2. Kapitel

 

In dem Moment, als Webster die Hand hob, um an die Tür der Blockhütte zu klopfen, meldete sich sein Handy. Er holte es aus der Tasche, las den Namen auf dem Display und musste erst mal tief durchatmen.

"Ja, Pearl?" fragte er und betete um Geduld.

Er setzte sich auf die oberste Treppenstufe und lauschte Pearl Reasoners Stimme. Pearl war eine Magnolie aus Stahl, wie sie im Buche stand. Sie erkundigte sich nach seinem Flug und dem Wetter und ob er Tonya Griffin aufgespürt habe. Pearl war nicht nur seine Privatsekretärin, sondern auch noch seine Patentante. Und gerade jetzt war sie auch der Grund für den pochenden Schmerz in seiner rechten Schläfe.

Er hatte seine Büroleiterin, Miss Price, herschicken wollen, oder seinen Stellvertreter, Hawkins. Aber Pearl hatte darauf bestanden, dass er selbst nach Minnesota in die Wildnis fuhr und Tonya Griffin überredete, einen Exklusivvertrag zu unterschreiben, damit sein neuestes Projekt, die Zeitschrift "Abenteuer Natur", ein Erfolg wurde.

Der gestrige Auftritt mit Pearl in seinem Büro lief vor seinem geistigen Auge noch einmal ab, während sie sich am Telefon über Ruhe und Erholung ausließ, über die wohltuende frische Luft und die Schönheit klarer Bergseen. Nord-Minnesota war eine andere Welt als die Büros des Tyler-Lanier-Konzerns im 58. Stock an der Sixth Avenue. Dennoch war sein Argument, dass er Verleger und kein Holzfäller sei, bei Pearl auf taube Ohren gestoßen.

"Als Verleger musst du dich voll einsetzen", hatte sie ausgeführt. "Wenn du den Werbeetat von C.C. Bozeman haben willst, brauchst du Tonya Griffin. Wenn ihre Fotos nicht in der ersten Nummer von 'Abenteuer Natur' zu sehen sind, bucht Bozeman keine Anzeigenseiten. Wenn wir den Auftrag für Bozemans Freizeitmode und Sportartikel verlieren, ist das Projekt zum Scheitern verurteilt."

Als Webster einwandte, er habe keine Zeit für ein Abenteuer in der Natur, hatte Pearl nur geseufzt und auf seine momentane körperliche Verfassung hingewiesen.

"Mein Junge, du bist ausgebrannt. Denk nur an all die Umstrukturierungen im Haus nach der Firmenübernahme. Eine kleine Auszeit wird dir gut tun." Und dann hatte Pearl begeistert ausgeführt, wie schön es wäre, wenn er sich einen Urlaub gönnte und angeln ginge.

Er starrte in das Dickicht und versuchte, sowohl Pearl zu ignorieren – die er trotz ihrer ständigen Einmischung in sein Leben herzlich liebte – als auch die Erinnerung an das Gesicht zu verdrängen, das ihn jeden Morgen im Spiegel anblickte. Er gefiel sich selbst nicht mehr. Der Blick seiner braunen Augen wirkte leer. War es Ernüchterung? Überdruss? Eine Mangelerscheinung? Gewiss, er arbeitete hart. Und die Jagd nach Erfolg hatte viel von ihrem anfänglichen Reiz verloren. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war er mehr als wohlhabend, doch er hatte das Gefühl, dass es da noch etwas anderes geben müsste.

Er bildete sich nicht ein, dieses andere in Nord-Minnesota zu finden. Schon gar nicht, indem er einer Fotografin nachlief, die nicht nur für ihr Werk berühmt war, sondern auch für ihre Abneigung gegen das Leben in der modernen Zivilisation.

"Ich nehme an, du hast gehört, was Jimmy Lawler aus der Buchhaltung passiert ist", sagte Pearl nun.

