KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

Ich hörte das Geräusch, ehe ich die Augen aufschlug. Es klang wie rostige Metallfingernägel, die über eine Schiefertafel kratzen. Nur schlimmer. Mir sträubten sich schon die Haare, ehe mein Hirn ganz wach war. Das Erste, was ich wirklich bewusst wahrnahm, war meine Wölfin, die sich in meinem Bewusstsein zusammenkauerte und dabei heftig knurrte.

Weißt du, wo wir sind?, fragte ich sie, ehe ich es wagte, endlich die Augen zu öffnen.

Ich fühlte die Gefahr. Eine Macht drückte mich nieder, tyrannisierte mich durch ihre schiere Existenz, bohrte sich mit einer Million spitzer Nadeln durch meine Haut. Ich lag, wie ich mit den Fingerspitzen ertastete, auf hartem, rauem, kaltem Stein. Ich versuchte es noch einmal: Was ist los? Weißt du, wo wir sind?

Und da hörte ich es erneut.

Krrrratz. Krrrratz. Krrrraaatz.

Meine Wölfin bekam keine Gelegenheit, mir zu antworten. Denn plötzlich durchdrang eine weibliche Stimme die Stille. Sie war weich und erzeugte ein schwaches Echo. Mein Blut prickelte warnend. »Wach auf, kleines Wolfsmädchen! Keine Spielchen mehr. Ich bin das Warten leid.« Die Stimme kam näher .

Ich schlug die Augen auf. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als schliefe ich noch. Denn die Frau, die mit mir im Raum war, wusste längst, dass ich wach war. Sie zu verärgern, schien mir keine kluge Vorgehensweise zu sein. Selenes Bann war verflogen. Ich hatte keine Ahnung, ob meine Wölfin ihn besiegt hatte oder nicht. Aber ich würde mich gewiss nicht beklagen.

Mein Blick ging hoch hinauf zur Decke. Es war eine hohe Kuppel, in die Buntglasfenster eingelassen waren. Ein schwacher Lichtschein drang durch das Glas, gab der Kuppel zusätzlich Tiefe und Raum. Bedauerlicherweise zeigten die Glasbilder weder hübsche Blumen noch glückliche Einhörner. Stattdessen gab es ganze Landschaften mit grausamen, blutigen Szenen: Vampire, dargestellt in ihrer schlimmsten Form, ganz so, wie ich Valdov in diesem kurzen, aber schaurigen Augenblick erlebt hatte. Die Horde genau über meinem Kopf war fröhlich dabei, ihrer menschlichen Beute die Kehle aufzureißen, die Gesichter verzerrt, umgeben von einem See aus Blut, das über die Leiber ihrer armen Opfer spritzte. Wenn das nicht herzerwärmend war!

Offensichtlich befand ich mich in einer Art Vampirfestung. Der Anblick der Glasfenster trug wenig dazu bei, mir ein besseres Gefühl hinsichtlich meiner Lage zu geben.

Zu meinen Füßen bewegte sich etwas, und ich hob langsam den Kopf.

»Du bist nicht annähernd so beeindruckend, wie ich erwartet habe, kleines Wolfsmädchen.« Die Stimme gehörte zu einem Gesicht mit makelloser Haut und passte dazu. Die Gesichtszüge waren so perfekt gezeichnet, dass sie einen ganz eigenen Schatten warfen. Hohe, markante Wangenknochen und ein Paar großer haselnussbrauner Augen beherrschten dieses Gesicht. Die Augen waren umrahmt von einem dicken schwarzen Lidstrich. Das Gesicht war nicht nur blass; die Haut wirkte porzellanartig weiß. Die roten Lippen stachen umso greller daraus hervor. Das Haar, so hell, dass es gar keine Farbe zu haben schien, war zu einem komplizierten Turm aus Locken aufgesteckt. Haarfarbe und Frisur ließen die Frau weit älter erscheinen als der Rest von ihr, der glauben machte, sie sei irgendwo in den Zwanzigern. Sie trug ein wunderschönes graues Seidenkleid, so fein gewebt, dass es im schwachen Licht wie flüssiges Silber schimmerte. Als sie auf mich zukam, wehte ihr Umhang, der aus dem gleichen schimmernden Stoff gefertigt war, hinter ihr her.

Die Vampirkönigin.

Ein einzelner Fingernagel strich über den steinernen Altar, auf dem ich lag, als sie sich Schritt um Schritt näherte.

Krrrraaatz.

