KAPITEL DREI

Nachdem ich mehr Nahrung auf einmal hinuntergeschlungen hatte als je zuvor in meinem Leben, ließ man mich eine Reihe von Tests durchlaufen. Dabei wurde alles an Gewebeproben genommen, von dem ich mich trennen konnte. »Ich sage doch, es geht mir gut. Das da ist völlig unnötig.« Ich thronte auf der Bettkante und schwang die nutzlosen Krücken. »Meine Beine fühlen sich großartig an.«

Dr. Jace stand neben mir und begutachtete jede meiner Bewegungen.

»Schauen Sie!« Ich beugte mein Bein und streckte es wieder. »Sehen Sie, es funktioniert bestens! Keine Schmerzen.« Ich hatte mir inzwischen eine alte Pyjamahose und ein uraltes Radiohead-T-Shirt angezogen, das sich noch aus meinem alten Zimmer im Haupthaus hatte hervorwühlen lassen. Als das Hosenbein der Pyjamahose hochrutschte, erhaschte ich einen Blick auf das dichte dunkle Haar, das mein einst säuberlich rasiertes Bein bedeckte, und mich überfiel ein Würgereiz. »Und, äh, na ja, abgesehen von all diesen ekelhaften Haaren, geht es mir absolut gut.« Kein Geld der Welt könnte mich dazu bringen, einen Blick in meine Achselhöhlen zu werfen. Fest schloss ich die Augen. Wie es schien, kehrte nach einer vollständigen Wandlung die Körperbehaarung zurück. Jedes einzelne Haar.

»Vorerst wirst du sie benutzen.« Mit einer Kopfbewegung deutete Doc auf die Krücken. »Wenn es dir später besser geht, können wir erneut darüber verhandeln.«

Ein Kopfsalat wäre leichter zu überzeugen gewesen. Also nahm ich die verdammten Dinger und schob sie mir unter die Arme, als ich vom Bett aufstand.

Der Weg von der Krankenstube zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, führte ein kurzes Stück weit über einen säuberlich manikürten Rasen. Dieses Jahr war der Frühling außergewöhnlich regnerisch, und das Gras zeigte sich in einem überraschend leuchtenden Grün. Außer mir hielt sich niemand draußen auf, vermutlich auf Anweisung meines Vaters.

Die Lodge, wie das Haus liebevoll genannt wurde, war in den späten Dreißigern erbaut worden und hatte seither als Heimatbasis für die Northern Territories gedient. Die ausgetretenen Zedernholzdielen wiederzusehen, hob in dem Augenblick, als ich die Lodge betrat, meine Stimmung. Doc war mir vorausgegangen. Jetzt fragte er: »Jessica, willst du vielleicht noch einen Kaffee? Oder einen Tee?«

»Kaffee wäre toll, danke.« Doc bog in Richtung Küche ab, und ich ging weiter in den gewaltigen, zweigeschossigen Wohnbereich. Der Kamin, gemauert aus Steinen, die aus dem See stammten, nahm die ganze Ostwand ein.

Es war ein schöner Anblick, aber nicht so schön wie das, was mich an Anblick davor erwartete.

»Nick!« Ohne einen Gedanken an Doc zu vergeuden, ließ ich die Krücken fallen und hüpfte Nick direkt in die Arme. »Ich bin so froh, dass du hier bist!«

»Immer mit der Ruhe, Jess!« Nick umfing mich mit einer mächtigen Umarmung, ehe er zurücktrat und mich prüfend beäugte. »Hmm, du siehst tatsächlich recht gut aus. Kein übrig gebliebenes Fell und keine flaumigen Ohren zu sehen. Aber wie geht es dem Bein?«

»Alles verheilt.« Ich schob den Hosenbund ein Stück weit herunter und zeigte Nick den oberen Teil meiner Hüfte. Das Einzige, was von der Wunde noch zu sehen war, war eine leicht rötliche Verfärbung. »Siehst du? Ziemlich cool, was?«

»Oh ja, ziemlich beeindruckend!«

Ich zog Nick mit mir mit und hinüber auf die Couch. Abgesehen davon, dass Nick mein bester Freund war, war er auch ein Werfuchs, kein Wolf. In der Welt der Wandler entsprechen Kraft und Größe der Menschengestalt dem jeweiligen Tier. Also war Nick kein sonderlich großer Kerl, nur ungefähr eins zweiundachtzig. Sein Vater war First Nations Kanadier gewesen, seine Mutter eine Weiße. Nicks Haut hatte daher einen leichten Kupferton; sein dunkles Haar war dicht und zottelig. Nick zu sehen, tat nach all dem Wahnsinn einfach nur gut.