Er sah sie im Geist vor sich, wie sie an seinem unbesetzten Schreibtisch stand. Sie war siebzig, doch sie gab nur achtundfünfzig Jahre zu. Mit ihren wachen grünen Augen, dem kunstvoll gestylten rotbraunen Haar und dem tadellosen Make-up konnte sie das auch locker behaupten.

"Er war erst vierzig", fuhr sie fort und machte eine Pause, um Websters volle Aufmerksamkeit zu bekommen. "Letzte Woche brach er tot zusammen. Herzschlag. Soll ich dir sagen, was garantiert nicht auf seinem Grabstein stehen wird? Ich wünschte, ich hätte mehr gearbeitet."

Webster dachte an Tonya Griffin in der Blockhütte.

"Webster …"

"Ich bin hergefahren, okay?" Manchmal war es klüger nachzugeben. Und letztlich hatte Pearl Recht. Er brauchte Tonya Griffin für sein neues Projekt. "Kannst du dich nicht einfach damit zufrieden geben?"

"Nur wenn du versprichst, endlich einmal richtig abzuschalten und mindestens zwei Wochen dort zu bleiben. Dann ist immer noch genügend Zeit übrig, um Tonya nach New York zu bringen, die Fotos zu entwickeln und unseren Termin für die erste Nummer zu halten. Ich habe ein paar Prospekte in deine Reisetasche gesteckt. Hast du sie schon gefunden?"

Allerdings hatte er sie gefunden. Es waren Hochglanzfotos eines rustikalen Hotels nahe der kanadischen Grenze. Bilder von glücklichen Anglern, sonnengebräunt und mit Baseballkappen auf dem Kopf. Und alle Angler hielten prächtige Fische in die Kamera.

"Zum letzten Mal, Pearl, ich bin kein Angler. Ich will auch keiner werden. Himmel noch mal, hier gibt es so große Mücken, dass man sie für Vampire halten könnte. Und Bären, Pearl. Echte Bären mit Zähnen und Krallen und viel Appetit auf Fleisch und Schokolade. Vor fünf Minuten hätte mich fast einer gefressen. Ich komme zurück, sobald ich dieser Frau die Unterschrift unter den Vertrag abgerungen habe."

"In zwei Wochen und keinen Tag eher", gab Pearl in jenem Ton zurück, der ihn als kleinen Jungen das Fürchten gelehrt hatte und nichts von seiner Wirkung verloren hatte. "Außerdem hast du jede Menge passende Kleidung dabei."

Er strich sich über das Gesicht. O ja, er war perfekt ausgerüstet. Pearl hatte sich erlaubt, den halben Laden von C.C. Bozeman leer zu kaufen und die Sachen in sein Apartment bringen zu lassen. Als er gestern Abend nach Haus gekommen war, hatte alles schon bereitgelegen. Er hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als sie die Sachen in die ebenfalls neue Sporttasche von C.C. Bozeman gepackt hatte.

"Eine Woche", gab er zurück. Schließlich war er der Boss – jedenfalls solange Pearl ihm die Illusion gestattete. "Und ich schwöre, wenn du noch ein Wort darüber sagst, werde ich …"

"Schon gut. Sei nicht gleich beleidigt, Webster. Du bist bei ihr, richtig? Dann haben wir für den ersten Tag genug erreicht."

"Wir haben überhaupt nichts erreicht. Du dagegen …"

"Ich weiß, mein Lieber, ich habe das Unmögliche möglich gemacht. Und glaub mir, es war eine Leistung."

Nun ja. Sie hatte es geschafft, ihn auf Trab zu bringen, das konnte er nicht leugnen. Aber jetzt musste er das Unmögliche versuchen und die kratzbürstige Miss Griffin auf Trab bringen, sonst konnte er sein neues Projekt vergessen.

Zunächst jedoch lief er hastig die Treppe hinauf, weil er einen weiteren Bären erblickt hatte, der auf einen Futternapf zusteuerte.

