KAPITEL ZWEI
Als ich erwachte, war ich umgeben von weißen Wänden und dem Geruch von Desinfektionsmittel, Latex und Kaffee. Der Raum wirkte wie ein typisches Krankenhauszimmer, sauber, hell und steril, nur dass er exklusiv für Werwölfe eingerichtet worden war. Er lag tief unter der Erde, weil Werwölfe nicht gerade für ihre ruhige, besonnene Art bekannt sind. Doch selbst ihnen fällt es, wenn sie völlig von Sinnen sind, verdammt schwer, sich einen Weg durch die Erde zu buddeln.
Niemand außer mir lag in dem Krankenzimmer. Das machte die Dinge einfacher. Neugeborene Wölfe bedeuteten Chaos, und weniger Chaos war eindeutig ein Vorzug. Denn gestern Nacht hatte ich das Unmögliche zustande gebracht: Ich war zum einzigen lebenden reinrassigen Werwolf auf dem ganzen Planeten geworden, der weiblich war. Meine neue Identität würde den übernatürlichen Status quo ins Wanken bringen. Je eher ich mich auf die unerfreulichen Auswirkungen, die es zweifellos geben würde, einstellen konnte, desto besser. Zuerst aber sollte ich vielleicht doch meinen Arsch aus diesem Krankenhausbett hieven. »Hallooo«, rief ich, »jemand da?«
Während ich auf eine Antwort wartete, spannte und dehnte ich das Bein, wartete auf den Schmerz. Es zwickte mich noch leicht in Hüfthöhe, aber davon abgesehen fühlte sich alles völlig normal an. Die Wunde konnte ich nicht sehen. Mein Bein war nämlich in genug Verbandsmull eingewickelt, um damit eines von diesen hübschen Dekokissen fürs Sofa zu stopfen. Als ich mich an das Hackfleisch erinnerte, aus dem mein Bein bestanden hatte, war ich ganz froh darüber, auf den Anblick verzichten zu dürfen. Ich hatte keine Ahnung, ob diese Tortur Narben zurücklassen würde oder nicht. Ich hatte noch eine Menge zu lernen über meinen neuen Körper.
Ein Stockwerk über mir begann eine Unterhaltung. Der tiefe Bariton meines Vaters war unverkennbar. Ich neigte den Kopf. Beinahe erwartete ich, einen bionischen Piepton zu hören, als ich mich auf das Gespräch konzentrierte. Verblüffend, wie klar ich alles hören konnte, gerade so, als wären sie im selben Raum wie ich. Ich probierte mein Sehvermögen an Schächtelchen auf der anderen Seite des Raums aus und konnte die winzigen Buchstaben auf den Etiketten problemlos lesen.
Schritte kamen die Stufen herab, und mein Vater, Callum McClain, der Rudelführer der U.S. Northern Territories, kam in mein Blickfeld. »Das wird auch verdammt Zeit!« Ich schenkte ihm ein breites Grinsen. Es war eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, und ich hatte ihn vermisst. Seit ich das Wolfshabitat vor sieben Jahren verlassen hatte, waren wir uns gerade einmal bei einer Handvoll Gelegenheiten begegnet. Wir mussten hinsichtlich unserer Treffen stets größte Vorsicht walten lassen. Denn hätte man uns zusammen gesehen, hätte das in der Gemeinschaft der Übernatürlichen eine Menge Unruhe ausgelöst. Gerüchte hätten dann meine Tarnidentität auffliegen lassen können. Mit dem unabhängigen Leben, das ich mir so schwer erarbeitet hatte, wäre es dann Essig gewesen.
»Jessica, du hast mich zu Tode erschreckt.« Mein Vater trat an mein Bett. Mit seinem vollen dunklen Haar und dem vollkommen faltenfreien Gesicht sah er keinen Tag älter aus als fünfunddreißig.