»Äh, tut mir leid, Sie zu enttäuschen.« Ich stützte mich auf die Ellbogen hoch. Ich war dankbar dafür, nicht physisch gefesselt worden zu sein. Dabei aber wusste ich sehr wohl, dass dergleichen in Gegenwart der Vampirkönigin mit all ihrer Macht gar nicht nötig war. Die Aura von Macht füllte wie Unwetterwolken den Raum. Was interessierte diese Frau, ob ich beeindruckend war oder nicht? In den Augen von Vampiren war aber sowieso kein Wandler beeindruckend, warum sollte ausgerechnet ich es also sein? Mir konnte es gleich sein. Alles, was für mich zählte, war, so schnell wie möglich hier herauszukommen, in einem Stück, mit heiler Haut und im Besitz all meiner lebenswichtigen Körperflüssigkeiten.

Der Altar, auf dem ich lag, befand sich in einem luxuriös ausgestatteten Empfangsraum, vergleichbar mit dem, was ich mir unter dem Thronsaal eines Schlosses vorstellte – inklusive eines erhöhten Podests, in dessen Mitte ein königlich aussehendes Sitzmöbel stand.

Wie es schien, wurde mir gerade eine Privataudienz bei der Vampirkönigin gewährt.

Wenige Schritte vor mir blieb sie stehen und wartete, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Nichts regte sich in ihren Zügen.

Ich hatte keine Ahnung, was von mir erwartet wurde. Also stemmte ich mich in eine Sitzhaltung hoch. Als ich in Position war, sah ich ihr für einen Moment in die Augen und wurde mit einem Energiestoß belohnt, der stark genug war, dass ich die Fingernägel in den Stein unter mir bohrte und kleine mondförmige Kerben darin hinterließ.

Meine Wölfin gab in meinem Bewusstsein wechselnde, unstete Laute von sich, wie ich sie noch nie von ihr gehört hatte. Ganz ruhig. Wir wollen doch nicht jetzt schon in Panik geraten! Statt mir zu antworten, verpasste sie mir einen kleinen Adrenalinstoß. Das Adrenalin strömte durch meine Adern und beruhigte mich, reichte aber nicht, um irgendetwas in Gang zu setzen. Hervorragend! Aber jetzt schön die Ruhe bewahren, wir kommen hier schon wieder raus! Wir sind nicht gefesselt, und sonst ist niemand hier. Vor allem nicht der schreckliche Valdov. Wenn sie uns zum Frühstück hätte verspeisen wollen, dann wären wir jetzt in ihrem Kerker festgekettet oder schon leer gesogen. Ganz klar: An einem Ort wie diesem musste es einen Kerker geben.

»Valdov war ein Narr, dich hierherzubringen«, blaffte die Vampirkönigin, die mich immer noch mit abschätzigem Blick und schief gelegtem Kopf musterte. Ich kam mir vor wie unter einem Vampirmikroskop.

Hä? »Nun, uns hat er den Eindruck vermittelt«, konterte ich, »er führe nur Ihre Befehle aus.«

»Narr!«, krächzte sie, wandte sich abrupt ab und schritt die Stufen des Podests hinauf zu ihrem goldenen Thron. Dort wirbelte sie mit einer ausholenden, eleganten Bewegung und waberndem Umhang herum und nahm Platz. Sie saß da mit gerunzelter Stirn, und die Falten verunzierten ihr umwerfend schönes Gesicht.

Hmm. Statt ihr beim Grübeln zuzusehen, schwang ich die Beine herum und setzte mich auf den Rand des Altars. Dort wackelte ich mit den nackten Zehen und blickte an meiner schmutzigen, zerrissenen Kleidung herab, die immer noch extrem nach Schwefel und Schweiß roch.

Die perfekte Verkörperung einer knallharten Heldin.

Ich hatte keine Ahnung, was die Königin von mir wollte. Aber ich spürte, von der unfassbaren Macht abgesehen, nichts, was unmittelbare Gefahr verhieß. Dass sie sich über Valdov ärgerte, war sicher von Vorteil für mich, wenn ich auch nicht recht wusste, warum. Jemand wie Valdov tat, was ihm gesagt wurde. Immer. Ich beschloss, eine Frage zu wagen: »Wenn Valdov sich Ihren Befehlen widersetzt hat, warum bin ich dann hier?«, erkundigte ich mich.

Die Königin zog die Augen zusammen wie ein Falke. In der Tiefe dieser Augen funkelte ein Fleck Quecksilber so strahlend hell, als würde eine weiße Flamme in ihnen brennen. Ruckartig erhob sich die Königin und trat vor. Kurz vor den Stufen hinunter vom Podest blieb sie stehen und blickte auf mich herab. Instinktiv lehnte ich mich zurück.

