KAPITEL NEUN
Ich hatte meine Wohnungstür fast erreicht, als eine kräftige, unbekannte Stimme mein Hörzentrum traf. Ich blieb abrupt stehen und sah mich um.
Außer mir war niemand auf dem Korridor.
Die Stimme streifte erneut mein Hirn wie ein sanfte, leidenschaftliche Liebkosung. Sie war nicht so recht greifbar – eher wie etwas, das sich im Inneren meines Gehirns manifestierte, nicht außerhalb. Und sie hörte sich ganz anders an als die Stimme meines Vaters oder die meines Bruders. Gott sei Dank, denn das, was sie gerade zu mir gesagt hatte, war höllisch obszön.
Sie meldete sich erneut, flüsterte in meinen Sinnen, und endlich erkannte ich das Timbre. Die Stimme in meinem Kopf gehörte Colin Rourke, meinem potenziellen neuen Klienten. Ich lauschte ihr einen Moment und errötete wie irre.
Was ist los? Das kann doch nur irgendein Streich sein!
Rourkes kehlige Stimme flutete mich erneut, und ich fühlte ein Kribbeln, das von den Fingerspitzen bis zu den Zehen rann und unterwegs alle wichtigen Körperteile erwischte. Ich erbebte und konnte es nicht unterdrücken.
Mmm … Schokoladensirup, wohin?
Sex und Essen. Das war zu viel. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, Rourke aus meinem Schädel zu vertreiben. Marcy musste mir einen Streich spielen. Bestimmt wollte sie sich nur rächen, weil ich ihr solche Angst gemacht hatte. Das war die einzig mögliche Erklärung. Was sollte sonst dahinterstecken? Was für ein Biest! Wieder sah ich mich auf dem Korridor um, um mich zu vergewissern, dass sie nicht hinter irgendeiner Tür stand und kicherte.
Die Stimme sprach ohne Unterlass. Sie benutzte sehr handfeste Bilder.
Nein, nein, Karamell passt da nicht hin. Dafür ist es zu klebrig.
Ehe ich etwas dagegen tun konnte, erblühten meine Brustwarzen unter meinem Top zu steilen Gipfeln. Ich war angeturnt bis zum Gehtnichtmehr. Zum Teufel mit euch, ihr verräterischen Körperteile! In meinem Kopf sollte es ohne meine Erlaubnis gar keine Männerstimme geben. Aber das hielt mich nicht davon ab, mir vorzustellen, wie dieser Mann wohl riechen mochte. Dicke Kiefernäste oder salzige Meeresluft, nahm ich an. Vielleicht vermengt mit einem Hauch Regen. Mjam!
Eine Woge Feuchtigkeit machte sich in meinem Slip breit.
Herrgott noch mal!
Es war zu viel. Dieser Scherz war zu weit gegangen. Marcy, wenn du das da in meinem Kopf bist, dann verschwinde zum Teufel noch mal! Das ist nicht witzig! Ich werde mich grausam rächen!
Ich musste wohl vorübergehend den Verstand verloren haben, dass ich mich von einer imaginären Stimme so anturnen ließ. Ich straffte die Schultern und ging forsch weiter zu meiner Tür, die Schlüssel bereits in der Hand. Ich wusste nicht einmal, wie der Kerl aussah, ob er nun eine scharfe Stimme hatte oder nicht. Das war keine angemessene Reaktion. Sie war auf allzu vielen Ebenen falsch. Und Marcys dürrer Arsch gehörte mir!
Ich blieb vor der Tür stehen, und ein leises Knurren entschlüpfte meinem Zwerchfell, ohne dass ich irgendetwas getan hätte.
Hatte ich gerade geknurrt?
Ich knurrte erneut.
Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Warum um alles in der Welt tust du denn so was?, fragte ich meine Wölfin, obwohl ich die Antwort bereits kannte. Das war die Rache dafür, dass ich die Vorherrschaft behalten hatte.
Wenn du anfängst, Spielchen mit mir zu spielen, wie zum Teufel soll ich dir dann vertrauen? Bei unserer letzten Begegnung war mir, als würden wir noch in einem Boot sitzen. Wir teilen uns einen Geist und einen Körper, im Guten wie im Bösen. Wenn ich geil und unbefriedigt bin, dann bist du auch geil und unbefriedigt, kapiert? Ich grummelte. Wir müssen endlich klarstellen, dass wir auf derselben Seite stehen. Wenn wir das nicht hinkriegen, wird es uns zerreißen. Und weißt du was? Wenn wir es nicht schaffen, dann gebe ich allein dir die Schuld dafür. Hast du gehört?