»Ich bin sehr froh, dass du gleich gekommen bist«, gestand ich ihm. Nick besaß die Fähigkeit, mich auf eine Weise zu beruhigen, wie es niemand sonst konnte. So war das schon seit unserer Kindheit. »Diese ganze Geschichte war ein bisschen verrückt. Ich kann kaum glauben, dass das alles wirklich passiert ist.«

»Tja, ich bin nur froh, dass du die Wandlung in einem Stück überstanden hast.« Nicks Augen waren von Natur aus von einem beeindruckend dunklen Gold. Nun blitzten sie für einen Augenblick auf, offenbarten seine Gefühle und wirkten noch strahlender. »Du hättest dabei draufgehen können.«

Ehe ich antworten konnte, marschierten mein Vater und James Graham, sein Stellvertreter, herein. James trug das übliche schwarze T-Shirt und eine Tarnhose, eben die Uniform, in der ich ihn mein ganzes Leben lang gesehen hatte. Das Ensemble passte perfekt zu seinem kurz geschorenen dunklen Haar und der olivfarbenen Haut. Es verlieh seiner hoch gewachsenen Gestalt eine Aura von Gefahr und Stärke. James war ein beeindruckend großer Wolf mit gewaltigen Schultern. Er wäre in jedem Outfit aufgefallen. Ich freute mich, feststellen zu können, dass er sich nicht im Mindesten verändert hatte.

Mein Vater begrüßte Nick mit einem kurzen Nicken. »Nicolas.«

»Guten Tag, Sir«, erwiderte Nick den knappen Gruß und sprang hastig auf.

»Wie geht es dem Bein, Jessica?«, fragte mich mein Vater, als ich mich ebenfalls erhob.

»Alles verheilt.«

Ein paar Sekunden musterte er mich von Kopf bis Fuß, dann nickte er knapp.

James kam auf mich zu. »Schön, dich zu sehen, Jessica«, sagte er, umfasste meine Taille und umarmte mich freundschaftlich. Sein auffälliger irischer Akzent wirkte nach all der Zeit immer noch in seiner launigen Art ansteckend. »Ich bin froh, dass du wohlauf bist.«

Ich erwiderte die Umarmung. »Es ist viel zu viel Zeit vergangen, James.« Ich strahlte ihn an, als er sich von mir löste. »Viel zu viel!« Bei meinem endgültigen Abschied vom Habitat hatte James eine entscheidende Rolle gespielt, und ich freute mich wirklich, ihn zu sehen. Ohne seine Hilfe hätte ich vielleicht nie den Absprung geschafft. Seitdem gab es ein starkes Band der Freundschaft zwischen uns, das vorher überhaupt nicht existiert hatte.

»Gehen wir in mein Büro.« Ohne auf uns zu warten, hielt mein Vater auf einen Durchgang auf der anderen Seite des Wohnbereichs zu und verschwand in dem dahinterliegenden Raum.

Wir anderen folgten ihm. Als wir eintraten, stellte mein Vater zwei Stühle in schiefem Winkel vor das Ledersofa, das den Fenstern gegenüber stand. Sein Büro hatte ursprünglich als Bibliothek gedient. Noch immer säumten mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Bücherschränke die Wände. Außerdem bot es einen herrlichen ungehinderten Blick auf den See.

»Jessica, setz dich bitte auf das Sofa! Nicolas, du setzt dich neben sie!«

Wir gehorchten unverzüglich.

James musste nicht erst gebeten werden, sich auf den Stuhl neben meinem Vater zu setzen. Dort beugte er sich vor, die Arme auf die Oberschenkel gestützt, bereit, sich ins Gespräch zu stürzen.