»Fordere mich nicht heraus, kleines Wolfsmädchen! Ich bin niemand, mit dem man leichtfertig umgehen sollte. Wenn du mich provozierst, dann, das verspreche ich dir, werde ich dich bestrafen! Du bist hier, weil ich es so wünsche, und damit hat es sich!« Sie wedelte herablassend mit der Hand. Diese Vampire hatten offenbar eine Vorliebe für Handzeichen aller Art.

Du hast doch gerade gesagt, Valdov sei ein Narr gewesen, mich herzubringen! »Ich bin nicht leichtfertig Ihnen gegenüber, äh … Königin.« Wie zum Teufel sollte ich sie eigentlich ansprechen? »Ich versuche nur zu verstehen, warum ein neugeborener Wolf derart viel Interesse bei Ihnen weckt. Normalerweise sollte ich Ihrer Beachtung gar nicht wert sein. Wenn das, was ich über Ihre Art weiß, zutrifft, sollte ich nicht das kleinste Echozeichen auf Ihrem Radar auslösen. Es hat nie zu den Gepflogenheiten unserer Gemeinschaft gehört, sich in die Angelegenheiten der jeweils anderen einzumischen.«

Kaltes Lachen war die Antwort und: »Du, kleines Wolfsmädchen, bist meine Angelegenheit!« Sie schwebte die Stufen herab. »Meine getreuen Diener haben dich seit deiner überaus unzeitgemäßen Geburt im Auge behalten.« So lange waren die Vampire mir bereits auf den Fersen? Sie lachte. »Was? Hast du gedacht, dein Vater könnte dich vor uns verstecken? Uns die Geburt eines Weibchens verheimlichen? Niemals!«

Eudoxias Augen flackerten gefährlich, wechselten von reinem Silber zu Schwarz und wieder zu Silber. Wenige Schritte vor mir blieb sie stehen und faltete die Hände vor dem Körper wie ein sittsames Schulmädchen. Sie hätte in dieser Rolle sogar glaubwürdig gewirkt, wäre mir nicht eines so überdeutlich klar gewesen: Sie könnte mir allein mit ihren Zeigefingern den Hals brechen, ehe ich auch nur Zeit zum Niesen hätte.

»Was genau meinen Sie mit ›unzeitgemäß‹?«, fragte ich. »Mir war nicht bewusst, dass es eine gute Zeit für die Geburt eines weiblichen Werwolfs geben könnte.«

Sie neigte den Kopf und musterte mich eindringlich. Ich verlagerte unbehaglich mein Gewicht. Ich mochte es nicht, wenn ihr Blick auf mir lastete; es jagte mir einen Schauer über den Rücken. Dann legte Eudoxia den Kopf auf die Seite wie ein Vogel, der einem Wurm lauscht, genau wie Valdov es getan hatte. Vampire waren absolut gruselig. Jede ihrer Bewegungen war widernatürlich. Die Königin konnte sich unmöglich hinaus in die Welt trauen. Dafür hatte sie zu wenig Menschliches an sich.

Abrupt hob sie den Kopf, und ein niederträchtiges Lächeln schlich sich auf ihre perfekten Lippen. »Du weißt nicht, was du bist, richtig, kleines Wolfsmädchen?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, entgegnete ich. »Was meinen Sie mit ›wer ich bin‹? Ich bin das einzige Weibchen in einer sonst ausschließlich männlichen Gattung – eine Missgeburt, eine Anomalie, ein fleischgewordener Streitpunkt.« Die violetten Augen ließ ich ebenso aus wie die Lykanerfähigkeiten und die Hirnwellenkommunikation mit meinem Bruder. Davon dürfte die Königin bisher nichts wissen, und so sollte es auch bleiben.

Ihre Eckzähne waren eingezogen, denn als sie den Mund in makabrem Entzücken öffnete, sah ich nur zwei Reihen hübscher, ebenmäßiger Zähne. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass du dir deiner Lage … wie soll ich sagen … nicht bewusst bist.« Sie klatschte spöttisch in die Hände und spazierte zu einem mächtigen Wandgemälde mit schaurigen Folterszenen. Liebreizend. »Das ist wirklich interessant. Und es ändert die Lage ganz enorm!«

Mir gefiel die schaurige Freude, die in ihrer Stimme anklang, überhaupt nicht, und meiner Wölfin ging es ebenso. Was ist hier los? Weißt du, wovon sie spricht? Meine Wölfin ging nur aufgeregt auf und ab, richtete die Nackenhaare auf und knurrte weiter leise. Damit machte sie mir im Grunde nur deutlich, dass dies nicht der rechte Zeitpunkt für ein vertrauliches Gespräch war. Ich fügte mich.

