KAPITEL ACHT
Wie vorhergesagt brach nach nicht einmal zehn Minuten das Chaos am Tatort aus. Riesige Scheinwerfer tauchten jeden Quadratzentimeter unserer kleinen Rasenfläche in helles Licht. Es war so hell wie in einem Stadion beim Super Bowl. Überall wimmelte es nur so vor Reportern, Cops, Feuerwehrleuten, neugierigen Kinobesuchern und -mitarbeitern. Darüber hinaus war dann da noch eine doppelte Garnitur aufgebrachter Eltern.
Bei offenem Wagenschlag hielten Nick und ich sozusagen Hof in einem Streifenwagen. Gerade machten wir unsere Aussagen vor den zuständigen Polizisten. Erfreulicherweise war Ray noch nicht aufgetaucht. Aber es konnte kaum Zweifel daran bestehen, dass er sich bald genug materialisieren würde.
Ich hoffte, man würde mich vorher gehen lassen. Aber ich glaubte nicht daran.
»Okay, Ms. Hannon. Für den Moment haben wir alles, was wir brauchen. Jemand wird in Kürze Kontakt zu Ihnen aufnehmen. Mr. Jensens Zustand …«, die Polizistin deutete mit einem Nicken auf den Krankenwagen, »… wird, wie Sie sich denken können, Auswirkungen auf das weitere Verfahren haben.« Sie meinte, sollte es Drake gelingen zu überleben, würde von mir erwartet, als Zeugin vor Gericht auszusagen. Sollte er sterben, nun, dann würde es aller Wahrscheinlichkeit nach eine eingehende Untersuchung hinsichtlich der Umstände geben, die zu seinem Tod geführt hatten. Für mich war beides keine sonderlich erfreuliche Perspektive.
Ehe wir den Notruf gewählt hatten, hatte Nick beide Mädchen mental überzeugt, die Ereignisse in eine Geschichte zu verpacken, die leichter zu schlucken wäre als die Wahrheit. Die arme Jen sollte ihren »Vorher«-Teil überwiegend beibehalten. Der »Nachher«-Teil aber – dass sie gesehen hatte, wie ich ihren Angreifer mit bloßen Händen und einer atemberaubenden Geschwindigkeit beinahe umgebracht hatte – musste einfach ein bisschen frisiert werden. Nick war es sogar gelungen, sie mental aus ihrem schweren Schock herauszuholen, was eine schwere Aufgabe gewesen war. Schließlich hatte er sich auch mit der heulenden Becky befassen müssen.
Meine rechte Hand war dort, wo sie mit Drakes Kinn kollidiert war, binnen weniger Minuten verheilt. Damit war die Behauptung, das, was mit Drakes Gesicht passiert war, sei Folge eines Faustkampfes, vollends unplausibel.
Während Nick sich um die Mädchen kümmerte, ersann ich eine rasche Lösung für das Problem, die einen Stein passender Größe beinhaltete. Diesen drückte ich Drake ins Gesicht und beschmierte die Oberfläche mit einer ausreichenden Menge an Blut und Gewebe. Erfreulicherweise hatte sich Drake währenddessen nicht gerührt, obwohl er zu meiner Erleichterung nicht ganz tot war. Übernatürliche waren im Allgemeinen nicht leicht umzubringen. Aber das hieß nicht, dass er irgendwann in nächster Zeit wieder zu sich kommen würde. Er war, sogar für einen Übernatürlichen, recht schwer verletzt.
Die Geschichte, die ich der Polizei andrehte, besagte, dass ich mich mit dem hilfreichen Stein an den Unhold herangeschlichen und seinen Angriff auf das Mädchen unterbrochen hätte, ihn dabei jedoch schwerer getroffen hätte als beabsichtigt. Diese Geschichte deckte zwar nicht die übrigen Verletzungen ab, die Drake davongetragen hatte, aber es bestand schließlich immer noch eine Chance, dass er bis zum Eintreffen im Krankenhaus einige der Wunden bereits selbst geheilt hätte. Das wäre zweifellos hilfreich.
Ich sah der Polizistin über die Schulter, als Drake in den Krankenwagen geschoben wurde. In einem Menschengefängnis war er bereits gewesen. Aber ich hatte keine Ahnung, ob er je in einem Krankenhaus gewesen war. Koboldblut ist anders. Zumeist wird es als hämophil eingestuft.