Mein Vater saß aufrecht da, eine imposante Erscheinung – wie immer. Er war etwas kleiner als James, dafür aber breitschultriger und noch kräftiger gebaut. Seine muskulösen Arme drohten, die hochgekrempelten Ärmel des Anzughemds zu sprengen. Wie stets war er dem Anlass gemäß gekleidet. Ich hatte nie erlebt, dass er zu einer Besprechung von Gewicht in Jeans und T-Shirt erschienen wäre. Mein Vater war ein Anführer, das war unverkennbar.

»Nicolas«, kam er sofort zur Sache, »ich möchte, dass du nach dieser Besprechung herausfindest, welche Gerüchte in Bezug auf Jessica oder eine kürzlich erfolgte erste Wandlung in der Gemeinde zirkulieren. Finde heraus, ob außerhalb des Habitats etwas durchgesickert ist! Sollte dir etwas Außergewöhnliches auffallen, will ich unverzüglich darüber informiert werden. Das«, fuhr mein Vater fort, »ist unsere oberste Priorität. Für den Augenblick beschränken wir uns darauf, noch einmal die Geschehnisse am frühen Samstagmorgen durchzugehen, als du in Jessicas Wohnung eingetroffen bist. Ja, richtig, du hast mich bereits informiert. Aber ich möchte es noch einmal hören, ganz von Anfang an, mit allen Details.« Er nickte mir zu. »Und ich bin überzeugt, auch Jessica würde gern erfahren, was in ihrer Abwesenheit vorgefallen ist.«

»Ja, Sir.« Nick wandte sich mir zu.

»Besser, das wird interessant!«, scherzte ich in der Hoffnung, Nick etwas von seiner Anspannung zu nehmen. Die nämlich stach mir in die Nase wie der Geruch nach verbranntem Toast.

»Tyler hat mich in der Nacht deiner Wandlung gegen zwei Uhr dreißig angerufen«, berichtete Nick. »Er hat sich Sorgen gemacht und befürchtet, dass du in Schwierigkeiten steckst. Ich bin sofort in meinen Wagen gesprungen. Dann habe ich Marcy angerufen und ihr gesagt, dass wir uns bei dir treffen. Ich wusste, wenn es da irgendeinen Tumult gegeben haben sollte, hätten deine Nachbarn wahrscheinlich bereits die Polizei alarmiert. Marcy dabeizuhaben, würde einiges leichter machen.«

»Gute Idee, Kumpel!«, bestätigte ich. Das war die beste Neuigkeit, die ich seit meinem Sprung vom Balkon im zweiten Stock zu hören bekommen hatte. Marcy Talbot, die Sekretärin unserer Firma, war eine talentierte Hexe, auch wenn sie dazu neigte, ihr eigenes Licht unter den Scheffel zu stellen. Marcy hasste es, unter Druck arbeiten zu müssen. In Stresssituationen nämlich hatte sie das Pech, dass ihre Magie versagte. Deshalb wollte kein Hexenzirkel sie aufnehmen. Aber wenn sie genug Ruhe zum Arbeiten hatte, war das Ergebnis absolut verblüffend.

»Marcy und ich sind ungefähr gleichzeitig bei der Wohnanlage angekommen«, fuhr Nick fort. »Es war ein echtes Wunder, dass wir vor der Polizei dort waren. Es herrschte Chaos, und etliche Leute liefen vor deiner Tür herum. Marcy hat sofort einen Zauber gewirkt – etwas, das die Leute überzeugt hat, sie müssten woanders sein. Kaum waren sie weg, konnten wir ungesehen hineinschlüpfen.«

»Gute Marcy!«, lobte ich. »Wie hat es in der Wohnung ausgesehen? Meine Wölfin hat ziemlich gewütet, um da rauszukommen.«

»›Gewütet‹ ist noch milde ausgedrückt.« Nick ließ ein sardonisches Grinsen aufblitzen. »Es sah eher so aus, als hättest du jede Menge C-4 in der Wohnung verteilt und zur Explosion gebracht. Stapelweise lagen deine zertrümmerten Möbelstücke herum, und im Boden klafften tiefe Furchen. Im Schlafzimmer war es am schlimmsten. Aber wir hatten keine Zeit aufzuräumen, weil die Polizeisirenen immer näher kamen. Marcy hatte die Idee, es so aussehen zu lassen, als wäre jemand ein- und nicht du ausgebrochen. Also hat sie dafür gesorgt, dass die Glastür so aussieht, als wäre sie von außen eingeschlagen worden.«