Verflixt, wie hielt Tonya dieses Leben nur aus? Webster würde es lieber mit einem Straßenräuber aufnehmen als mit einem dieser Giganten der Wildnis. Bei Ersteren kannte er wenigstens das Motiv: Sie wollten Geld. Bei wilden Bären wusste man jedoch nie, worauf sie aus waren. Die würden einen Mann glatt für ein After Eight umbringen.

Pearl konnte den zweiwöchigen Urlaub vergessen. Spätestens um Mitternacht würde er im Flugzeug sitzen, den unterschriebenen Vertrag in Händen – vorausgesetzt, er hatte seine beiden Hände dann überhaupt noch.

 

Tonya hielt einen angeschlagenen Teekessel aus Kupfer unter das spärliche Rinnsal aus dem Wasserhahn und versuchte, das Zittern ihrer Hände zu ignorieren. Webster Tyler war der allerletzte Mensch, mit dem sie hier draußen gerechnet hätte. Überhaupt der letzte Mann, den sie jemals zu sehen erwartet hätte. Zumal sie alles daransetzte, Männern wie ihm aus dem Weg zu gehen.

Okay, gestand sie sich ein, während sie mit einem Streichholz den alten Gaskocher entzündete und den Kessel darauf setzte, sie war speziell ihm aus dem Weg gegangen.

Webster Tyler war der Enkel Fulton Tylers und Inhaber des berühmten Tyler-Lanier-Verlags in New York. Außerdem war er ihr ehemaliger Chef und der Anlass für einen den peinlichsten Momente ihres Lebens.

Sie schaute über die Schulter zur Tür der Hütte. Verflixt, sie hatte immer noch Herzklopfen. Reiß dich zusammen! sagte sie sich. Denk nicht an die Kränkung, dass er dich nicht wiedererkannt hat.

"Ich hinterlasse eben keine bleibenden Eindrücke", murmelte sie, während sie in dem winzigen Küchenschrank nach einem Kaffeebecher suchte. Dabei fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe über dem Ausguss, und ihr wurde ganz anders.

Zwölf Jahre, dachte sie. Das ist ein halbe Ewigkeit. Vor zwölf Jahren hatte sie Webster Tyler zum letzten Mal gesehen. Da er Zeitschriften herausgab und sie ihre Fotos an alle möglichen Blätter verkaufte, war damit zu rechnen gewesen, dass sie ihm eines Tages wieder begegnen würde, auch wenn sie noch so sehr versuchte, das zu vermeiden. Mehr als ein Mal hatte sie sich die Szene vorgestellt. In ihrer Fantasie lief es immer gleich ab: Sie wäre perfekt gestylt, der Inbegriff der erfolgreichen Frau, und er wäre total verblüfft von ihrer Verwandlung.

Schön, sagte sie sich, verblüfft war er jetzt auch. Sie klaubte sich ein Blatt aus dem Haar. Ein winziger Zweig kam gleich mit. Unwillig warf sie beides in den Mülleimer, dann wischte sie sich mit dem Geschirrtuch den Schmutz vom Kinn. Sie überlegte, ob sie ihre Beine noch säubern sollte, aber da warf sie buchstäblich das Handtuch. Was sie gebraucht hätte, war ein Tag auf einer Schönheitsfarm. Und ein kleines Wunder, um all die Kratzer und Abschürfungen verschwinden zu lassen.

Zögernd trat sie ans Fenster, hob die verblichene Gardine ein wenig an und spähte hinaus. Webster stand an der Treppe und telefonierte. Er wirkte entschlossen, ja fast hart – ganz der Mann, den sie hatte vergessen wollen.

Umwerfend sah er aus. Wenn die verstrichenen Jahre bei ihm Spuren hinterlassen hatten, dann nur solche, die ihn noch attraktiver erscheinen ließen. Seine braunen Augen besaßen heute mehr Ausdruckskraft, ebenso wie seine Gesichtszüge. Die Ausstrahlung, die er mit Anfang zwanzig gehabt hatte, war nun, mit Mitte dreißig, noch intensiver. Und dass er aus heiterem Himmel hier aufgetaucht war, sie regelrecht überfallen hatte, als sie sich in einem Zustand befand, den man nur noch als "nicht vorzeigbar" bezeichnen konnte, machte ihr sehr zu schaffen. So sehr, dass sie sich feige in der Hütte versteckte, obwohl sie doch sonst nie einer unangenehmen Situation auswich.