Sie schnaubte mich an, als wäre ich eine Idiotin. Dann fütterte sie mich mit einem Bild, das sie zeigte, wie sie auf dem Rücken lag und über den Boden rutschte, als versuchte sie, einen Juckreiz zu lindern. Sie stand auf, tapste ein paarmal im Kreis herum und legte sich wieder hin, den Kopf auf den Vorderpfoten.
Dann schloss sie die Augen und mich aus.
Einfach so.
Sehr erwachsen, beschied ich ihr.
Keine Reaktion.
Ich schüttelte den Kopf und entriegelte meine Wohnungstür, stieß sie auf und inhalierte einen Geruch, der dort nicht hingehörte.
Werwolf.
Und schon war er über mir.
Er fiel mich von der linken Seite her an, wo er sich im Schatten der Tür versteckt gehalten hatte, und prallte mit der Gewalt einer Ramme gegen mich. Die Tür schlug mit Macht ins Schloss. Die Wucht der Bewegung brachte mich zu Fall. Der Angreifer und ich krachten auf den Boden und rutschten, so viel Wucht war im Spiel, noch ein ganzes Stück weiter. Ich lag unten, einen Hundert-Kilo-Werwolf auf der Brust, als sei er dort verankert.
Von keinerlei Mobiliar gehindert, krachten wir gemeinsam in die gegenüberliegende Wand hinein. Die untere Gipskartonplatte ging dabei zu Bruch. Ich steckte fest. Der Wolf hatte seine volle animalische Gestalt angenommen, und ich kämpfte darum, seine zuschnappenden Zähne von meinem Gesicht fernzuhalten. Meine Hände klammerten sich in das Fell an seinem Hals. Mit aller Kraft krallte ich mich dort fest, um meines lieben Lebens willen, während wir kreuz und quer über den Boden rollten.
»Runter von mir«, keuchte ich, als wir eine weitere Rolle machten. Meine Wölfin hatte die Ohren angelegt, Adrenalin und Kraft schossen durch meinen Körper, und ein bitterböses Knurren vibrierte in meiner Psyche. In der gleichen Psyche, mit der meine Wölfin gerade vor ein paar Sekunden noch Schabernack getrieben hatte.
Fauliger, ekliger Atem zog über mich hinweg, und die Augen des fremden Wolfs glommen in einem grimmigen, pulsierenden Gelb.
Ich nahm alles, was meine Wölfin mir gab, so schnell in mich auf, wie ich nur konnte. Ohne sie wäre ich längst tot. Die stete Infusion neuer Kraft verschaffte mir einen winzigen Vorteil. Meine Arme wurden mit jeder Sekunde härter und kräftiger. Es gelang mir, den Kiefer meines Angreifers um ein paar kostbare Zentimeter zurückzudrücken. Noch fester krallte ich die Fäuste in sein Fell, beinahe als würde ich mir die Hände in ein Geschirrtuch wickeln. Als ich meine Finger so tief in seinem Fell vergraben hatte, wie ich nur konnte, ließ ich ihn kommen.
Gerade weit genug.
Er stieß auf mich zu, schnappte bösartig nach meinem Gesicht. Seine Kiefer waren nur eine Haaresbreite davon entfernt, mir die Haut aufzureißen. Erst streckte ich die Arme durch, knickte dann blitzschnell in den Ellbogen ein und riss mit der so gewonnenen Hebelkraft gleichzeitig seinen Kopf zur Seite. Ein leises, aber höchst zufriedenstellendes Krachen folgte. Ein kurzes, wütendes Aufheulen, und der Werwolf rührte sich nicht mehr. Sein Kopf hing mit seinem ganzen Gewicht schwer in meinen Armen.
»Das hast du davon, dass du dich mit mir anlegst!«, keuchte ich, die Hände nach wie vor fest in seinem Fell vergraben. Adrenalin strömte unaufhörlich durch meinen Körper, ein Adrenalinstoß nach dem anderen. Es war köstlich, die Kraft schwindelerregend.