Ich nickte. »Brillant!«

»Danach war sie ziemlich erledigt.« Hexen mussten auftanken, wenn sie mehrere Zauber nacheinander wirkten. »Wir sind dann schnell zurück in dein Schlafzimmer, weil uns klar war, dass wir dort aufräumen mussten. Sonst gäbe es mit Sicherheit eine umfassende Untersuchung. Das viele Blut hat förmlich nach einer Erklärung geschrien.«

»Habt ihr es geschafft?«

Er nickte. »Ja. Marcy hatte noch genug Kraft, um es so aussehen zu lassen, als wärest du gar nicht zu Hause gewesen. Bett gemacht, alles sauber und ordentlich.«

»Perfekt«, murmelte ich.

»Wir haben es gerade noch nach aus der Wohnung geschafft, ehe die Polizei eingetroffen ist. Aber wir konnten das Haus nicht verlassen, ohne von ihnen gesehen zu werden. Also haben wir uns nebenan in Mr. Stubbards Wohnung verkrochen.« Nick sah sich zu meinem Vater um. »Jess’ direkter Nachbar auf der Ostseite. Da musste ich dann ein bisschen zaubern. Ich habe Mr. Stubbard überzeugt, sich wieder schlafen zu legen, nachdem er uns reingelassen hat. Marcy und ich sind dageblieben und haben ein mieses TV-Programm angeschaut, bis die Polizei abgerückt ist. In kurzen Worten war es das.«

Nick besaß die enorm nützliche Gabe der mentalen Überzeugungskunst. Viele Übernatürliche haben besondere Fähigkeiten, die mit ihrer wahren Natur einhergehen. Eine Gabe wie die Überzeugungskraft wirkte normalerweise nur bei willensschwachen Menschen. Aber nützlich war sie trotzdem. Was zusätzliche Fähigkeiten betrifft, so war mein Bruder imstande, doppelt so schnell zu laufen wie jeder andere Wolf, und James gesundete doppelt so schnell wie alle anderen, was im Übrigen faszinierend zu beobachten war. Es gab keine Garantie dafür, dass man eine besondere Gabe erbte. Das hing ganz davon ab, was in den Genen festgelegt war. Ich hoffte sehr, dass ich auch eine hatte. Aber ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis sie zutage träte.

»Marcy braucht eine Gehaltserhöhung. Hexen arbeiten nicht umsonst«, sagte ich zu Nick. »Ohne sie wäre ich völlig aufgeschmissen. Es wird auch so noch schwer genug, mir eine Geschichte für die Polizei einfallen zu lassen. Aber das ist schon mal eine große Hilfe. Ein Einbruch ist viel leichter zu erklären als ein Ausbruch.«

»Oh, hier ist dein Handy.« Nick zog es aus der Jackentasche hervor und gab es mir. »Das habe ich beim Rausgehen zufällig ganz oben auf einem Trümmerhaufen gefunden. Heutzutage verlässt niemand die Stadt ohne sein Handy.«

»Danke.« Ich nahm es und schob es in den Bund meiner Pyjamahose. »Hast du zufällig auch meine Handtasche gesehen?«

Für einen Moment wirkte Nick regelrecht betroffen. »Nein, ich …«

»Mach dir keine Gedanken!«, fiel ich ihm rasch ins Wort. »Nick, ehrlich, ihr habt mir ganz hervorragend den Rücken freigehalten, wie immer. Kerle haben nun mal kein Radar für Handtaschen.« Marcy hätte sie mitgenommen, hätte sie sie gesehen, da war ich sicher. Aber vermutlich lag die Tasche unter irgendeinem Trümmerhaufen begraben. Ich sah mich zu meinem Vater um. »Haben wir noch Vorrat an Campingausweisen aus dem Hinterland? Ich könnte einen spontanen Campingausflug als Ausrede für meine Abwesenheit nutzen.« Hier oben umgaben uns die dichten Wälder der Nationalforste.