Der Teekessel begann zu pfeifen. Sie eilte zum Kocher und stellte das Gas ab. Dann atmete sie tief durch und wandte sich zur Tür. Vermutlich würde er nicht weggehen, ohne sein Anliegen vorgebracht zu haben, und jetzt, da sie ihren ersten Schock überwunden hatte, schämte sie sich für ihre Feigheit.

Außerdem wurde sie allmählich neugierig. Was wollte Webster Tyler – der allgewaltige Verleger, Stadtmensch durch und durch, Gebieter über Heere fähiger Mitarbeiter – mitten in dieser Wildnis? Und warum hatte er sich solche Mühe gegeben, sie aufzuspüren?

Er steckte sein Handy in die Brusttasche seines Hemdes und hob gerade die Hand, um anzuklopfen, als Tonya die Tür aufriss.

"Oh", sagte er erschrocken. Er schien sich nicht besonders wohl in seiner Haut zu fühlen. "Nochmals hallo."

"Wenn Sie mit Tee zufrieden sind", erwiderte Tonya ohne Umschweife, "kann ich Ihnen eine Tasse anbieten. Es ist allerdings Kräutertee", setzte sie herausfordernd hinzu.

"Hört sich gut an."

Sie warf ihm einen Blick zu, der so etwas wie "das will ich meinen" vermitteln sollte, ihm jedoch nur ein Grinsen entlockte, was sie wiederum so nervös machte, dass sie sich wortlos umdrehte und ihn an der Tür stehen ließ.

Sie versuchte, nicht auf ihn zu achten, und nahm einen zweiten Becher aus dem Schrank. Rasch wischte sie ihn aus und füllte heißes Wasser in die Tassen.

"Aha", bemerkte er, während sie die Becher auf einen kleinen, verkratzten und mit Brandflecken übersäten Resopaltisch stellte, "dies ist also Ihr reizendes Heim."

"Momentan, ja." Sie nahm zwei Teelöffel aus der Schublade eines Schränkchens, das auf klebrigen Rollen stand. Mit der Hüfte stieß sie die Schublade zu und verfolgte, wie Webster sich in der kleinen Hütte umschaute. Plötzlich sah sie alles wieder so, wie es auf sie bei ihrer Ankunft vor fast einem Monat gewirkt hatte.

Man konnte es als rustikal bezeichnen oder aber als spartanisch. Wie die meisten dieser Hütten bestand auch diese aus einem Raum, wenn man das winzige Badezimmer nicht mitrechnete, das später angebaut worden war. Ursprünglich war die Hütte um 1930 errichtet worden.

Die Wände bestanden aus knorrigem Fichtenholz, das mit der Zeit einen warmen goldbraunen Ton angenommen hatte, der an Honig erinnerte. Auch die Dielen bestanden aus Fichtenholz. Sie waren dunkelbraun, hatten Risse und Schrammen. Ein großer geflochtener Teppich in gedämpften Rost-, Grauund Blautönen bedeckte fast die gesamte Fläche der ungefähr zwanzig Quadratmeter.

Die Küchenzeile – wenn man sie so nennen wollte – enthielt einige Hängeschränke aus Holz, die jemand vor vielen Jahren in Königsblau gestrichen hatte, ein kleines gusseisernes Waschbecken, einen ramponierten kleinen Gasherd, den man mit einem Streichholz anzünden musste, sowie einen geräumigen Kühlschrank aus den späten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, der ein Mal in der Woche abgetaut werden musste.