Die Polizistin gab mir meinen Ausweis zurück. »Ich kenne die Vorgehensweise«, sagte ich. »Gibt es sonst noch etwas?«
»Können wir Sie morgen unter dieser Telefonnummer erreichen?« Sie las meine Mobilnummer vor.
»Ja.«
»Dann können Sie jetzt gehen.«
Nick sagte immer noch aus. Also wartete ich neben dem Wagen. Unsere Geschichte sollte standhalten, vorausgesetzt, Nicks Überzeugungskunst hielt ebenfalls stand und Jen kam nicht auf die Idee, ihre Aussage zu ändern und solche Dinge zu erzählen wie: »Die Frau mit den violett glühenden Augen hat ihn mit bloßen Fäusten totgeprügelt.«
Bedauerlicherweise würde die sommerlich gekleidete Jen ihr ganzes Leben lang Träume haben, in denen ein Teil der Wahrheit eine Rolle spielen würde. Das Unbewusste ist machtvoll, und dies war ein extrem traumatisches Erlebnis für sie gewesen. Zu unserem – und ihrem – Glück wusste Nick seine Gabe so gut zu nutzen wie kaum ein anderer. Es gab nur wenige Menschen, die seinen Bemühungen standgehalten hatten. Leider war einer von ihnen der Kerl, der jetzt direkt auf mich zukam.
Verflucht, Mann!
Wie sehr Nick es auch versucht hatte, Raymond Harts Bewusstsein war der Überzeugungskunst nie erlegen. Die Änderungen in seiner Denkweise hatten allerhöchstens eine Stunde vorgehalten. Und er hatte danach jedes Mal mehrere Tage verrücktgespielt. Er hatte keine Ahnung, was ihm widerfahren war. Er wusste nur, dass etwas passiert war, und das lastete er stets mir an. Deshalb wurde seine Wut auf mich mit jedem Mal heftiger. Es war aussichtslos. Also hatten wir aufgehört, es zu versuchen.
»Ray, was für eine nette Überraschung, dich hier zu sehen!«, begrüßte ich ihn. »Ich nehme an, du bist den ganzen Weg hierhergeeilt, an einen Ort, der nicht einmal in der Nähe deines Zuständigkeitsbereichs liegt, nur um dich zu vergewissern, dass mir bei diesem scheußlichen Zusammenstoß mit einem Vergewaltiger nichts passiert ist! Danke, dass du dich so um mich sorgst, großer Junge!« Ich tat, als wollte ich ihm den Arm tätscheln.
»Hör mit dem Mist auf, Hannon! Diese Geschichte trägt eindeutig deinen Namen«, sagte er.
»Ja, den trägt sie wohl, was?« Ich lächelte. »Schätze, es ergibt einen Sinn, wenn mein Name damit in Verbindung steht, immerhin habe ich diesen Fiesling vor ein paar Minuten ausgeschaltet. Wäre ein anderer Name damit verbunden, wäre das ja ein echtes Dilemma.«
»Mich führst du nicht für eine Minute hinters Licht! Du ziehst Zerstörung an wie ein Magnet Metall. Mir ist egal, welche Geschichte du dir über die Geschehnisse des heutigen Abends zurechtgelegt ist. Oder wie du so genau wissen konntest, wann hier eine versuchte Vergewaltigung einer Jugendlichen stattfinden würde. Oder warum das halbe Gesicht des Mannes nach innen gedrückt hat.« Ray trat einen Schritt näher und damit in meine Distanzzone. Für einen Nichtwerwolf verstand er sich recht gut auf Einschüchterung. Es haute mich nicht gerade aus meinen Stiefeln. Aber immerhin zuckten meine Augenlider. Allerdings zeigte meine Wölfin nicht das geringste Interesse, was mir nur recht sein konnte. Komplikationen dieser Art konnte ich derzeit nicht gebrauchen. Aber wenn Ray weiter auf mich eindrang, dann, daran bestand kein Zweifel, würde meine Wölfin irgendwann an dem Spaß teilhaben wollen. »Ich weiß«, meinte er heiser. »Ich weiß, dass du mehr damit zu tun hast, als du zugibst. Ich spüre es bis in die Knochen. Und wenn ich herausfinde, was dahintersteckt, dann werde ich deinen Arsch ins Gefängnis verfrachten, darauf kannst du dich verlassen! Und sobald ich das getan habe, werde ich singen und jubilieren. Du bist fällig, Hannon, und es gibt nichts, was du dagegen tun könntest!«
Ray machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte von dannen. Seine Haltung hob noch einmal hervor, dass er jedes einzelne Wort ernst gemeint hatte. Ich wusste, er würde seine Nase in die Ermittlungen im Fall Drake stecken. Außerdem hatte ich das ungute Gefühl, dass unsere Story nicht durchgehen würde, wenn er nur laut genug Krach schlüge. Gezwungen, eine Einschätzung hinsichtlich der möglichen Mordwaffe abzuliefern, würde man in der Gerichtsmedizin wissen, dass etwas nicht stimmte. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden die Ergebnisse nicht zu meinen Gunsten ausfallen.