Dass die Vampirkönigin mehr über mich wusste als ich selbst, war, gelinde gesagt, suboptimal. Eigentlich war es sogar richtig beschissen. Ich befand mich ihr gegenüber eklatant im Nachteil. »Ich fürchte, ich bin ein wenig ratlos. Wenn Sie vielleicht …«, setzte ich an.

»Sie kommen.« Ihr Kopf ruckte zur Tür herum, und zwei vermummte Gestalten schwebten simultan auf sie zu.

»Wer kommt?« Wie lange war ich eigentlich weg gewesen? Ich sah mich um, konnte aber keinen Hinweis darauf entdecken, wie viel Zeit vergangen sein mochte.

»Ich habe wenig Interesse daran, einen Krieg gegen deine … Art … zu beginnen.« Sie schürzte die Lippen. »Aber ich bin überzeugt, wir werden uns wiedersehen, kleines Wolfsmädchen, und das könnte schon sehr bald geschehen.«

Meine Art? Vage nahm ich nun einen Tumult außerhalb des Saals wahr. Mein Herz schlug schneller. Ich brauchte eine Sekunde, bis das letzte Puzzlestück hinsichtlich meiner Entführung seinen Platz fand. Valdov hatte den Befehl seiner Königin nicht missverstanden. Ihm war lediglich ein ziemlich großer und ziemlich wütender Alpha-Werwolf in die Quere gekommen. Wäre mein Vater nicht aufgetaucht, würde ich nun vermutlich angekettet im Kerker liegen und als Cocktailhappen herhalten.

Ich war müde und ziemlich angepisst. Mein Rudel war in den Krieg gezogen, ich war gejagt und von Vampiren entführt worden. Eine hoch organisierte Splittergruppe Werwölfe hatte einen ausführlichen Plan zu meiner Ermordung ausgearbeitet; die böse Selene hatte meinen neuen Gefährten niedergestreckt, nach dem sich mein Körper auch momentan noch sehnte. Und zu allem Überfluss deutete all das darauf hin, dass ich exakt das war, was alle stets befürchtet hatten: das Ende der Welt, wie wir sie kannten.

Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben.

Rufe hallten durch den Korridor und kamen mit jeder Sekunde näher. Ich schaute die Königin an, die von dem Aufruhr wie gebannt schien und sich offenbar darauf vorbereitete, dass die Werwölfe ihre Tür aufbrachen. Mich hatte sie entweder vergessen, oder ich war ihre Aufmerksamkeit nicht länger wert, eins von beidem.

Als ich wieder das Wort ergriff, klang meine Stimme wie ein Knurren, das uns beide überraschte. »He, Königin!« Ihr Kopf fuhr zu mir herum. »Wenn ich nicht irre, hat die Ankunft meines Vaters im Wald Ihren Plan, mein bedauerliches ›Verschwinden‹ den Wölfen der neuen Zeit – oder wie immer sich diese Verräter nennen – anzuhängen, zunichtegemacht?«

Eudoxia kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

»War das nicht Ihre Absicht? Ich wette, Sie haben eine Menge Geduld gebraucht, um die Ängste einiger gut ausgewählter Wölfe über die Jahre so zu schüren, dass sie eine nützliche ›Allianz‹ bilden. Aber eigentlich ist das gar keine Allianz, nicht wahr? Es ist ein Marionettentheater, und die Fäden haben die ganze Zeit über Sie gezogen!«

»Die Hexe hat sich deinen Liebhaber geholt!«, zischte Eudoxia und traf mich damit erneut vollkommen unvorbereitet. Dann sah ich voller Entsetzen, wie sich ihre Züge ganz allmählich veränderten, wie sie förmlich an ihrem Gesicht herabglitten. Dann, ohne jede Vorwarnung, versetzte sie mir mit ihrer Macht einen Hieb, der sich anfühlte, als hätte sich ein Pfeil in meine Brust gebohrt. Sofort klappte ich zusammen, schlang die Arme um den Leib und rang nach Atem.

Heilige Scheiße, ist die stark!

»Du armseliges kleines Mädchen!«, geiferte sie. »Du steckst deine Nase in Dinge, die dich nichts angehen. Du hast mir keine Fragen zu stellen. Ich gestatte dir – einem schwächlichen Wandler! – lediglich, hier zu sitzen und noch immer Luft in die Lunge zu pumpen, weil ich es so will. Du solltest auf die Knie fallen, um meine Güte zu würdigen. Ich werde deine Frechheiten nicht dulden, und ich werde dir gewiss keine Rechenschaft über meine Handlungen ablegen!«

Mir blieb keine Zeit, noch etwas anderes zu tun, als mir die Rippen zu halten und verzweifelt nach Luft zu schnappen, ehe die Tür aufflog. Mein Vater stürzte in den Raum, zu meiner großen Erleichterung gefolgt von James und Tyler und ungefähr fünfzehn anderen Wölfen, die mir nicht bekannt waren. Alle waren in ihrer menschlichen Gestalt.