Ein Zucken, und der Kopf des Wolfes hob sich ruckartig von meiner Brust. Scheiße, dieser heilte offenbar schneller als andere! Ich hatte natürlich nicht ernsthaft angenommen, ich hätte ihn getötet – das wäre viel zu einfach gewesen –, aber bitte, nichts gegen süße Mädchenträume! Meine Finger krallten sich immer noch in sein Fell. Also konnte ich ihn von mir weghalten, als seine Zähne wenige Zentimeter vor meinem Gesicht knirschten. Er stieß ein tiefes, bösartiges Knurren aus, und von seinen Lefzen troff Speichel auf meine Brust.
Verdammt! Tief in meinem Herzen verspürte sich erstmals Furcht. Ich könnte verlieren. Dieser Wolf war zu stark für mich. So rasch, wie mir der Gedanke gekommen war, erhob sich in mir eine gewaltige Woge aus Kraft und Stärke und bedrängte mich so sehr, dass ich beinahe jeden Widerstand aufgegeben hätte.
Binnen eines Augenblicks pulsierten meine Finger, meine Nägel verwandelten sich in spitze Klauen. Die Eckzähne folgten, wuchsen in meinem Mund zu todbringenden messerscharfen Waffen heran. Meine Muskeln tanzten unter der Haut, zerrten an mir, veränderten sich. Fell spross in großer Menge an meinen Unterarmen.
Dieses Mal gab es keinen Schmerz. Stattdessen fühlte ich mich belebt, beschwingt, erfrischt.
Mein Angreifer hob die Nase in die Luft und schnüffelte, knurrte, als er die Energieverlagerung erkannte. Kalter Zorn glühte in seinen Augen.
Dieses Mal würde sich meine Wölfin den Kampf nicht nehmen lassen. Sie warf sich gegen die Barriere, die immer noch standhielt, obwohl sie bereits tiefe Risse hatte, jaulte und bellte. Nur zu. Ich glaube so oder so nicht, dass ich dieses Mal ohne dich gewinnen kann! Ich konzentrierte mich mit aller Macht darauf, die Mauer zwischen uns niederzureißen. Es war nicht leicht. Aber der schmale Spalt, den ich zuvor geschaffen hatte, brach unter meinen Anstrengungen weiter auf, und unsere Gemüter prallten aufeinander, als träfen sich die Geschosse zweier Katapulte. Wir wurden eins.
Genau in diesem Moment brach die Hölle los.
Ich bäumte mich auf, versenkte meine frisch gewachsenen Reißzähne seitlich in den Hals meines Angreifers und riss mit großer Genugtuung an seinem Fleisch. Er gab ein ersticktes Heulen von sich und versuchte, zurückzukrauchen, mir zu entkommen. Seine Halsschlagader verfehlte ich gerade um ein paar Zentimeter. Meine neuen Klauen hatten sich nun vollständig in seinen Nacken gegraben, und Blut floss in Strömen an meinen Armen herab; wir schwammen beide darin.
Wieder heulte der fremde Werwolf und versuchte, mich abzuschütteln.
Mit Macht schleuderte ich ihn von mir herunter und sprang auf. Energie strömte in süßem, unablässigem Strom durch meinen Leib und heftete sich an jedes Nervenende. Meine Wölfin hatte die Kontrolle über das Kampfgeschehen übernommen. Sie führte, aber ich war auch noch da. Es war anders als zuvor. Dieses Mal waren wir vereint, aber sie saß am Ruder.
Mein Angreifer ging vor mir auf und ab. Blut floss aus der Wunde an seinem Hals und troff auf meinen frisch gewischten Boden. Das Blut bildete dort dicke, dunkle Rinnsale.
Mein Gegner sprang mich ohne Vorwarnung an.
Ich aber war bereit.
Mein Körper katapultierte sich in die Luft, und wir prallten auf halbem Wege ineinander. Die einzige Möglichkeit, einen Wolf zu töten, bestand darin, seine Wirbelsäule vollständig zu durchtrennen. Lieferte das Gehirn keine Impulse mehr, war es aus. Bisher hatte ich ihm den Hals nur angeknackst. Aber zum Töten gab es zu diesem Zeitpunkt keine Alternative mehr. Denn wenn er auch nur für einen Moment die Oberhand gewänne, wäre ich tot.