»Ich habe mich selbst zu Tode erschreckt.« Ich kicherte. »Du kannst Gift drauf nehmen: Ich hatte für den Abend andere Pläne, als ausgerechnet zur Wölfin zu werden. Außerdem dachte ich, ich würde sterben. Das hat der ganzen Geschichte einen gehörigen Dämpfer verpasst. Es hat sich angefühlt, als würde mir jemand mit stumpfem Blatt Arme und Beine absägen.«
»Das erste Mal ist immer heftig«, sagte mein Vater. »Besonders wenn ich nicht da bin, um den Wandel zu unterstützen. Es ist viel leichter, wenn man sich nicht dagegen wehrt und Ruhe bewahrt. Das Sedativum hätte dir den Schmerz erspart. Warum hast du es nicht genommen?« Mein Vater zog sich einen Stuhl an das Bett heran und nahm Platz. »Auf diese Notfallmaßnahme hatten wir uns doch geeinigt, falls du je in den Wandlungsprozess geraten solltest! Du hättest es dir injizieren und dich selbst ausschalten sollen. Dann hätten wir dich rechtzeitig finden können, damit dir im Zuge der Wandlung nichts zustößt. Wirklich, Jess, du hättest dich beim Sprung aus dem Fenster deiner Wohnung tödlich verletzen können! Und wir können von Glück reden, dass der Schuss dir nicht das Rückenmark durchtrennt hat! Ich habe dir vertraut und darauf, dass du unsere Vereinbarung einhältst. Ich bin davon ausgegangen, dass du sie minutiös befolgst.«
»Es tut mir leid.« Ich zupfte am Laken wie ein schuldbewusstes Kind. »Ich habe versucht, mir die Spritze zu holen, aber ich habe es nicht geschafft. Selbst schuld. Ich habe das Etui vor ein paar Jahren aus meinem Nachttisch genommen und in den Badezimmerschrank gelegt. Ich dachte, das wäre nahe genug. Aber ehrlich, ich habe nicht damit gerechnet, dass ich es je brauchen würde. Ich bin doch schon vor über zehn Jahren in die Pubertät gekommen, und es hieß doch immer, ich wäre genetisch nicht dazu geschaffen, mich zu wandeln.« Ich hielt einen Moment inne. »Es tut mir leid. Ich dachte, du wärest überfürsorglich – so wie immer.«
»Jessica, meine Liebe!« Dr. Jace betrat den Raum. Das vertraute weiße Haar umwehte sein Gesicht wie ein zarter Glorienschein. Unverkennbar amüsierte er sich prächtig, gepaart allerdings mit Verwunderung. »Du hast uns in Angst und Schrecken versetzt! Du bist ein Wunder, junge Dame, ein echtes Wunder!« Er schlurfte zu meinem Bett, ergriff meine Hand und tätschelte sie liebevoll. »Wer hätte das für möglich gehalten? Eine echte Weibliche unter uns. Erstaunlich, wirklich erstaunlich!«
»Doc Jace!« Ich hielt ihm die Wange hin, damit er mir den üblichen flüchtigen Kuss geben konnte. »Schön, Sie wiederzusehen! Es ist schon viel zu lange her. Sie sehen gut aus.« Der Doc kam meiner Vorstellung von einem Großvater näher als alles andere an Mann, was ich kannte. Er war einer der Reinmenschen unseres Rudels. Wie sein Vater und vor ihm sein Großvater kannte er unsere Geheimnisse, arbeitete für uns, war aber selbst kein übernatürliches Wesen. Reinmenschen waren eine Notwendigkeit in jeder übernatürlichen Gemeinschaft, da die Menschheit keine Ahnung von unserer Existenz hatte. Reinmenschen konnten Ärzte sein, Lehrer oder Anwälte; Individuen, die für eine bestimmte Funktion innerhalb der Gemeinde rekrutiert wurden. Doc Jace war ein hervorragender Arzt und ein enormer Pluspunkt für unser Rudel. »Ich bin so froh, dass Sie da sind«, sagte ich und ließ ein Grinsen aufblitzen, »denn Sie sind genau der Mann, der mir die Fragen beantworten kann, die mir auf den Nägeln brennen.«
»Aber gern, Jessica«, sagte er. »Ich werde mein Bestes tun, um deine Fragen zu beantworten.«
»Wie habe ich das überlebt? Ich dachte, ich wäre genetisch nicht zum Wolf geeignet und könnte gar keine vollständige Wandlung erleben. Es hieß doch immer, falls sich meine Körperchemie später, nach der Pubertät, doch noch verändern sollte, würde ich bei der Tortur vermutlich sterben. Aber ich lebe und bin wohlauf.«