»Eudoxia«, knurrte mein Vater, als er auf sie zuschritt. Knurrend verteilten sich seine Wölfe samt und sonders hinter ihm.

Direkt nach den Wölfen drängte sich eine große Anzahl Vampire herein, von denen viele Korsagen und maßgeschneiderte Jäckchen mit großen, glänzenden Knöpfen trugen. Andere hingegen trugen hautenge Jeans und hippe T-Shirts. Zusammengenommen deckten die Vampire eine große Bandbreite unterschiedlicher Moderichtungen ab. Wäre Marcy hier, hätte sie ihre wahre Freude an den verschiedenen Kleidungsstilen in diesem Raum. Meiner Einschätzung nach lieferte der jeweilige Stil einen Hinweis auf das ungefähre Alter des Vampirs. Denn einen Vampir des achtzehnten Jahrhunderts in Leggings zu stecken, würde von diesem einen Sinneswandel erfordern, an dem die meisten Vampire nicht interessiert sein dürften. Wenn diese Vampire ebenso arrogant waren wie ihre Königin, war jeder von ihnen fest überzeugt, dass nur sein eigener Stil der einzig korrekte war.

Nun war dies nicht gerade ein Festtag bei Hofe. Die Vampire entblößten ihre Eckzähne, und ihre Gesichter verzerrten sich angesichts der Außenstehenden, die es gewagt hatten, in ihren Rückzugsort vorzudringen.

Außerdem sah ich keinen Rourke, und mein Herz verkrampfte sich. Unsere Verbindung hatte sich bereits zu etwas entwickelt, das weder ich noch meine Wölfin ganz begreifen konnten. Die physische Entfernung forderte schon jetzt ihren Preis. Ich empfand Sehnsucht in einer Form, die ich nicht für möglich gehalten hatte.

Eudoxia hob einen Finger, und die Menge kam zur Ruhe.

Ich glitt vom Altar herab, um vor meinem Rudel aufrecht auf den Beinen zu stehen. Ich musste mich allerdings an den Stein lehnen und gegen die letzten Nachwirkungen des Energiestoßes ankämpfen, den die Königin mir versetzt hatte. Meine Wölfin hatte mich mit Kraft gefüttert und schnappte immer noch beständig nach der Wolke weißen Nebels, die sich einfach nicht aus meinem Bewusstsein verziehen wollte. Ich nahm an, dass die Wolke eine Manifestation der Magie der Königin war. Als sich meine Wölfin schließlich in die Wolke verbiss, löste das nebulöse Etwas sich in Nichts auf. Damit verflog auch die fremde Energie, und ich bekam ganz allmählich meine Kraft zurück. Das Gleiche war mit Selenes unheimlichen roten Linien passiert. Ich hatte keine Ahnung, wie meine Wölfin das anstellte. Aber ich war froh, dass sie wusste, was zu tun war. Denn die Anfälligkeit für Magie machte mich verwundbar.

Die Königin marschierte, flankiert von ihren Wachen, selbstsicher auf meinen Vater zu und blieb direkt vor ihm stehen. »Callummmm«, gurrte sie, »was für eine schöne Überraschung! Willkommen in meinem Heim.« Sie deutete mit großer Geste in den makaber ausgestatteten Saal. Neben der Deko auf Wänden und Decke waren da jede Menge schmuckvolle Vasen auf kostbaren Lackanrichten. Das ganze Mobiliar war von einer unheilverkündenden Strenge. »Bist du nicht beeindruckt von dem, was du vor dir siehst? Es hat mich nur ein paar kurze Jahrhunderte gekostet, alles nach meinem Geschmack einzurichten. Obwohl ich in jüngster Zeit bisweilen über die Farbe der Samtvorhänge nachdenke. Blutrot würde so viel besser zum Mobiliar passen als Gold. Findest du nicht auch?«

Zur Antwort knurrte mein Vater: »Meine Tochter kommt sofort mit mir, oder ich töte dich an Ort und Stelle, Eudoxia! Unterschätz mich nicht!«

»Aber wie könnte ich!«, gurrte Eudoxia nun wieder, und zum ersten Mal schlug sich ein leichter russischer Akzent in ihrem Tonfall nieder. »Das war doch selbstverständlich, nicht wahr? Anderenfalls, Callum Sèitheach McClain, Anführer der Wölfe, hättest du nicht so tief ins Innere meiner Zufluchtsstätte vorzudringen gewusst. Du solltest meine Nachsicht hinsichtlich deines Eindringens nicht mit Untätigkeit verwechseln!« Nun wurde ihre Stimme stahlhart, ihre Augen flackerten gefährlich, und ihre Macht sättigte den ganzen Raum mit widerwärtig zäher Süße. »Du musst wissen, dass nur wenige diese Türen passieren und … am Leben bleiben