Wenn Drake überlebte, wäre mein Leben viel einfacher.
Ich gähnte. Ich brauchte etwas Schlaf. »Verschwinden wir von hier! Ich bin erledigt«, sagte ich zu Nick, der gerade mit seiner Aussage fertig war und aus dem Wagen stieg.
»›Erledigt‹ ist milde ausgedrückt. Was für eine scheißverrückte Nacht«, meinte Nick. Es war erst halb elf, fühlte sich aber an wie drei Uhr morgens.
Wir gingen über den Parkplatz, und ich ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Nick glitt hinter das Steuer. Ohne nachzudenken, schnappte ich mir die Tüte mit dem Gebäck, fischte das letzte Stück heraus und nahm einen Bissen, während Nick ausparkte.
Nick schwieg eine Weile, ehe er mich endlich ansprach. »Jess, nun, da du eine reinrassige Werwölfin bist, ist alles anders. Das hast du doch begriffen, oder? Besonders wenn es um so eine ernste Bedrohung wie Ray Hart geht. Früher war er nur einigermaßen lästig. Aber nun wird das Rudel ihn als direkte Bedrohung einstufen. Du musst beschützt werden, koste es, was es wolle, ob dir das nun gefällt oder nicht.« Nick behielt die ganze Zeit die Straße im Auge. »Das ist das Rudelgesetz. Wir alle befolgen es. Wenn es auch nur eine kleine Chance gibt, dass Ray herausfindet, wer du bist, oder wenn er dir zu nahe rückt oder dich physisch bedroht …«
»Du meinst wohl: Ein paar werden mich beschützen, koste es, was es wolle«, unterbrach ich ihn. »Ich habe das unbestimmte Gefühl, die Rudelgesetze treffen für mich nur eingeschränkt zu. Bisher hat es noch nie eine Wölfin im Rudel gegeben. Die Wölfe sind jetzt schon in Aufruhr. Dabei vermuten sie bisher nur, dass ich mich gewandelt haben könnte. Ich kann dir so einige Wölfe beim Namen nennen, die entzückt wären, wenn Ray ihnen die Arbeit abnähme. Dann müssten sie sich nämlich nicht die Finger schmutzig machen.«
Nick gab ein leises Psst! von sich. »Bitte. Meinst du wirklich, dein Vater würde zulassen, dass Ray Hart – oder sonst jemand – dich direkt bedroht? Du bist seine Tochter, um Himmels willen! Jeder, der dumm genug ist, dich in irgendeiner Weise anzugreifen, wird dafür einen hohen Preis bezahlen – beispielsweise den, sein Leben zu verlieren. Wölfe werden dieses Risiko nicht einfach so eingehen, ganz gleich, wie sehr sie dabei murren. Einen Krieg gegen das Rudel zu führen, ist keine Kleinigkeit. Einige der Wölfe mögen im Moment sauer sein. Aber vor die Wahl gestellt, werden sie sich nicht gegen Callum McClain stellen! Dein Dad ist der stärkste Alpha auf der Welt. Sie werden sich beruhigen und dich akzeptieren … irgendwann. Sie müssen. Ray hat keine Chance, wenn er so weitermacht.«
Nick hatte recht. Ray hatte sich selbst in ein Spiel katapultiert, das er nicht gewinnen konnte. Obwohl ich ihn aus tausend Gründen nicht ausstehen konnte, wollte ich doch nicht den Anstoß zu seinem Tod liefern. Ich war vor all diesen Jahren nicht nur zur Polizei gegangen, weil ich gut darin war, sondern weil ich wirklich an Gerechtigkeit glaubte. An das Recht, zu leben und frei zu sein. Ohne diesen Glauben hätte ich nicht weiterzuexistieren gewusst.