Doc strich sich gedankenverloren über den Bart. »Ja, wirklich außergewöhnlich! Männliche Wölfe tragen ihren Wolfsmarker auf dem zweiten Y-Chromosom. Genau da sind sie ganz deutlich kodiert. Ich kann nur mutmaßen, dass dein Körper Träger des Gens ist, das dich als Wolf kennzeichnet, es aber irgendwo anders, in einem nicht kodierten Bereich, trägt.« Er tätschelte meine Hand. »Wirklich interessant! Was für ein Forschungsfeld!« Über unsere Gene zu rätseln, war sein Lebenswerk. »Dass du als Weibliche eine erfolgreiche Wandlung vollbracht hast, kommt einer Revolution gleich. Das ebnet uns auf diesem Forschungsgebiet einen ganz neuen Weg. Wahrhaft fantastisch, sag ich dir!«
Dass die Sache einer Revolution gleichkam, war mir längst klar. Denn es gab in unserer Art keine Weiblichen. Unter den Wölfen hatte schon meine Geburt größtes Missfallen ausgelöst. Besonders weil es da eine Pointe gab: Einer weit verbreiteten Legende nach war ich das pure Böse, eine Gefahr, geschaffen allein dazu, die Wolfsart zu vernichten. Wenn das Rudel erfahren würde, dass ich zum reinrassigen Wolf geworden war, würde es einen Riesenaufstand geben. Alles, was ich mir aufgebaut hatte, würde den Bach runtergehen. Das aber erwähnte ich dem Doktor gegenüber nicht. Stattdessen fragte ich: »Wie spät ist es? Wie lange war ich weg?«
»Es ist sieben Uhr morgens«, antwortete Doc. »Du hast beinahe achtzehn Stunden geschlafen, was nicht ungewöhnlich ist für einen Wolf, der sich von einer schweren Verletzung erholt. Ich nehme an, du bist jetzt bereit für Kaffee und Frühstück? Du musst ja beinahe verhungert sein! Die Wandlung erfordert unglaublich viel Energie, und neugeborene Wölfe sind von Natur aus hungrig.«
»Ja, Kaffee und etwas zu essen hört sich himmlisch an!« Wie aufs Stichwort knurrte mein Magen. »Ich bin wirklich kurz vor dem Verhungern!« Dr. Jace ging hinaus, und ich konzentrierte mich wieder auf meinen Vater. »Achtzehn Stunden? Ich habe achtzehn Stunden geschlafen? Soll das heißen, wir haben bereits Montagmorgen?«
»Ja, es ist Montag.« Mein Vater beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Aber mach dir wegen deiner Arbeit keine Sorgen! Ich habe Nicolas bereits kontaktiert. Er ist schon unterwegs. Tatsächlich hat der Doc sogar ein bisschen nachgeholfen, was deinen Schlaf betrifft. Er wollte sicherstellen, dass du komplikationslos gesund wirst, und in dem Punkt konnte ich ihm nur von ganzem Herzen zustimmen. Wunden wie deine brauchen Zeit, um zu verheilen, ganz besonders bei einem Neugeborenen. Ich bin nur froh, dass wir dich in einem Stück zurückbekommen haben. Du hast uns da wirklich auf einen ganz schönen Höllenritt geschickt!«
Ich war erleichtert, dass mein Geschäftspartner und bester Freund Nick Michaels hierher unterwegs war. Es würde mir guttun, noch einen Verbündeten an meiner Seite zu haben. Denn ich hatte keine Ahnung, wohin das alles noch führen mochte. »Die Wandlung war der reine Wahnsinn. Aber wie es zu der Verletzung gekommen ist, daran erinnere ich mich nicht.« Dann korrigierte ich mich. »Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich habe eine klare Erinnerung an den Schmerz. Aber aus welchem Grund auch immer kann ich mich kaum an die Wiederkehr erinnern.«
Mein Vater lehnte sich zurück. »Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man sich bei der ersten Wiederkehr von seinem Wolf abkoppelt. Deine Wandlung war ein unerwartetes, traumatisches Ereignis. Ich sagte es ja schon: Wenn man dagegen ankämpft, kann es wirklich qualvoll werden. Deine Wölfin hat wahrscheinlich die Kontrolle übernommen, während deine menschliche Seite in einem Schockzustand verharrt ist. So was passiert. Es ist nicht gerade der ideale Ablauf, aber es passiert.«
Ein bisschen war ich überrascht von seiner Reaktion. Aber ich war auch unendlich froh, dass er offenbar nicht vorhatte, mich so lange ans Bett zu ketten, bis ich mehr Kontrolle über die Vorgänge hätte. »Es hat sich nicht so angefühlt, als hätte ich einen Schock gehabt. Aber ich schätze, es ist durchaus möglich. Am Ende war es, als würde meine Wölfin einen Schalter zwischen uns umlegen und mir die Kontrolle zurückgeben. Bis dahin war ich sozusagen nur der Beifahrer. Kaum hatte ich das Steuer wieder übernommen, habe ich nur eine Nase von meiner Wunde nehmen müssen, und schon war ich ohnmächtig.« Der erste schwierige Augenblick in meinem Dasein als Werwölfin, und ich verlor die Besinnung, als gäbe es nichts Erstrebenswerteres.