Ehe mein Vater noch etwas sagen konnte, machte sie auf dem Absatz kehrt und kam in lässiger Haltung auf mich zu. Dann streckte sie die Hand nach meiner Wange aus, berührte mich beinahe, hielt aber inne, als fünfzehn Wölfe plötzlich erheblich lauter knurrten. Ich brauchte all meine Beherrschung, um nicht vor ihr zurückzuzucken.

»Deine kleine Wolfstochter …«, sagte sie und sah sich zu meinem Vater um, »… und ich haben lediglich über einige Dinge von Bedeutung geplaudert, ehe sie sich ganz liebreizend verabschiedet hat. Und weißt du was? Ich habe gerade erkannt, dass es für sie von größtem Interesse ist herauszufinden, wo dieses böse Kätzchen geblieben ist. Ist er zufällig mit euch gekommen?« Spöttisch stellte sie sich auf die Zehenspitzen und mustere über Dads Schulter hinweg die Wölfe auf der anderen Seite des Raums. »Hmm, ich sehe ihn gar nicht!«, sagte sie und drehte sich mit geschürzten Lippen zu mir um. »Armes, armes kleines Wolfsmädchen, was wirst du nun tun?«

»Die Katze nützt uns nichts«, sagte mein Vater gedehnt, sorgsam darauf bedacht, sich ein genaues Bild von Eudoxias Stimmung zu machen.

Ich spürte zunehmend Druck auf meinen Schläfen. Aber mehr kam nicht durch, so sehr mein Vater auch versuchte, mit mir zu kommunizieren. Der Raum musste irgendwie verzaubert sein. Die Königin konnte kaum wollen, dass ihre Jünger sich unterhielten, ohne dass sie es hören konnte. Die Chancen standen nämlich gut, dass etliche der Vampire über die Gabe des Gedankenlesens verfügten. Diese Fähigkeit war unter Übernatürlichen weit verbreitet. Ich versuchte, die Verbindung von meiner Seite aufzubauen, aber es funktionierte nicht. Ich fand nur leeren Raum.

Mein Vater sprach weiter: »Die Hexe hat die Katze geschnappt, kurz nachdem meine Tochter von deiner Drohne entführt worden ist. Und kaum waren sie weg, haben sich die übrigen Wölfe zerstreut wie Diebe in der Nacht.«

»Entführung ist so ein böse klingendes Wort, findest du nicht?«, entgegnete die Königin sorglos, stellte sich ans Ende des Altars und strich in einer geradezu liebevollen Weise mit den Fingern über den Stein. »Ich sage lieber, ich habe sie mir nur für eine kurze Weile ausgeliehen. Ihr ist kein Leid geschehen, wie du deutlich sehen kannst. Schuld ist natürlich meine Neugier auf alles Unbekannte, und ein weiblicher Wolf ist einzigartig. Meinst du nicht … Callum?« Zum ersten Mal begegnete sie offen dem Blick meines Vaters. Diese direkte Konfrontation erfüllte den ganzen Raum mit einer Energie, die geeignet war, Schrecken unter allen Anwesenden zu verbreiten. Niemand konnte meinen Vater längere Zeit anstarren. Aber die Königin verfügte ganz offensichtlich über einen ähnlich machtvollen Blick wie er.

Dennoch gab sie zuerst auf, und ich lächelte in mich hinein.

Jetzt bist du nicht mehr so stark, was?

Mein Vater starrte sie weiter wortlos an. Sie tat, als wäre nichts passiert, und sagte: »Sie ist ein Diamant in einem Haufen Kohle, sollte man annehmen.« Sie wedelte mit der Hand, verwarf ihren nächsten Gedanken, während sie auf ihren Thron glitt. »Valdov hat überreagiert, weißt du? Er hat mein Bedürfnis, Kuriosa zu sammeln, wörtlich genommen. Aber ich verspreche dir, er wird angemessen bestraft. Genau genommen beginnt seine Marter gerade jetzt.«