Mitten im Raum stand der Esstisch, an dem Webster Tyler nun saß. Vor ein paar Tagen hatte Tonya einen bunten Strauß aus Wildblumen in leuchtendem Gelb, Orange und Weiß gepflückt. Jetzt zeugten die traurigen Reste nur noch davon, wie sehr ihre Arbeit sie inzwischen in Anspruch genommen hatte. Desgleichen das ungemachte Doppelbett an der Nordwand, das bei Bedarf als Couch diente. Da Tonya gewöhnlich von früh bis spät arbeitete und sich kaum jemand so tief in Charlie Ericksons Wald hinauswagte, gab es selten Bedarf dafür. An der gegenüberliegenden Wand stand auf einem gemauerten Sockel ein kleiner gusseiserner Ofen, in dem noch ein bisschen Glut glomm.

Ja, es war spartanisch. Aber es gab Elektrizität und ein funktionierendes Telefon, falls die Leitungen nicht gerade unterbrochen waren. Insofern war es fast ein Palast im Vergleich zu so mancher Lehmhütte, die Tonya auf ihren Reisen um die Welt als Unterkunft gedient hatte. Webster Tyler jedoch, der an italienischen Marmor, Perserteppiche und Designermöbel gewöhnt war, mochte das anders sehen.

Sie zog einen abgewetzten Stuhl an den Tisch und öffnete die Blechdose, in der sie ihre Teebeutel verwahrte.

"Rotbusch, Brombeerblätter, Verbenenkraut, Kamille, Pfefferminze, Fenchel, Süßholz und Zimt", zählte sie auf.

"Hört sich lecker an."

Bei seinem nachsichtigen, um Wohlwollen bemühten Ton musste sie beinah lächeln. "Wie haben Sie mich gefunden?" fragte Tonya, während Webster seinen Teebeutel ins dampfende Wasser tauchte wie ein vornehmer englischer Gentleman, der mit seiner unverheirateten Tante Tee trank. "Und warum haben Sie nach mir gesucht?"

"Nicht ich habe Sie gefunden, sondern meine Sekretärin. Ihr Agent hat Ihren Aufenthaltsort verraten. Damit komme ich zum Warum. Ich habe einen Auftrag für Sie, falls Sie interessiert sind."

"Bin ich nicht." Sie zog ihren Teebeutel durchs Wasser in ihrem Becher und griff nach dem Zucker. "Ich bin voll ausgelastet."

Webster lehnte sich zurück, einen Arm lässig über die Stuhllehne gelegt. Seine Haltung drückte Selbstsicherheit und Überlegenheit aus. "Ich zahle das Doppelte von dem, was Sie momentan bekommen."

Sie grinste breit.

Webster legte den Kopf schräg und musterte sie. "Was ist daran so lustig?"

Sie gab etwas Zucker in ihren Becher und rührte mit einem Teelöffel darin herum. "Es ist lustig, weil nichts mal zwei immer noch nichts ergibt. Wenn ich auf Geld aus wäre, würde ich Modefotos machen oder in der Werbung arbeiten."

"Aber Sie brauchen doch ein Einkommen, oder? Warum hören Sie mich nicht erst einmal an, bevor Sie die Tür zuschlagen?"

Sie trank einen Schluck Tee und sah Webster dann in die Augen. "Hören Sie, Mr. Tyler …"

"Webster."

"Also gut, Webster", wiederholte sie nach kurzem Zögern. Sie fragte sich, wie viele Frauen er vor ihr mit dieser Stimme betört hatte – einer Stimme, die wie edler Whisky war: Mit jedem Jahr steigerte sich die Qualität.

Und sie, Tonya, hätte mit den Jahren klüger werden sollen.

"Wenn es um eine konkrete Fotostrecke geht, sprich mit meinem Agenten." Sie duzte Webster kurzerhand. "Er wird mit dir verhandeln, wenn er meint, es könnte mich interessieren. Du hättest dich gleich an ihn wenden sollen, anstatt die weite Reise nach Minnesota zu machen."

"Es geht nicht um eine Fotostrecke", entgegnete er entschieden, "sondern um mehr. Und ich bin persönlich gekommen, weil ich dir einen Exklusivvertrag anbieten möchte."