Mein Vater musterte mich einen Moment schweigend. Dann strich er sich mit einer Hand durch das Haar. Das tat er schon mal, wenn er gestresst war – sehr gestresst. Denn Stress so zu zeigen, verbot er sich normalerweise. »Tja.« Er räusperte sich. »Ich weiß nicht so genau, was da passiert ist. Aber es kann viele Jahre dauern, die Herrschaft über seinen Wolf zu erringen. Wenn deine Wölfin dir die Kontrolle freiwillig zurückgegeben hat, dürfen wir hoffen, dass du damit keine Probleme haben wirst.« Er beugte sich vor und musterte mich noch aufmerksamer. »Das ist ein Zeichen dafür, dass deine menschliche Seite stark ist, und das ist eine verdammt gute Sache!«
Von Werwölfen wurde gefordert, dass sie unter Beweis stellten, den inneren Wolf in der Gewalt zu haben. Erst danach durften sie wieder in die Gesellschaft der Menschen zurückkehren. Der innere Wolf wollte, ja, forderte instinktiv die alleinige Vorherrschaft. Die menschliche Seite musste stark genug sein, um die Wolfstriebe zu jeder Zeit im Zaum zu halten. Ausnahmslos.
Ich nagte an meiner Unterlippe.
Ganz so ideal war es ja nun nicht abgelaufen. Ich wusste nur eines: Ich hatte meine Wölfin davon abgehalten, den Farmer zu töten. Aber ich hatte keine Ahnung, was zu tun wäre, sollte es erneut so weit kommen. Dennoch gab ich mich damit zufrieden, das Thema vorerst fallen zu lassen, und fragte stattdessen: »Woher wusstest du, dass ich mich wandle? Wie hast du mich gefunden?« Ich bin im Wolfshabitat aufgewachsen. Also wusste ich auch eine Menge über Wölfe. Aber man hatte mich auch über viele Dinge im Dunkeln gelassen.
Ehe mein Vater antworten konnte, stürmte mein Bruder ins Zimmer. Seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er noch ein Stück gewachsen. »Wir haben dich gefunden, weil du stinkst, und Gestank ist leicht zu verfolgen.« Er warf sich neben mich aufs Bett und drängte mich ganz selbstverständlich zur Seite.
»He, schön vorsichtig, du Riesenochse! Ich erhole mich hier von einer schweren Verletzung.« Kichernd zog ich das kaum noch schmerzende Bein an, um ihm Platz zu machen. Aber auch das reichte nicht. Denn er war ein Riesenkerl und das Bett geradezu winzig.
»Dann bist du wohl nicht sonderlich stark, du schwaches Mädchen! Wäre es nämlich mein Bein, dann wäre es jetzt längst wieder so gut wie neu.« Grinsend offenbarte er seine Zähne und Grübchen. Meine ewige Konkurrenz.
»Du hast leicht reden«, erwiderte ich. »Dir wurde nicht gerade von einem wütenden Farmer fast das Bein abgeschossen.« Ich beugte mich zu ihm hinüber und versetzte ihm spielerisch einen Stoß. Tyler rührte sich kein Stück. Mit seinen eins sechsundneunzig und seinen Muskelpaketen sah er aus, als wollte er als Catcher für die WWE in den Ring steigen. Tyler sah unserem Vater ähnlich. Gut, das taten wir beide – nur hatte Tyler blondes Haar, Vater und ich stattdessen dunkles. Außerdem hatte er ein paar hübsch verschämte Grübchen, ein Erbe unserer verstorbenen Mutter. Aber das, was uns unverkennbar als Geschwister auswies, waren unsere himmelblauen Augen.