»Das dürfte kein Problem sein«, sagte mein Vater und wandte sich an Nick. »Du hast hervorragende Arbeit geleistet, Nicolas. Du erweist dich immer wieder als eine Bereicherung für unser Rudel.«

Nick senkte den Kopf angesichts dieses Kompliments. Lob verteilte mein Vater nur selten.

»Der Einbruch gibt uns eine Chance, den ersten Schritt im Umgang mit der Menschenpolizei zu regeln«, sagte mein Vater. »Aber nun kommt der schwierige Teil, und James und ich haben bereits einige der möglichen Szenarien durchgesprochen.« Er tauschte einen Blick mit James. »Ob wir dich, Jessica, hierbehalten oder dir gestatten, nach Hause zu gehen, beides ist mit Gefahren verbunden – beides ist Grund genug, mir Sorgen zu machen.«

James griff den Faden auf, und sein singender irischer Tonfall verlieh seinen Worten eine bodenständige Färbung. »Wenn du hierbleibst, Jessica, dürfte das Rudel wohl zu dem Schluss kommen, dass du bereits zu einem reinrassigen Wolf geworden bist. Ich glaube, das ist ein unnötiges Risiko. Die Wölfe sind so oder so schon unruhig. Sie wissen, dass sie letzte Nacht etwas gehört haben. Sie wissen nur nicht so recht, was das war. Falls es eine Chance gibt, deine Wandlung geheim zu halten und dir die Gelegenheit zu geben, in dein normales Leben zurückzukehren, dann sollten wir sie unbedingt nutzen.«

»Es gibt noch etwas, das dafür spricht, dich nach Hause zu schicken«, fügte mein Vater hinzu. »Jeder Angehörige der übernatürlichen Gemeinde, der einen vagen Verdacht gehegt hat, dass Jessica McClain und Molly Hannon identisch sind, dürfte jetzt in höchstem Maße alarmiert sein. Die warten geradezu darauf, dass du verschwindest. Und wenn Molly zu dem Zeitpunkt verschwindet, zu dem Gerüchte über die Veränderung von Jessica McClain aufkommen, wirst du vielleicht nie wieder in dieses Leben zurückkehren können. Der Schutz deiner Tarnidentität aber genießt hohe Priorität. Es wäre extrem schwierig, dir zu diesem Zeitpunkt eine neue Identität zu verschaffen. Die Übernatürlichen sind schlau, und viele kennen dich durch deine Arbeit.« Er verstummte, aber ich wusste, was ihm auf der Zunge lag: Ich war zu unbesonnen und hatte einige dumme Entscheidungen hinsichtlich meiner beruflichen Laufbahn getroffen. Wie es derzeit aussah, hatte Vater damit vollkommen recht. Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen, ihn zu überzeugen, mich in die Gemeinde der Übernatürlichen einbringen zu dürfen. Aber nach meiner kurzen Zeit als Polizistin waren mir nur wenige halbwegs sinnvolle Möglichkeiten geblieben. Am Ende und vermutlich seinem gesunden Menschenverstand zum Trotz hatte er Nick und mir gestattet, Hannon & Michaels Investigations zu gründen. Allerdings war die Bedingung dafür, dass ich als Nicks Reinmensch agierte, als sein menschlicher Kompagnon, und dass wir nur risikoarme Fälle übernehmen würden. Es hatte funktioniert, und nun war ich drauf und dran, das schwer erkämpfte eigenständige Leben zu verlieren. Das machte mir Angst. »Möglicherweise ist es das Sicherste für dich, wenn wir dich in dein Leben zurückkehren lassen und abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Aber mir gefällt das nicht«, knurrte er. »Mein Bauchgefühl sagt mir, wir sollten dich hierbehalten, schön hinter Schloss und Riegel und damit in Sicherheit.«

»Angenommen, die Neuigkeit über meine Wandlung ist heute schon durchgesickert: Wie viele Wölfe würden dann deiner Meinung nach aus dem Stand eine ernsthafte Gefahr für mich werden?«, fragte ich.