Wir rangen miteinander, rollten erneut über den Boden. Meine Arme umfingen kraftvoll seinen Körper. Während wir kämpften, veränderte sich mein Körper weiter. Zweimal rotierten wir über den Boden, ehe wir gegen die Sperrholzplatte auf der Innenseite meiner Glastür prallten. Sie bebte kurz, krachte auf uns nieder und erschreckte meinen Angreifer.
Das war die Ablenkung, die ich gebraucht hatte. Als der Werwolf Kopf und Schultern hob, um die Holzplatte wegzustoßen, zog ich die Füße an. Ich trat in seine weiche Bauchdecke und schleuderte ihn und das Brett mit einer einzigen kraftvollen Bewegung von mir.
Meine Beine waren blutüberströmt, als ich für den nächsten Tritt Schwung holen wollte und sie anzog. Meine Klauen hatten sich durch die Laufschuhe gebohrt, den Bauch meines Angreifers aufgerissen. Ihm hingen halb die Eingeweide heraus.
Definitiv waren Klauen an den Füßen als neues Körpermerkmal erstklassig.
Einen Sekundenbruchteil bevor mein Angreifer in meinen Küchentresen krachte und ihn zerlegte, krachte die Sperrholzplatte dort auf.
Im nächsten Moment schon war der Werwolf wieder auf den Beinen. Genau wie ich.
Seine schmutzig gelben Augen zogen sich zusammen, und er schüttelte seinen Kopf. Die Verletzungen durch den Aufprall würden ihn ebenso wenig aufhalten wie die Bauchwunde. Aber nun war er mir gegenüber argwöhnischer geworden.
»Nicht ganz das, was du erwartet hast, was, du schmieriges Stück Scheiße?« Meine Stimme klang überraschend tief und rau. Sie hörte sich ganz anders an als sonst. Vor Überraschung schnellten meine Brauen nach oben. Ich blickte an mir herab.
Ich hatte mich teilweise verwandelt.
Dass das passieren würde, hatte ich gar nicht bedacht. Doch würde ich den Wandlungsvorgang nun abbrechen, wäre ich tot, ehe ich wieder zu mir käme, und Gelbauge da drüben würde kichernd zur Vordertür hinausspazieren.
Ich streckte die Arme aus und musterte sie, ohne meinen Gegner aus den Augen zu lassen. Der knurrte, rührte sich aber nicht vom Fleck.
Meine Klauen waren voll ausgebildet und höllisch scharf, und sie sahen bösartig aus. Von meinen Handrücken zog sich rauchgraues Fell über die ganzen Arme. Muskeln wölbten sich an Stellen, an denen ich niemals Muskeln erwartet hätte. Ich legte einen Finger an mein Kinn und tastete vorsichtig nach meiner Nase. Meine Schnauze hatte sich vorgewölbt, um Platz für die neuen, mächtigen Eckzähne zu schaffen. Aber der Wandlungsprozess war noch nicht abgeschlossen. Mein Haar hing offen und lang herab, unerfreulich lang. Irgendwann war es wohl aus seinem Knoten entkommen. Glücklicherweise hatte mein Angreifer keine Hände.
Ich streckte ein Bein vor. Ein Blick genügte: Dicke Muskeln dehnten meine Stretchhose bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten. Überall da, wo die Nähte aufplatzten, lugte graues Fell hervor.
Obwohl ich noch voll und ganz mit der Bestandsaufnahme beschäftigt war, konzentrierte sich meine Wölfin ausschließlich auf unseren Angreifer. Der Werwolf umkreiste uns langsam, schnüffelte und knurrte furchterregend. Er heilte in alarmierender Geschwindigkeit. Er war schwer verletzt. Aber dass ich meine Neugier gestillt hatte, hatte ihm zusätzlich Zeit geliefert, sich zu erholen. Ich konnte mir jetzt keinen Rückzieher mehr erlauben, und ich hatte keine Ahnung, ob mein Körper die Wandlung erzwingen würde. Mir blieb einfach keine andere Wahl, als weiterzukämpfen und zu hoffen, dass ich den Angreifer erledigen könnte, ehe er mich umbrachte.