Leider hielten die Wölfe wenig von dieser Sichtweise. Tatsächlich gab es dergleichen für sie nicht. Sie führten keine philosophische Debatte über Menschen. Für sie war die ganze Sache von jeher eindeutig gewesen: Menschen waren notwendig, aber nicht ebenbürtig. Ende der Geschichte.
Aber ich hatte bis jetzt als Mensch gelebt, und dass einer von ihnen getötet wurde, nur um ihn zum Schweigen zu bringen, würde ich nicht zulassen. Nicht wenn ich etwas dazu zu sagen hätte. Wenn es so weit war und es schließlich wirklich auf mich ankäme, würde ich einen Ausweg finden. Es musste einfach einen Ausweg geben.
»Tja«, sagte ich, »wir werden wohl dafür sorgen müssen, dass Raymond Hart nicht weiter herumwühlt. Wir müssen dafür sorgen, dass er andere Spuren verfolgt, Spuren, die wir für ihn auslegen werden.« Ich schloss die Augen, physisch und, soweit es das Thema betraf, auch metaphorisch. Meine Augen brannten, und ich brauchte Schlaf. Erschöpfung durfte ich fraglos ebenfalls auf meiner Liste der Neugeborenen-Eigenschaften vermerken. Mein Körper war immer noch damit beschäftigt, sich an die veränderten Gegebenheiten anzupassen. Das würde eine Weile dauern, und ich hatte vor, diese Zeit zusammengerollt im Bett zu verbringen.
Die Heimfahrt dauerte fünfzehn Minuten, lang genug, dass ich tief und fest schlief. Nick steuerte den Wagen auf meinen Parkplatz und schaltete den Motor ab.
Ich öffnete die Augen und gähnte. »Danke fürs Fahren. Aber jetzt musst du zu Fuß …« Ein Schrei stach in mein Bewusstsein. Ruckartig beugte ich mich vor und hielt mich am Armaturenbrett fest. Meine Finger bohrten sich in den Kunststoff hinein. Scheiße, diese Nacht wurde immer besser und besser!
WO ZUM TEUFEL BIST DU? Jessica! Jessica! Kannst du mich hören? Jessica …
Tyler, ich bin hier! Du kannst jetzt aufhören zu brüllen. Ich riss die Finger einen nach dem anderen aus dem Armaturenbrett. Plastikformartikel lassen sich im Allgemeinen nicht gleichmäßig punktieren. Folglich hinterließen meine Finger ein ungleichmäßiges Lochmuster in dem Material. Was ist los? Stimmt was nicht?
Nick schaute mich an, eine Augenbraue ein wenig hochgezogen. Ich hob den freien Zeigefinger und tippte an meine Stirn.
Er lächelte mitfühlend.
Was los ist?!, grollte Tyler. Was ist wohl los, wenn ich eine ganze verdammte Stunde vergeblich versuche, in deinen Kopf zu kommen! Du nennst irgendeinen Kerl ein Arschloch, und gleich darauf fühle ich nur noch diesen bösen, pulsierenden Zorn und dann gar nichts mehr. Nur Leere. Du hast mich abgeblockt. Wie zum Teufel hast du das gemacht?
Die Worte meines Dads hallten durch meinen Kopf. Ich hätte Tyler jederzeit mein Leben anvertraut. Er war mein Bruder. Aber das Letzte, was ich wollte, war, ihn in Gefahr zu bringen. Vorsicht war neuerdings mein bester Freund. Je weniger irgendein Wolf zu diesem Zeitpunkt wusste, desto besser, und das schloss auch Tyler mit ein. Ich wählte meine Worte sorgfältig, wohl wissend, dass er imstande war, eine Lüge zu erahnen, wenn ich nicht an das glaubte, was ich ihm erzählte. Ich habe keine Ahnung, Ty. Dich abzublocken war, soweit es mich betrifft, keine bewusste Handlung. So viel kann ich dir versichern. Ich muss dich versehentlich ausgeschlossen haben, als der Kampf begonnen hat.
Was für ein gottverdammter Kampf? Seine Ungeduld war mehr als deutlich.
Ich habe mit dem Kobold gekämpft, den wir heute Abend überwacht haben, als er eine Jugendliche überfallen hat. Wie sich herausgestellt hat, habe ich mir damit eine Menge Ärger eingehandelt, aber ich habe gewonnen.