»Mich führst du nicht hinters Licht, Eudoxia!«, erwiderte mein Vater und tat ein paar Schritte, um den Abstand zu verringern. Es hätte mich nicht überrascht, wäre er auf das Podest gesprungen, um Eudoxia auf Augenhöhe gegenüberzustehen. Zuzusehen, wie sie vor ihm zurückwich, wäre einfach herrlich. Die Instinkte diktieren einem Alphawolf, all seine Feinde unterzuordnen. Dass Eudoxia eine Position über ihm einnahm, musste ihn zur Weißglut treiben. Doch statt zu springen, knurrte er: »Ich weiß noch nicht, was für ein Spiel du spielst. Aber ich verspreche dir, du wirst es nicht gewinnen! Die bloße Tatsache, dass dein Gefolgsmann, mit oder ohne deine Zustimmung, meine Tochter entführt hat, gibt mir das Recht, allen Vampiren den Krieg zu erklären. Wäre ich an deiner Stelle, würde ich mich glücklich schätzen, dass ich heute in überaus großmütiger Stimmung bin. Ich werde dir nicht den Krieg erklären. Dieses Mal.« Damit drehte er sich zu mir um und streckte die Hand aus. »Jessica, es ist Zeit zu gehen.«

Ich setzte mich in Bewegung, keineswegs erpicht darauf, irgendetwas zu dieser explosiven Mixtur aus Energie und Macht beizutragen. Mein Brustkorb brannte immer noch, und ich wusste, es wäre ein Fehler, mich jetzt da hineinziehen zu lassen, umso mehr, da wir anscheinend Oberwasser genug hatten, um unbehelligt abziehen zu können.

»Es ist ja so schade, dass deine Tochter ihren Gefährten nie mehr wiedersehen wird«, ertönte die Stimme der Königin in gelangweiltem Tonfall, als ich gerade vor meinen Vater trat. »Meinst du nicht auch? Wie war doch gleich sein Name?« Sie hielt inne und tippte sich mit einem langen, silbern glänzenden Fingernagel an die Lippen. »Ach ja, richtig … wie dumm von mir … Rourke, nicht wahr?«

Hinter mir flippten die Wölfe aus, und mir rutschte das Herz in die Hose.

Die Königin lächelte, und ihre kränklich roten Lippen wirkten erstaunlich lebendig. »Ja, du hast richtig gehört, kleines Wolfsmädchen«, sagte sie. »Deine wahre Liebe wird Selenes Lager nicht lebend verlassen. Gegen sie hat er keine Chance. Dieses Mal ist sie gut vorbereitet.« Dieses Mal? Nun kicherte die Königin. »Wahrscheinlich vergnügt sich Selene gerade jetzt bei einem netten Katz-und-Maus-Spielchen mit ihm. Entweder das, oder sie hat ihn bereits an ihren berüchtigten Schandpfahl gefesselt. Was es auch ist, sie wird ihn nicht mehr gehen lassen. Nie mehr.«

Meine Lunge stellte den Dienst ein, als ich im Geiste vor mir sah, wie Selene ihre Hände an Rourke legte. Zugleich wuchsen meine Fingernägel, und ein Knurren stieg ganz ohne meine Erlaubnis aus der Tiefe meiner Kehle empor. Wenigstens hatte der Bann, dem ich ihn versehentlich ausgesetzt hatte, ihn, den Worten der Königin nach zu schließen, nicht getötet. Sonst hätte Selene ja auch niemanden gehabt, den sie hätte quälen können. Gott sei Dank, Rourke lebte! Mein Vater packte mich an den Armen und lenkte meine Aufmerksamkeit wirkungsvoll von der Königin ab und zurück zu sich. »Was ist los?«, fragte er leise, aber in erbittertem Tonfall. »Stimmt das, was sie sagt?«

Die Königin konnte unmöglich wissen, dass Rourke mein Gefährte war. Sie hatte lediglich nach einem Strohhalm gegriffen und sich offenkundig auf eine Vermutung Valdovs verlassen. Aber was immer sie zu wissen glaubte, sie hatte verdammtes Glück gehabt. Sie hatte ihr Ass ausgespielt, und nun war ich am Zug.

Wusste ich es denn so genau? Wir kannten uns erst so kurze Zeit. Ehe ich meine Gedanken sortieren konnte, schlug meine Wölfin in meinem Geist mit der Pfote zu und schnappte nach mir. Ich weiß genau, wie du empfindest, wie du von Anfang an empfunden hast. Aber sind wir auch bereit, seinetwegen den Fehdehandschuh zu werfen und alles aufs Spiel zu setzen? Die Königin wird im Gegenzug etwas von uns wollen, und das wird nicht billig für uns. Und wenn wir das tun, stellen wir uns gegen unseren Alpha. Sie knirschte mit den Zähnen und zeigte nicht eine Spur Unschlüssigkeit.

»Jessica, antworte mir!«, verlangte mein Vater. Im ganzen Raum war absolute Stille eingekehrt.