Mein Vater musterte mich aufmerksam. »Mir unterstehen direkt hundertneunundfünfzig Wölfe, nicht mitgezählt die abgeschieden lebenden Wölfe aus Kanada oder Alaska. Unter diesen gibt es, glaube ich, nur wenige, höchstens zehn bis zwölf, die immer noch an dem Glauben festhalten, du würdest, solltest du je zum reinrassigen Wolf werden, der Untergang des Rudels sein. Die Mehrheit ist unentschieden. Sie könnten sich aber leicht beeinflussen lassen. Das hängt davon ab, ob diejenigen unter deinen Gegnern, die üblicherweise am lautesten schreien, richtig in Fahrt kommen oder nicht, ehe wir imstande sind, der Sache einen Riegel vorzuschieben. Ich möchte nicht, dass du dir unnötig Sorgen machst. Aber gerade heute Morgen ist der Kain-Mythos in mehreren US-Rudelbezirken wieder Gesprächsstoff geworden. Das könnte Zufall sein. Von Zeit zu Zeit lebt dieser Mythos nun einmal wieder auf. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es einen Zusammenhang mit der allgemein herrschenden Unruhe unter den Übernatürlichen gibt. Wir konnten bisher noch nicht feststellen, wie und wo genau der Mythos dieses Mal wieder wachgerufen wurde, aber wir arbeiten daran.«

»Schon jetzt gehen Gerüchte um?« Vor Anspannung hatte ich die Luft angehalten und blies sie nun aus. Es klang wie ein Aufkeuchen. »Das kann nichts Gutes bedeuten!«

»Beim derzeitigen Stand der Technologie«, meinte Vater kopfschüttelnd, »habe ich keine Möglichkeit, die Sache aufzuhalten. Es bringt mich zur Weißglut! Aber es beweist auch zweifelsfrei, dass es bereits Gerüchte und Unruhe in unseren eigenen Reihen gibt. Darum ist unsere absolute Priorität, dich zurück in dein altes Leben und außer Gefahr zu bringen. Wenn es uns gelingt, der Sache den Schwung zu nehmen und deine Wandlung unter Verschluss zu halten, haben wir eine Chance, den Aufruhr zu stoppen. Wenn nicht, stehen wir womöglich vor einem Bürgerkrieg. Meine Aufgabe als Rudelführer ist es, das um jeden Preis zu vermeiden.«

Dieser gottverdammte Kain-Mythos!

Ein paar nicht gereimte Verse, maschinengeschrieben auf einem einfachen Blatt Papier, hatten mein ganzes Leben bestimmt. Die Zeilen waren exakt einen Monat nach meiner Geburt ohne Poststempel im Habitat eingetroffen. Ob der Mythos auch nur einen Funken Wahrheit enthielt, war von jeher ohne jede Bedeutung gewesen. Auf Anhieb hatte er sein Ziel erreicht – Unruhe im Rudel zu stiften und mir dabei das Leben zur Hölle zu machen. Ich kannte die Zeilen auswendig. Sie waren für immer in mein Gehirn eingebrannt wie ein Makel, ein böser Fluch.

Wenn das Weib in der Haut des Wolfes heranwächst, ist die

ungeborene Tochter des Kain zur Welt gekommen;

in ihr wird die Bestie schlummern, verborgen sein wird ihre

wahre Gestalt;

von diesem Tage an werden die Wölfe der Nacht bezahlen;

Fleisch und Blut wird ihre machtvolle Hand ihnen von den

Knochen ziehen;

die Art der Wölfe wird untergehen;

wenn die Tochter des Bösen die Herrschaft ergreift.

Hielt ich mich für die Tochter des Kain? Natürlich nicht. Aber Furcht besaß Macht über normale Menschen wie über Übernatürliche, besonders viel Macht über die extrem abergläubischen Wölfe. Das Auftauchen des Kain-Mythos hatte, wie man mir erzählt hatte, die Wölfe regelrecht in den Wahnsinn getrieben. Viele hatten von meinem Vater verlangt, dass er meinem Leben ein Ende setzt. Es hatte ein paar Jahre gedauert, diese Angst zu bezwingen. Aber der Mythos war nicht aus der Welt. Während meiner ganzen Kindheit hatte er immer wieder sein hässliches Haupt erhoben und mir endlos Ärger beschert. Am Ende war dann doch wieder Ruhe eingekehrt. Aber das lag nur daran, dass ich mich in der Pubertät nicht zum Wolf gewandelt hatte. Schlussendlich hatte ich mir den Weg aus dem Habitat freigekämpft. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Und nun war ich zurück.