Wie zum Teufel soll ich dich beschützen, wenn ich dich nicht einmal finden kann!, brüllte Tyler. Ich legte einen Finger an die Schläfe und drückte dagegen. Aus dem Inneren meines Schädels angebrüllt zu werden, war ein Scheißschmerz. Nick sollte heute Abend bei dir sein! Wo zum Henker war Nick?
Er war bei mir. Es war meine Entscheidung, den Kobold zu verfolgen. Nick hatte damit nichts zu tun.
Die Gefühle meines Bruders kochten hoch, als Bilder meines Todes durch sein Unbewusstes trieben und mich zutiefst erschreckten. Hör auf damit! Ich kann sehen, was du denkst!
Jess, ich dachte, du wärest tot, heute Abend umgebracht. Seine Stimme klang nun wieder wie ein Flüstern.
Mein Herz tat einen Satz. Tyler, ehrlich, es tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst machen. Ich habe das wirklich nicht absichtlich getan. Wenn ich dich gehört hätte, dann hätte ich geantwortet. Ehrenwort. Und selbst, wenn es nur gewesen wäre, um dir zu sagen, du sollst dich zum Teufel noch mal aus meinem Kopf scheren, damit ich mich auf den Kampf konzentrieren kann. Die nächsten Gedanken formulierte ich mit größter Vorsicht. Ich glaube, wir müssen wirklich davon ausgehen, dass ein weiblicher Wolf eine unbekannte Größe ist – genau wie wir beide es vorhin schon vermutet haben. Mein Verstand arbeitet vielleicht anders als deiner. Ich habe keine Ahnung, was mit mir geschieht. Oder was in Zukunft noch geschehen wird. Keiner von uns weiß das. Ich atmete einmal tief durch. Ich habe das Gefühl, wir steuern auf ein Riesendurcheinander zu, genau wie alle es immer schon befürchtet haben. Ich schlage vor, wir hören auf, die Augen vor der Realität zu verschließen. Wir müssen uns ihr stellen.
Schöner Mist. Der alte Tyler war wieder da.
Ganz meine Meinung. Aber für den Augenblick werde ich gar nicht versuchen, alles in Ordnung zu bringen oder es auch nur zu verstehen, sondern darüber schlafen. Und wo ich gerade dabei bin: Ich hoffe, ich kann die blutigen Bilder meines grausigen Todes, die mir dein Gehirn freundlicherweise übermittelt hat, aus meinem Bewusstsein tilgen. Ich gähnte.
James und Danny versuchen immer noch, dich aufzuspüren. Ich werde sie anrufen und ihnen sagen, dass du in Sicherheit bist.
Danke, das weiß ich zu schätzen. Ich weiß, du hast mir nicht mehr den Rücken freihalten müssen, seit ich das Habitat verlassen habe. Aber es fühlt sich gut an, dich wieder um mich zu haben.
Dafür bin ich ja da, Schwesterlein. Aber tu mir den einen Gefallen, und bring dich heute Nacht nicht wieder in Schwierigkeiten!
Das habe ich nicht vor, verlass dich drauf! So viel kann ich dir versprechen. Ich werde einfach reingehen und mir ein bisschen dringend benötigten Schlaf gönnen.
Ich spürte, wie etwas meine Sinne streifte. Dann war Tyler fort.
Ich legte den Kopf gegen die Kopfstütze und blickte Nick an, der geduldig gewartet hatte, dass ich mein Gespräch beendete. Nun musterte er mich mit einem besorgten Stirnrunzeln. In seinen Augen erkannte ich einen fragenden Ausdruck, der kurz zuvor noch nicht da gewesen war. »Oh, nein«, sagte ich, »heute Abend nimmst du mich dir nicht mehr vor! Bitte sag einfach gar nichts! Ich will es nicht hören.« Ich blickte hinauf zum Wagenhimmel. Dann schloss ich die Augen. »Bitte, Nick. Ich glaube nicht, dass ich heute noch mehr vertragen kann.«
»Äh …«, setzte er an. »Es ist nur …«
Ich winkte ab. »Ich meine es ernst, Nick.« Meine Augen waren immer noch geschlossen. »Ganz ehrlich, diese Wolfsgeschichte macht mich fertig. Ich habe das den ganzen Tag unter Verschluss gehalten, damit ich mich konzentrieren und so tun konnte, als wäre alles wie immer. Ich kann es nicht brauchen, dass du zusammen mit mir durchdrehst. Du bist mein Fels in der Brandung. Du bist mein bester Freund. Genau das brauche ich jetzt. Aber ich brauche niemanden, der mich einem Verhör unterzieht. Ich habe so oder so keine Ahnung, was eigentlich los ist. Ich habe einfach keine Antworten zu bieten. Also lass uns dieses Frage-und-Antwort-Spiel auf Eis legen, bis ich mehr weiß!«
Nick griff nach meiner Hand. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich Nicks Geruch schon seit einer Weile sehr deutlich wahrnahm. Er roch wie eine Mischung aus Zedernholz und Regen. Das passte hervorragend zu ihm. Und, noch ein Vorzug, es beruhigte mich und vermittelte mir ein Gefühl der Unbeschwertheit. Ich schätze, das hatte es schon immer. Ich hatte es nur nie bewusst wahrgenommen.