»Sieh’s ein, Jess: Ich habe mir schon einen Haufen mehr Schrammen geholt als du, und am nächsten Tag ging es mir immer blendend«, behauptete Tyler. »Du bist nur eine halbe Portion – ein Mädchen eben!«
»Ach ja, klar doch! Weißt du noch, damals, als wir mit Danny in den Bergen waren? Dich musste man auf einer Trage wegschleppen! Du warst damals ganze drei Tage ausgeschaltet.«
»Ich hatte einen Schädelbruch, und mir ist das Gehirn ausgelaufen. Das ist wohl kaum eine geringfügige Verletzung!«
»Nun, bisher ging ein abgeschossenes Bein auch nicht als geringfügig durch!«
»Na, mach mal halblang! Das …«, er zeigte auf meine Hüfte, »… ist doch nur eine einfache Fleischwunde!«
Fleischwunde, dass ich nicht lache, kleiner Bruder!
Begreifen spiegelte sich in seinem Gesicht. Unsere mentalen Fähigkeiten waren während unserer Kindheit bestenfalls dürftig gewesen. Wie bei einem Wackelkontakt waren sie mal aufgeflackert, mal nicht. Meistens war sie auf unfair einseitige Weise zutage getreten – von Tyler zu mir. Als Tyler in der Pubertät die Wandlung durchlaufen hatte, waren sie ganz verschwunden.
Nun aber war diese Fähigkeit wieder da.
Du willst es mir heimzahlen, was, Brüderchen?
»Okay, das reicht jetzt!«, herrschte uns Vater an. »Tyler, reiß dich jetzt bloß am Riemen! Deine Schwester wird unsere Hilfe brauchen. Was geschehen ist, ist beispiellos. Gut, bislang haben wir erfolgreich so getan, als sei nichts. Aber nun müssen wir überlegen, wie wir vorgehen wollen, um die Folgen zu minimieren. Die Wölfe sind unruhig, und wir müssen vorsichtig agieren.«
Mein Bruder hörte sofort auf herumzualbern. Angelegenheiten des Rudels nahm er ernst. Das hatte er immer getan. Für einen Sechsundzwanzigjährigen hatte er einen ungewöhnlich hohen Rang innerhalb des Rudels. Der einzige Wolf, der außer Dad im Rang über ihm stand, war Dads Stellvertreter James Graham, der schon seit über einem Jahrhundert an Dads Seite war. Tyler hatte eine Menge blutiger Kämpfe ausfechten müssen, um so schnell so weit aufzusteigen. Er war ein starker Wolf, und ich hoffte, dass das in der Familie lag.
Mein Vater stand auf und ging zum Fußende des Bettes. »Die Wölfe ahnen etwas. Aber noch besteht die Chance, dass ihnen deine Wandlung entgangen ist. Die meisten wissen nicht genau, was sie gestern Nacht gehört haben, weil ich die Verbindung so schnell abgebrochen habe. Diesen Vorteil müssen wir nutzen, Jess, und versuchen, die Neuigkeit über deine Wandlung, solange wir nur können, zurückzuhalten – am besten für immer.«
»Was meinst du mit ›was sie gehört haben‹?«, fragte ich. Das hörte sich nicht gut an.
»Ein neuer Wolf signalisiert seine erste Veränderung dem Rudel. Das läuft automatisch ab, eine Sicherheitsmaßnahme, mehr nicht. Deine Wölfin hat genau diesen Alarm ausgelöst.« Mein Vater drehte sich um und schaute mich an. »Bei der ersten Wandlung zünden die Wölfe eine Art Signalfeuer. Vor Hunderten von Jahren haben wir so überall in Schottland und Wales Wölfe aufgefunden, was wichtig war für ihre Sicherheit. Denn diese Wölfe haben bis zur ihrer ersten Veränderung gar nicht gewusst, was sie sind.«
»Das ganze Rudel hat meine Wandlung gehört?« Der Gedanke, dass ein ganzes Rudel Werwölfe in meinem Kopf war, löste in mir Panik aus, die wie eine Welle über mir zusammenschlug. »Können die mich jetzt auch hören?« Ich gab mir Mühe, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Aber es machte sich doch bemerkbar.