Langsam nahm sie noch einen Schluck. Zusammen mit dem Kräuterduft nahm sie Websters ganz persönliche Duftnote wahr, die sich nur als eine angenehme Mischung aus Mann und Macht beschreiben ließ. In letzter Zeit hatte Tonya nichts außer frischer Luft, Fichtennadeln und Mückenspray gerochen. Noch länger war es her, seit sie an erlesenes Rasierwasser auf Männerhaut gedacht und sich nach körperlicher Nähe gesehnt hatte. Aber dies war ganz bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt für solche Sehnsüchte. Jetzt musste sie … Moment, was hatte er da gesagt?

"Wie bitte?"

Webster beugte sich vor und tippte abwesend mit dem Daumen an den Rand seines Bechers. "Ein Exklusivvertrag mit Tyler-Lanier. Du hast richtig gehört."

Ihr Blick glitt von seinen Augen – wunderbare Schattierungen von Braun, Zimt und Mokka – zu seinen ebenso faszinierenden kräftigen Händen. Sie ließ das unglaubliche Angebot auf sich wirken. Früher hätte sie begeistert zugegriffen. "Tut mir Leid, du hast deine Zeit verschwendet. Ich bin und bleibe selbstständig. Ich schließe mit niemandem Exklusivverträge."

Webster runzelte die Stirn, als könnte er ihre Ablehnung nicht fassen. Jeder Fotograf der westlichen Welt hätte das Angebot zumindest überdacht – außer ihr.

"Auch nicht, wenn du alle Freiheiten bekommst?" Seine Stimme klang sachlich, doch er beugte sich weiter vor. "Ein unbegrenztes Spesenkonto? Bei festem Jahresgehalt?" Er nahm ein Notizbuch aus der Brusttasche seines nagelneuen blauen Safarihemdes und schrieb eine Zahl auf. Dann riss er das Blatt heraus und schob es ihr über den Tisch zu.

Als Tonya die Summe las, blieb ihr fast das Herz stehen. "Das ist nicht dein Ernst!"

"Und ob."

"Das verstehe ich nicht", stieß sie hervor. "Warum gerade ich?"

Webster betrachtete die Frau ihm gegenüber, wie sie in ihrer Pseudo-Militärkleidung an ihrem Tee nippte. Sie hatte sich ein wenig hergerichtet, wie er feststellte. Offenbar war die eigenbrötlerische, abweisende Miss Griffin doch nicht ganz frei von weiblicher Eitelkeit. Das ließ ihn wieder hoffen. Und er bemerkte ein Grübchen in ihrer linken Wange, das ihm bisher entgangen war.

"Warum ich gerade dich will? Weil du gut bist. Ich brauche ganz einfach die Beste ihres Fachs. Es ist ein großzügiges Angebot, Tonya."

Da sie weiterhin die Stirn runzelte, hielt er inne. Wie sollte er vorgehen, ohne seinen Vorteil zu verspielen? Er hatte gehört, dass sich hinter Tonya Griffins rauer Schale ein ehrlicher, ungekünstelter Mensch verbarg. Winkelzüge lagen ihr nicht. Das hieß jedoch nicht, dass sie Tricks nicht durchschaute und ihn nicht aufs Kreuz legen würde, sollte er so etwas versuchen.

Er entschied sich für Offenheit. "Du würdest exklusiv für eine neue Zeitschrift arbeiten, die wir in einem halben Jahr auf den Markt bringen wollen: 'Abenteuer Natur' ist der Titel. Jede einzelne Ausgabe wird ausschließlich Fotos von Tonya Griffin enthalten."

Sie runzelte so stark die Stirn und bemühte sich so sehr, ein strenges, grimmiges Gesicht zu machen, dass es ihn rührte. Denn es passte überhaupt nicht zu ihren sanften blauen Augen mit den seidigen Wimpern und zu der zarten, leicht gebräunten Haut, die ohne die Schmutzflecken weich wie ein Blütenblatt wirkte.