»Hast wohl nicht gedacht, dass ich dir in den Arsch treten kann, was?«, grollte ich. »Das hättest du dir besser vorher überlegt. Na, komm schon, hol dir deine Packung ab!« Ich wartete nicht erst auf eine Reaktion seinerseits. Blitzschnell sprang ich ihn rücklings an, noch ehe er seine Überraschung überwinden konnte, und schlang den Arm um seinen Hals. Meine Absicht war klar, ihn zu töten. Er wehrte sich heftig. Ich aber hatte ihm schon den Ellbogen unter die Schnauze gestemmt und presste so seinen mächtigen Schädel gegen meine Schulter. Meinem Gegner blieb kein Bewegungsspielraum mehr.
In einer einzigen fließenden Bewegung warf ich mich zurück und in einer wohl kalkulierten Drehung herum. Dabei zerrte ich ihn mit, was ihn den Bodenkontakt verlieren ließ. Ich selbst behielt das Gleichgewicht, weil meine neuen Klauen sich in die Dielen bohrten und so Halt fanden. Meine eigene Kraft verblüffte mich. Ich konnte doch unmöglich so stark sein! Aber das Gewicht des Werwolfs zu stemmen, machte mir nicht das Geringste aus.
Mit dem Schwung und der darin verborgenen Kraft meiner Drehung brach ich meinem Gegner das Genick und schleuderte ihn geradewegs an die gemauerte Außenwand meiner Wohnung. Wie eine Abrissbirne krachte er in das Mauerwerk. Die Steinmauer hielt trotz des heftigen Aufpralls stand. Der Werwolf ging zu Boden.
»Und tschüss!«, knurrte ich. Gurgelte ich, um präzise zu sein. Meine Hand griff nach seinem Nacken, während ich mich immer noch über den Klang meiner Stimme wunderte.
Mein Kopf ruckte, eine Sekunde ehe meine Tür in einem Splitterregen eingetreten wurde, zu dem Geräusch herum.
James, der Stellvertreter meines Vaters, platzte zur Tür herein, und seine Augen glühten bernsteinfarben. »Was zum Teufel geht hier vor?« Er sprach mit schwerem Akzent, und seine Stimme hallte wie ein Schuss von den Wänden der möbellosen Wohnung wieder. Die Schallwellen ließen mich erbeben. Er war ein sehr starker Wolf, sogar in seiner menschlichen Gestalt.
Ich starrte ihn nur dümmlich an.
Dann drehte ich mich um und zeigte mit einem Klauenfinger auf das Etwas, das immer noch reglos auf dem Boden lag.
Mit drei Schritten hatte James den niedergerungenen Wolf erreicht, und er legte ihm auf der Suche nach Lebenszeichen eine Hand auf das Fell. »Der Hals ist gebrochen. Kein Puls.«
Erneut fuhr ich zur Tür herum, als mein Bruder hereingeschossen kam, direkt gefolgt von Nick und Danny.
Sozusagen mit kreischenden Bremsen und definitiv offenem Mund kam Tyler vor mir zum Stehen, die Augenbrauen bis zum Haaransatz hochgezogen. »Was zum …!«
Nick wäre beinahe gegen ihn geprallt, konnte sich aber noch abfangen. Auch er stierte mich an.
Danny blieb gleich links neben Tyler stehen und legte die Hand vor den Mund. Das tat er immer, wenn er sich wirklich bemühte, einen absolut vulgären Fluch zurückzuhalten.
Für ein paar Sekunden rührte sich niemand.
Dann ließ Danny die Hand sinken und murmelte wie vom Donner gerührt ein einziges Wort: »Lykaner!«
Ich hatte keine Ahnung, was los war. Noch immer schoss Adrenalin wie Wildwasser durch meine Adern. Dennoch kehrte mein Körper ganz allmählich in seinen Normalzustand zurück. Meine Zähne und Nägel schrumpften, die Muskeln wurden weicher. Als ich meine Stimme wiedergefunden hatte, klang sie wieder wie gewohnt: »Was ist los mit euch, Jungs?«, fragte ich. »Schließt die verdammte Tür, ehe die ganze Etage weiß, was hier vorgeht! Wir müssen hier aufräumen. Ja, ich habe die Wandlung nicht abgeschlossen, und? Ihr könnt mich später noch lange genug anstarren! Bewegen wir uns lieber, ehe die Cops eintreffen!«
Ich stellte Blickkontakt zu Nick her, der immer noch arg verwirrt aussah. »Geh raus in den Korridor! Es hat hier genug Geschrei und Krach gegeben, um Tote aufzuwecken. Du wirst deine Gabe schnell einsetzen müssen, ehe ein ganzer Haufen Leute vor meiner Tür zu zetern anfängt!«
Nick schüttelte sich kurz, machte auf dem Absatz kehrt und flitzte zurück auf den Korridor. Schon waren Stimmen zu hören. Vielleicht wussten die Leute ja noch nicht so recht, aus welcher Wohnung der Lärm gekommen war. Das allerdings käme einem Wunder gleich.
