen. Sie war lebenswichtig für seine neue Zeitschrift. Ohne sie würde er den Bozeman-Etat nicht bekommen. Und ohne Bozeman würde "Abenteuer Natur" zum Scheitern verurteilt sein.
Tonya räusperte sich, und er merkte, dass sein Schweigen ihr Unbehagen bereitete. "Und danach", sagte er mit erzwungener Munterkeit, "hast du dich selbstständig gemacht."
"Was blieb mir anderes übrig? In New York fand ich keine Arbeit, weil ich zu wenig Erfahrung hatte. Nach unzähligen Absagen und als mir das Geld ausging, kehrte ich nach Hause zurück und leckte meine Wunden."
"Und dann?"
"Dann wurde ich wütend. Ich wollte fotografieren, also tat ich das. Ich machte Fotos bei Hochzeiten, Geburtstagspartys, mit einem Wort, ich tat alles Mögliche, um mich über Wasser zu halten. Nebenbei wanderte ich in die Natur, fotografierte Tiere, Pflanzen, Landschaften." Tonya holte einen Rucksack aus der Ecke und begann zu packen. "Ich schickte meine Arbeiten an verschiedene Verlage und verkaufte mit der Zeit immer mehr. Eines Tages klingelte mein Telefon, und eine kleine Zeitschrift in Wisconsin gab mir meinen ersten Auftrag zu einer Bildreportage."
"Und der Rest ist Geschichte, wie es so schön heißt." Seit Webster wusste, dass Tonya die Frau gewesen war, die ihn damals auf der Weihnachtsparty so hinreißend geküsst hatte, fühlte er sich seltsam verunsichert.
"Okay, ich finde, du hast dich lange genug in Erinnerungen ergangen. Wenn wir nicht bald aufbrechen, ist auch dieser Tag Geschichte." Sie verschloss den Rucksack. "Wir haben eine Menge zu tun, bevor ich zur Kamera greifen kann."
Die nicht zu leugnende Spannung zwischen ihnen schien sie genauso nervös zu machen wie ihn. Offenbar wollte sie Abstand.
Und er auch.
Er musste erst mal die plötzliche Erkenntnis verarbeiten, dass er nun tun konnte, was er sich vor all den Jahren fest vorgenommen hatte: Tonya zum zweiten Mal zu küssen, damit er vergleichen und seine Erinnerungen ad acta legen konnte. Das machte ihm ein weiteres Problem bewusst. Er wollte Tonya nicht nur küssen, sondern in seinem Bett haben.
Er strich sich übers Kinn, fluchte im Stillen und folgte ihr nach draußen. Die kommenden Tage würden schwierig werden.
Kaum stand er vor der Tür, stach ihn eine Mücke in den Nacken. Ja, schwierige Tage standen ihm bevor. In mehrfacher Hinsicht.