»Ja, was sie sagt, ist wahr.« Ich schloss die Augen und ballte die Fäuste. »Und wie es scheint … sind meine Wölfin und ich bereit zu kämpfen, um ihn zurückzubekommen.«

Mein Vater fixierte mich mit strengem Blick, und seine Augen erglühten in einem todbringenden Amethystton. Da standen wir also. Er umfasste immer noch meine Arme, die Wölfe waren totenstill, und die Vampire hinter uns fingen an, zu schnattern und zu kichern.

Natürlich konnte es daran liegen, dass wir einander berührten, Aber auf jeden Fall verstärkte sich das Blutband zwischen meinem Vater und mir, raste durch meinen Blutkreislauf, löste kleine Wellen aus, die sich aufbauten und wieder zusammenfielen.

Fest stand, dass die Königin beabsichtigte, diese Information voll und ganz zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sowohl mein Vater als auch ich wussten das, ohne dass wir darüber sprechen mussten. Wenn es nach ihr ginge, würden wir einen hohen Preis bezahlen müssen, ehe sie uns gestatten würde, diese Mauern zu verlassen.

»Wann?«, fragte mein Vater schließlich mit angespannter Kiefermuskulatur.

»Ich glaube, meine Wölfin hat ihn sofort erkannt, aber ich habe sie ignoriert. Ich habe es erst begriffen, als«, … er mich mit seinen Küssen um den Verstand gebracht hat …, »ich mich vollständig gewandelt habe. Die Vampire sind gleich darauf aufgetaucht. Ich hatte keine Zeit mehr, das irgendwie zu verarbeiten.« Dann fügte ich schlicht hinzu: »Ich werde alles tun, um ihn zu finden.«

Die Königin räusperte sich und kam langsam die Stufen herunter. Sie genoss die Vorstellung sichtlich. »Ojemine!«, tat sie bestürzt. »Was für ein schreckliches Dilemma! Wie willst du ihn je aus eigener Kraft finden?«, höhnte sie. »Weißt du, wo Selene ihr Lager aufgeschlagen hat? Oder besser, ihre Lager. Sie hat eine ganze Menge Schlupfwinkel. Denn sie ist eine sehr mächtige Göttin, weißt du?« Sie legte eine knochige weiße Hand auf ihr totes Herz. »Wie dumm von mir! Natürlich weißt du, dass sie eine sehr mächtige Göttin ist. Schließlich hat sie dich schon einmal besiegt.« Aber ich hatte sie bluten lassen. Die Erinnerung entlockte mir ein Lächeln. »Da frage ich mich doch, wie du sie je allein besiegen und deinen Gefährten befreien willst. Dieser Berg erscheint unermesslich hoch, bedenkt man, wie kläglich die Kräfte sind, die du bisher offenbart hast.«

»Ich …«

»Sie wird nicht allein sein.« Mein Bruder trat vor, und seine Stimme klang ebenso hart wie wütend. »Ihr Rudel wird sie unterstützen, wie es unsere Gesetze vorschreiben.« Ich sah, dass Tyler mit seinen nächsten Worten kämpfte. Offenbar musste er sich erst selbst mit einigen Dingen aussöhnen. »Es ist unsere Pflicht, alle Gefährten zu akzeptieren … auch wenn sie … auch wenn sie … anderen … Gemeinschaften entstammen.« Er straffte die Schultern, offensichtlich um ein Schaudern zu unterdrücken. Ich aber liebte ihn mehr als je zuvor. »Sie wird die Suche nicht allein bewältigen müssen. Ihr Rudel wird ihr helfen.«

Verärgert über die Störung setzte die Königin eine finstere Miene auf und wirkte ein wenig gekränkt. »Auch wenn jeder eurer Wölfe sich an der Jagd beteiligt, wird das nicht das Geringste ändern, Junge.« Sie wedelte herablassend mit der Hand. »Ihr werdet ihn nie rechtzeitig finden. Und selbst wenn es euch gelingt, irgendwie über Selenes Lager zu stolpern, ist ihre Macht, euch abzuwehren, wie ein endlos großer, todbringender Ozean. Sie wird euch töten, sobald ihr in ihr Blickfeld geratet, falls ihre unzähligen Fallen das nicht schon vorher tun.« Eudoxia lachte glockenhell und hart zugleich und richtete ihren starren Quecksilberblick auf mich. »Deine einzige Chance, kleines Wolfsmädchen, besteht darin, mir einen Eid zu leisten. Du wirst schwören, mir einen kleinen Gefallen meiner Wahl zu erweisen. Dann werde ich dir zwei meiner besten und klügsten Fährtenleser überlassen, die dich bei deiner Suche unterstützen. Ohne die beiden wirst du scheitern. Du hast keine Wahl.«