Mir war, als hätte der Kampf Stunden gedauert. Tatsächlich waren es allenfalls fünf Minuten gewesen. Wenn die Polizei nicht spätestens in den nächsten fünf Minuten auftauchte, hätten wir es endgültig mit einem Wunder zu tun.
Ich drehte mich zu Danny um. »Danny, falls es dir noch nicht aufgefallen ist, es gibt eine Sicherheitslücke. Dieser Kerl hätte auf keinen Fall zu mir durchdringen dürfen. Es sei denn, er hat Magie genutzt. Und jetzt geh zum Teufel noch mal raus, und hilf Nick, während wir hier die Spuren verwischen! Wenn die Cops auftauchen, sind wir geliefert. Wir werden Zeit brauchen, und wir müssen ihn …«, ich zeigte auf den toten Wolf, »… so schnell wie möglich hier rausschaffen!«
Dannys Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Wird gemacht. Ich gehe der Sache auf den Grund, und wer immer dafür verantwortlich ist, dass der Arsch hier reingekommen ist, wird teuer dafür bezahlen, glaub mir!« Er verschwand in Richtung Hausflur.
James hockte immer noch neben dem toten Wolf, der nun allmählich wieder seine menschliche Gestalt bekam. Wenn Wölfe sterben, kehrt ihre Menschlichkeit von selbst zurück, eine Art adaptiver Versicherungspolice.
Damit blieb als letzte andere Person im Raum nur noch Tyler.
Er starrte mich an. »Hör auf damit«, herrschte ich ihn an, »du machst mich ganz verrückt!«
Er trat einen Schritt näher. »Das ist nicht normal.« Furcht schwang in seiner Stimme mit. »Jess, das ist einfach nicht möglich!«
»Tyler.« Du treibst mich in den Wahnsinn!, sagte ich in seinem Kopf. Laut fuhr ich fort: »Ich habe ganz ehrlich keine Ahnung, wovon du eigentlich sprichst. Aber falls es dir nicht aufgefallen ist, wir stecken hier mitten in einer Krise.« Wütend zeigte ich auf den Kadaver und dann zum Korridor. Inzwischen waren von dort schon doppelt so viele Stimmen zu hören.
Tyler rührte sich immer noch nicht.
»Also schön«, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Gott sei Dank war mein Oberteil noch in einem Stück, auch wenn es diverse Risse davongetragen hatte. »Du willst mich als Missgeburt abstempeln, weil ich die Wandlung nicht vollständig vollzogen habe? Schön, bin ich eben eine Missgeburt! Aber ehrlich, ich bin dankbar, dass es mich nicht umgehauen hat, damit die Wandlung vonstattengehen kann. Denn dann wäre ich jetzt tot. Dann wären all deine schrecklichen Visionen von meinem Tod berechtigt gewesen, und mein blutiger, zerfetzter Leichnam würde dich für alle Zeiten in deinen Träumen heimsuchen. Oder denkst du ernsthaft, der Plüschbär da drüben hätte geduldig gewartet, bis ich meine Wandlung vollzogen habe? Ich hatte keine Zeit!«
»Jess, darum …«
»Schluss, Tyler!«, schrie ich ihn an. Für mich war das Gespräch vorbei. »Wir können später darüber reden. Wenn wir diese Leiche nicht raushaben, ehe Ray auftaucht, wird er uns sämtliche Polizisten der Stadt auf den Hals hetzen. Wenn der einen Toten in meiner Wohnung findet – dann lande ich im Knast. Punkt! Und wir können schließlich nicht einfach alle Polizisten umbringen!«
Tyler schüttelte sich sichtlich und ging zu dem Leichnam. Dort hockte er sich neben James und fragte: »Kennst du ihn?«
»Nein.« James atmete mit offenem Mund tief ein. Seine Nasenflügel bebten. »Sein Geruch ist mir völlig fremd. Also weiß ich sicher, dass ich ihm noch nie persönlich begegnet bin.«
Mein Handy klingelte.