"Ich begreife es noch immer nicht." Sie zog die schmalen Augenbrauen zusammen. "Es gibt so viele gute und erfahrene Fotografen, die der Zeitschrift weit mehr zur Ehre gereichen würden."

Okay, sie hatte also keine Starallüren, und das gefiel ihm außerordentlich. Er beschloss, den bekannten Tyler-Charme einzusetzen. "Ich will keinen anderen Fotografen, ich will dich. Tyler-Lanier hat genug eigenes Renommee, Tonya. Ich brauche deinen Blickwinkel. Ich mag deine Arbeiten, und deshalb möchte ich dich."

Sie stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Die Hände in den Gesäßtaschen, die Beine verschränkt, schaute sie hinaus.

Ihre Haltung betonte die langen, schlanken Beine. Ihre Shorts waren über dem Po straff gespannt und zeigten jede Einzelheit der reizvollen Rundungen. Er verspürte einen scharfen Stich des Begehrens, und das schockierte ihn.

Sie war eine Wildkatze, die in den letzten Klamotten herumlief. So unnachgiebig, eigensinnig und kratzbürstig, wie sie war, konnte er sich beim besten Willen keine Romanze mit ihr vorstellen. Am besten dachte er gar nicht erst an so etwas. Es ärgerte ihn ziemlich, dass er in der letzten Stunde mehr als ein Mal Fantasien gehabt hatte, die in diese Richtung gingen.

Unsinn. Er hatte nichts mit ihr im Sinn. Hätte C.C. Bozeman nicht auf Tonya Griffin bestanden und gedroht, sonst seinen Werbeauftrag zurückzuziehen – und C.C. Bozeman war der wichtigste Anzeigenkunde –, wäre Webster gar nicht hier, um diese kleine Hexe zu umgarnen.

"Versteh mich bitte nicht falsch", sagte sie schließlich, "ich fühle mich geschmeichelt und verstehe eure Situation, aber ich kann euch nicht helfen. Ich möchte mich nicht durch einen Exklusivvertrag binden." Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu, ein wenig bedauernd, doch entschlossen, und schaute wieder auf die Lichtung hinaus. "Es tut mir Leid, aber ich bleibe bei meinem Nein." Dann ging sie nach draußen und ließ ihn sprachlos zurück.

"Diese Frau ist störrisch wie ein Esel", murmelte er.

Aber mit Dickköpfen kannte er sich aus. Sein Großvater war einer gewesen. Zwar hatte es immer eine Weile gedauert, doch letzten Endes hatte Webster den alten Herrn unweigerlich dazu gebracht, das zu tun, was er wollte.

Verärgert starrte er auf die Tür und verabschiedete sich von der Hoffnung auf einen mitternächtlichen Heimflug.

Okay. Bis morgen würde er die Sache geregelt haben. Irgendwie würde es ihm schon gelingen, Tonya zur Vernunft zu bringen. Er musste sich nur ein unschlagbares Argument einfallen lassen. Jeder Mensch war käuflich, da würde sie keine Ausnahme machen. Allerdings, da weder Geld noch totale künstlerische Freiheit als Lockmittel bei ihr Wirkung gezeigt hatten, fragte er sich, welches ihr Preis war.

Er stand auf und trat hinaus auf den Treppenabsatz. Es war Abend geworden. Draußen war es jetzt kühl geworden, und bald würde die Sonne untergehen. Wind war aufgekommen. Von Westen näherte sich eine gewaltige dunkle Wolke. Das gefiel Webster gar nicht. Er hatte schon Schwierigkeiten gehabt, bei Tageslicht seinen Weg zu finden. In einem Unwetter und im Finstern nach International Falls zu gelangen würde eine noch härtere Prüfung bedeuten.

Vielleicht hätte ich doch zu den Pfadfindern gehen sollen, dachte er übellaunig.