»Jess, ich werde immer für dich da sein, ganz egal, was ist«, sagte er. »Ich bin dir mit meinem Leben verpflichtet, dir und dem Rudel, und das schon seit langer Zeit. Aber dazu kommt, dass ich dich wirklich lieb habe. Du bist meine Schwester und meine beste Freundin. Ich würde jederzeit mit jedem auf Leben und Tod kämpfen, der dich bedroht. Na ja, vielleicht nicht mit Drake, mit dem musstest du selbst fertigwerden. Aber ehrlich, es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde.«
»Ich weiß, Nick. Ich habe dich auch sehr lieb.« Ich lächelte ihn an. »Ich verspreche dir, dass wir uns bald unterhalten können. Aber ich brauche etwas Zeit, um das alles zu verarbeiten. Das ist so viel auf einmal, und es ist ja auch eine so tief greifende Veränderung meines ganzen Lebens. Ich muss das erst selbst verstehen, ehe ich bereit bin, es zu analysieren und auf den Tisch zu packen. Hab Geduld, das ist alles, worum ich dich bitte!«
»Schon verstanden.« Er ließ meine Hand los. »Aber im Ernst, können wir vielleicht eine Minute über die Augen sprechen?«
Ich lachte. An Nick gab es nichts, was ich nicht gemocht hätte. »Nein.« Ich streckte die Arme vor dem Körper aus und versuchte aufzustehen. »Keine Augen, keine Kraft, kein seltsamer Wutgeruch, kein gar nichts. Das steht im Moment alles nicht auf meinem Laufzettel.«
Nick musterte mich. Er versuchte wohl, meine Stimmung einzuschätzen, und fragte sich, ob er mich vielleicht noch ein bisschen mehr bedrängen sollte. Stattdessen verlagerte er sein Gewicht auf dem Sitz, beugte sich rüber und drückte mir einen zarten Kuss auf die Stirn. »Soll ich dich noch reinbringen?«
»Nein. Ich bin heute Danny begegnet. Die passen auf mich auf. Geh nach Hause! Wir sehen uns morgen.«
»Alles klar. Ich werde wohl noch ein bisschen laufen.« Nick glitt aus dem Wagen. »Eine nette Laufrunde würde mir jetzt guttun. Baut den Stress ab. Versuch morgen, vor Mittag reinzukommen, ja?«
Ich lachte. »Der Wecker wird gestellt. Keine Nachlässigkeiten mehr.«
Er schloss die Tür, und ich sah ihm nach, als er über den Parkplatz lief. Sein schlanker Körper bewegte sich mit all der Eleganz des Wandlers, der er nun einmal war.
Ich sackte in meinem Sitz zusammen und dachte über all das nach, was heute Abend passiert war. Mein Gehirn rotierte immer noch, und ich wünschte, ich könnte das alles vergessen. Einen Alpha zu blockieren war unmöglich. Das war ein eindeutiger Beweis dafür, dass etwas nicht stimmte. Ich war nun offiziell ein Problem, das mein Vater nicht unter Kontrolle hatte. Sollte das bekannt werden, würde das Rudel mich nie akzeptieren. Der Alpha hatte seinen Rang aus gutem Grund: Er stand ganz oben und hatte alle anderen unter seiner Kontrolle. Wenn ich in diese Hierarchie nicht hineinpasste, würden sie mich fertigmachen. Wölfe brauchten feste Strukturen, und sie hassten Veränderungen. Sie fürchteten das Unbekannte, und sie verabscheuten alles, was sie sich nicht erklären konnten.
Und ich war die Verkörperung all dieser Dinge auf einmal.
Ich saß ja so was von in der Scheiße!