Es lag in der Ecke auf dem Boden, dort, wo meine Handtasche während des Angriffs auf mir gelandet war. Ein Wunder, dass es noch funktionierte. Ich ging hinüber und nahm das Gespräch an, ohne auf die Nummer zu achten.
Wer dran war, wusste ich so oder so.
»Jessica!«, brüllte mein Vater ins Telefon. Ich hielt es meterweit von meinem Trommelfell weg. »Was zum Teufel ist los? Deine Wölfin hat sich jetzt schon das zweite Mal heute Abend mit meinem Wolf in Verbindung gesetzt, und wieder hast du mich ausgeschlossen, Gottverdammt noch mal! Ich kann dir nicht helfen, wenn du das machst!« Sein Zorn war spürbar und füllte den Raum mit einer sengend heißen, physisch wahrnehmbaren Woge aus Gefühlen, die mich wie Sperrfeuer auf endlos vielen Ebenen erwischten.
James’ Miene war undurchdringlich. Tyler wandte sich ab. Beide widmeten sich allein der Frage, wie sie den mysteriösen Angreifer aus meiner Wohnung schaffen könnten. Mich und das Telefonat, das ich führte, blendeten sie vollständig aus.
Ich zog mich in mein Schlafzimmer zurück. »Tut mir leid, Dad. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, was los ist. Ich wollte dich nicht ausschließen. Echt, ich mache das nicht mit Absicht. Ich spüre nicht, wenn du dich bei mir meldest. Hätte ich das, hätte ich sofort geantwortet.«
»Jessica, sag mir einfach, was bei dir los ist!«, verlangte Dad und bemühte sich mit aller Macht, sich zu beruhigen. »Ich versuche, dich zu beschützen, aber ich scheine die ganze Zeit am Ziel vorbeizuschießen! So etwas darf nicht sein. Ich fühle dich; ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Aber ich kann nicht erkennen, was los ist. Das ist zum Verrücktwerden!«
»Dad, mein Geheimnis ist aufgeflogen. Wir können nicht mehr unter dem Radar durchschlüpfen. Jemand weiß Bescheid. Irgendein mieser Scheißkerl hat auf mich gewartet, als ich nach Hause gekommen bin. Ich war zu sorglos, habe an alles Mögliche andere gedacht …« An was, darauf würde ich auf keinen Fall näher eingehen. »Ich habe einfach nicht aufgepasst. Ich habe keine Ahnung, wie der Typ reingekommen ist. Wahrscheinlich über den Balkon. Denn im Hausflur habe ich ihn nicht gewittert. Es war ein Fehler anzunehmen, ich könnte auch nur einen Tag lang unbemerkt bleiben.« Niedergeschlagen setzte ich mich aufs Bett.
»Ja, wir haben einen schweren Fehler gemacht«, sagte mein Vater. »Ich habe diesen Fehler gemacht, als ich dich nach Hause geschickt habe. Ich hätte auf meinen Instinkt hören sollen. Ich wusste, es bleibt ein Risiko, ganz egal, was wir tun. Aber ich hätte dich hierbehalten sollen, wo ich dich persönlich hätte beschützen können. Was für ein Traumtänzer ich war, mir einzubilden, die Wölfe würden Ruhe geben!«
»Das konntest du unmöglich wissen«, entgegnete ich. »Keiner von uns hat das vorhersehen können. Wir mussten es versuchen, und ich bedauere auch nicht, dass wir es getan haben. Ich habe mein Leben gemocht, und ich gebe es bestimmt nicht gern auf.«
Kurzes Schweigen. »Sag mir, was passiert ist!«, bat er dann. »Alles!«
Ich lieferte ihm einen vollständigen Bericht über die Geschehnisse des Abends. Ich fing mit dem Kobold an und hörte mit der Heimkehr in meine Wohnung auf, abzüglich der Sexkapade.