Bei den Futternäpfen, die sich in einiger Entfernung vom Haus befanden, leckten sich die Bären die Tatzen. Manchmal ging einer zu einem Baum, um sich das Fell zu schaben. Zwischen zwei Jungtieren war ein Gerangel entstanden. Es endete rasch, als ein älterer Bär ein tiefes, drohendes Knurren in ihre Richtung verlauten ließ.

Sie wirken noch immer hungrig, dachte Webster. Die Aussicht, im Dunklen die Viertelmeile zu seinem Mietwagen laufen zu müssen, erfüllte ihn mit Unbehagen – nach seiner Begegnung mit dem gar nicht kuscheligen Teddy vorhin. Vielleicht lauerten noch mehr von diesen zotteligen Monstern im Wald und warteten sehnsüchtig auf Süßigkeiten aus seinen Taschen.

Apropos Hunger – ihm knurrte der Magen. Den Mücken offenbar auch. Er erschlug eine in seinem Nacken. Je dunkler es wurde, desto zahlreicher schienen sie zu werden. Er schaute blinzelnd in das schwindende Tageslicht. Seine Gastgeberin wider Willen kam aus einem kleinen Schuppen, beladen mit Feuerholz.

"Du solltest dich allmählich auf den Weg machen." Mit gesenktem Kopf stapfte sie an ihm vorbei. "Die Fahrt dauert zwei Stunden, und da dies die letzte Woche der Angelsaison ist, wirst du es schwer haben, in der Stadt ein Zimmer zu bekommen. Und wenn das Unwetter ausbricht, wird das Fahren mühselig … gelinde gesagt."

Auf keinen Fall würde er im Dunkeln zurück in die Stadt finden. "Ich habe auf dem Weg hierher ein paar Gasthäuser gesehen."

"Die sind ausgebucht. Du kannst es nur in International Falls versuchen."

Das konnte ja heiter werden. Nur wegen ihres Starrsinns saß er in dieser Wildnis fest. Ob ihr eigentlich klar war, welchen Anteil sie an seinem Dilemma hatte?

"Tja", sagte er, als das erste Donnergrollen im Westen zu hören war und die Windböen zweifelsfrei das nahende Gewitter ankündigten, "wenn ich dich wirklich nicht überreden kann …"

"Kannst du nicht", versicherte sie. "Schade, dass du vergeblich gekommen bist."

"Es war den Versuch wert", entgegnete er galant. "Außerdem kann ich jetzt erzählen, dass ich Minnesota gesehen habe und fast von einem Bären gefressen wurde."

Sie schaute von ihm weg zu den Bären und fragte zögernd: "Soll ich dich zum Auto begleiten?"

Sein männlicher Stolz kämpfte mit feiger, jämmerlicher Furcht und gewann. "Nicht nötig." Er würde sich nicht hinter Tonya Griffin verstecken, selbst wenn er dann ungehindert ihren sexy Po betrachten konnte.

Sie schien kurz zu überlegen, dann zuckte sie die Schultern. "Wie du meinst. Halt dich strikt an den Pfad, und du bekommst keinen Ärger mit den Eingeborenen."

Mit einer knappen Kopfbewegung wies sie auf die wenigen Bären, die noch bei den Futternäpfen verweilten, bevor sie in der Hütte verschwand und die Tür hinter sich zuknallte.

Nachdenklich betrachtete Webster den Pfad zu dem Parkplatz, wo sein Wagen stand. Er fragte sich, was für ein Empfang ihn wohl erwarten würde, wenn er am nächsten Tag bei Tonya mit neuen Argumenten auftauchte.

Der Donner wurde lauter, bedrohlicher. Webster schaute zum finsteren Himmel auf, die letzten blauen Flecken waren von grauen Wolken verschlungen worden. Ein dicker Regentropfen traf ihn mitten zwischen die Augen.

"Na, großartig", murmelte er verstimmt und begann, den Pfad hinunterzulaufen.

Eins musste er zugeben. In der Wildnis war es nicht langweilig, sondern höchst aufregend. Was das Gefahrenpotenzial anging, konnte so ein einsamer Wald locker mit New York konkurrieren …