»Das kann kein Zufall sein«, murmelte ich. Mein Leben wäre verdammt viel einfacher gewesen, würde nicht unsere ganze Geschichte auf Mythen und Legenden basieren und wären Wölfe nicht die abergläubischsten Kreaturen auf Erden.

Mein Vater räusperte sich. »Die Wölfe können spekulieren, soviel sie wollen, solange sie keinen sicheren Beweis haben. Den aber können sie nur von mir bekommen. Dieser Zustand von Ungewissheit soll auch so bleiben. Daher tendiere ich dazu, dich zurückzuschicken. Aber, ehrlich, Jessica: Dich nicht in meiner Nähe zu haben, nicht imstande zu sein, dich zu beschützen, widerspricht meiner ganzen Art.«

Ich rutschte zum Rand des Sofas. »Dad, hör mal!« Ich legte ihm die Hand aufs Knie. Die Berührung fühlte sich gut an. »Ich glaube, es ist tatsächlich das Beste. Ich weiß, es wird nicht einfach. Aber ich möchte wenigstens versuchen, das Leben weiterzuleben, das ich mir geschaffen habe. Außerdem wäre hierzubleiben auch keine Garantie dafür, dass ich in Sicherheit bin. Du kannst mir nicht ständig das Händchen halten oder mich bis in alle Ewigkeit in mein Zimmer einsperren. Wenn die Wölfe so oder so schon nervös sind, ist es besser, wenn ich mache, dass ich hier wegkomme. Lass es uns so versuchen, okay?«

Mein Vater blickte mich lange schweigend an. Dann wechselte er wieder einen Blick mit James. Wortlos fanden die beiden zu einer Übereinkunft. »Also gut, wir versuchen es so.« Feierlicher Ernst lag in seinen Worten. »Aber ich werde dich nicht ohne angemessenen Schutz zurückschicken.«

Ich nickte, um ihn wissen zu lassen, dass ich seine Entscheidung anerkannte. Von nun an würde es wohl zur Regel für mich von Bodyguards umgeben zu sein. Damit aber würde ich leben können.

Vater straffte die Schultern. Nun, da wir uns über den Plan einig waren, war es Zeit, die Aufgaben zu delegieren. »Nicolas wird dich sofort heimbringen«, sagte mein Vater. »Tyler und James werden euch bald folgen. Danny ist bereits in deiner Wohnung, und ich werde ihn und sein Team innerhalb der Stadtgrenzen in höchste Alarmbereitschaft versetzen. Meiner Einschätzung nach wird sich in wenigen Tagen herausstellen, mit welchen Konsequenzen wir zu rechnen haben. Ich bleibe ständig in Kontakt mit dir.«

Ich atmete tief durch. »Mir ist absolut bewusst, wie wichtig gerade jetzt Unterstützung für mich ist«, begann ich vorsichtig, »aber du hast es selbst bereits gesagt: Sollte der Verdacht aufkommen, dass Molly Hannon Jessica McClain ist, wäre jetzt der beste Zeitpunkt, um in meinem Leben herumzuschnüffeln. Wenn dann Wölfe in der Nähe meines Hauses gesehen werden, , gibt’s Ärger, und zwar eher früher als später, verlass dich darauf. Molly Hannon steht nicht in dem Ruf, Umgang mit Wölfen zu pflegen.« Im Grunde pflegte niemand Umgang mit Werwölfen. Werwölfe machten sich gern rar und kamen einfach nicht sonderlich gut mit anderen zurecht.

Mein Vater warf mir einen strengen Blick zu und entschied: »James bleibt in der Nähe des sicheren Unterschlupfs. Solltest du in Gefahr geraten, ist er in weniger als zwei Minuten vor Ort. Wenn du einen Auftrag hast, dann erwarte ich, dass du James oder deinen Bruder informierst. Wenn Nicolas nicht bei dir ist, wirst du einen von ihnen mitnehmen. Ausnahmslos! Tyler ist verantwortlich für sämtliche Sicherheitsmaßnahmen. Er ist unser Verbindungsmann. Du wirst den ganzen Tag Kontakt zu ihm halten. Das ist die einzige Möglichkeit. Also schlage ich vor, du gibst klein bei und belässt es dabei!«

Und das tat ich.