Als ich zu dem Punkt kam, an dem ich mich nur teilweise in meine Wolfsform verwandelt hatte, zögerte ich. »Dann habe ich meiner Wölfin die physische Kontrolle überlassen … Die Wandlung hat auch begonnen … aber … irgendwie habe ich mittendrin aufgehört … ähm … Tja, eigentlich weiß ich nicht so recht, was passiert ist …«
Dads Schweigen war so umfassend, es ängstigte mich zu Tode.
Ich wartete einige Herzschläge lang. »Dad?«
»Hast du diese Form lange beibehalten? Konntest du in dieser Form kämpfen?«
»Ja.«
»Ich bin gleich morgen früh bei dir. Heute Nacht werde ich den Rudelrat zusammenrufen. Der ganze Rat dürfte es bis acht Uhr morgens in die Stadt schaffen, wenn wir sofort abreisen. Jetzt, wo dein Geheimnis wirklich aufgeflogen zu sein scheint, müssen wir es mit dem ganzen Rudel teilen. Die Sache ist raus, und wir müssen damit zurechtkommen.«
»Dad!« Ich schrie es fast. »Raus damit, sag’s mir! Sag mir alles! Was ist los? Du musst! Danny hat etwas gesagt, nur ein Wort … Er hat mich ›Lykaner‹ genannt. Was hat er gemeint? Ich weiß, was ein Lykaner ist. Aber warum hat er mich so genannt?«
Lykaner waren unsere Vorfahren, die ursprünglichen Werwölfe. Aus ihrem Erbe hatten wir uns vor Tausenden von Jahren entwickelt. Wir waren inzwischen anders als sie. Aber ich wusste nicht genau, wie diese Andersartigkeit aussah und warum es zu dieser Entwicklung gekommen war.
»Jessica, wir reden morgen darüber«, sagte Dad streng.
»Ich will aber jetzt darüber reden!«
Im Laufe der Jahre, nach all den vielen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Tochter, die es nun einmal gibt, hatten wir beide einige wertvolle Lektionen gelernt. Wenn mein Vater nicht die Absicht hatte, mir etwas am Telefon zu erzählen, dann würde er einfach auflegen, und das war es dann. Ich würde seine Entscheidung akzeptieren oder sie ihm später vorwerfen und ihm damit das Leben unnötig schwer machen.
Ich wartete.
Er seufzte. »Jessica, ich kann noch nichts mit Sicherheit sagen. Dafür muss ich es mit eigenen Augen gesehen haben. Aber ich glaube, es bedeutet, dass du imstande bist, Dinge zu tun, die seit Tausenden von Jahren kein anderer Werwolf tun konnte. Über das, wozu unsere Vorfahren tatsächlich fähig waren, gibt es nur Mythen und Legenden.«
»Was meinst du damit?«
Wieder seufzte er. »In meinem ganzen Leben wurde niemals ein echter Lykaner gesichtet. Der Begriff ›Lykaner‹ impliziert, dass du in der Lage bist, eine Gestalt beizubehalten, die zwischen Bestie und Mensch rangiert. Du kannst dich so wandeln, wie du es willst, und dabei deine menschliche Gestalt beibehalten. So etwas kann kein anderer Wolf.« Er zögerte kurz. »Auch ich nicht.«
Meine Fresse!
»Das ist die ultimative Waffe und gilt in unseren Legenden als einmalig. In der alten Zeit haben die Lykaner über alle Übernatürlichen geherrscht. Niemand war stärker als sie. Über die Jahrhunderte haben wir uns im Zuge der Evolution den Menschen angepasst und einige dieser großartigen Fähigkeiten verloren.« Mein Vater hörte sich müde an, als er hinzufügte: »Bei uns gibt es ein altes Sprichwort. Es lautet: ›Der, der die Macht der Lykaner besitzt, wird alles beherrschen.‹«
Ich war so verblüfft, mir fehlten die Worte.
»Ich bin morgen früh bei dir. Vorher gehe ich in den geheimen Unterschlupf, um mich von Tyler auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Du bleibst in deiner Wohnung. Du gehst nicht raus. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Jessica, das ist ein offizieller Befehl!«
»Ich habe verstanden.«
»Gib James das Telefon!«
Ich tat, wie geheißen.