»Nein, können sie nicht«, versicherte mir mein Vater. »Die Verbindung zum Rudel wird grundsätzlich von mir hergestellt, und nur von mir. Wölfe können nicht aus eigener Kraft interne Unterhaltungen führen. Tyler und du, ihr seid eine seltene Ausnahme. Das liegt zweifellos daran, dass zwischen euch so starke Blutsbande bestehen, und ganz sicher nicht an der Zugehörigkeit zum Rudel. Ich bin der Verbindungskanal, weil ich der Alpha bin. Der Alarm, den du ausgelöst hast, war nur für ein paar kurze Augenblicke wahrnehmbar. Als mir klar wurde, dass du es bist, habe ich die Verbindung komplett gekappt. Derzeit weiß im Rudel keiner, dass du dieser neue Wolf bist. Das ist unser Vorteil.« Dad strich sich erneut mit der Hand durch das Haar. »Weil ich dich nicht bei deiner Wandlung beobachtet habe, kann ich halbwegs glaubhaft versichern, ich wüsste von nichts. Niemand hat dich bisher in deiner Wolfsgestalt gesehen, also kann auch niemand sicher wissen, dass du dich gewandelt hast. Wenn wir Glück haben, glauben sie, das Signal stamme von einem Wolf aus den Southern Territories, was immerhin möglich wäre. So etwas gab’s schon einmal. Und genau das, Entfernung hin oder her, können wir für uns nutzen.« Die U.S. Southern Territories kontrollieren alles, was südlich der Mason-Dixon-Linie liegt, bis hinunter nach Mexiko, mein Vater alles, was nördlich davon liegt, bis rauf nach Kanada.
Mein Bruder nickte zustimmend.
Dafür zu sorgen, dass mein Vater das Rudel nicht belügen musste, war wichtig. Wölfe können eine Lüge spüren, weil der Körper dergleichen stets verrät. Das Herz rast, die Pupillen weiten sich, und man transpiriert. Mein Vater, immerhin ein starker Alpha, konnte eine Lüge durch Auslassung etwa verbergen. Aber sollten die Wölfe ihn zu eingehend befragen, würden seine Gefühle auch ihn verraten.
»Ich bin erleichtert, dass sie mich nicht hören können. Aber macht sie nicht schon neugierig, dass ich zurück bin? Sie wissen doch, dass ich hier bin, oder?« Meine Anwesenheit im Habitat geheim zu halten, wäre viel zu kompliziert. Eigentlich hätte ich gar nicht mehr hier sein dürfen, besser noch, ich wäre in Europa geblieben. Nachdem ich vor etlichen Jahren endlich das Rudel verlassen hatte, hatte ich unter dem Namen Molly Hannon ein neues Leben begonnen. Dem Rudel war gesagt worden, dass Jessica nach Europa gegangen sei und nicht mehr zurückkäme. Und tatsächlich hatte ich auch einige Zeit in Übersee verbracht, um mich von den Verletzungen zu erholen, die ich mir bei einem Kampf kurz vor der Abreise aus dem Habitat zugezogen hatte. Also war das nicht ganz unwahr, und mir hatte es Glück gebracht. Als Molly kehrte ich in die Staaten zurück und lebte fortan etwa zwei Stunden südlich vom Habitat in den Twin Citys ein segensreich ereignisloses Leben. Niemand dort wusste, wer ich war, und das wollte ich mir unbedingt bewahren.
»Ich habe ihnen erzählt, du seist für ein paar Nächte in der Stadt, um endlich einmal deinen Bruder zu besuchen. Du seist bei Danny abgestiegen und rein zufällig gestern spätabends hier angekommen.« Danny Walker, der beste Freund meines Bruders und ein weiterer meiner wenigen Verbündeten. Er überwachte die Stadtgrenzen und suchte nach fehlgeleiteten Wölfen. Er war verdammt gut in seinem Job.
»Und das haben sie gefressen?«
»Du warst seit sieben Jahren nicht hier. Es wurde Zeit.«
»Falls die Neuigkeit über meine Wandlung bekannt wird, wird es schwer, sie davon zu überzeugen, dass ich nicht ihr Feind bin. All die Jahre hat sich ja der Kain-Mythos in ihren Köpfen breitgemacht. Sie werden meine Rückkehr für den Beweis halten, auf den sie so lange gewartet haben. Sie werden mich beschuldigen, dass ich das Rudel vernichten will.«
»Dass du gleich nach Erlöschen des Signals hier auftauchst, ist nicht gut, zugegeben.« Mein Vater ging durch den Raum in Richtung Treppe. »Aber alles, was uns an Zeit herauszuschlagen gelingt, gibt mir Gelegenheit, das Rudel auf die Neuigkeit von deiner Wandlung vorzubereiten. Vorbereitet werden sie besser damit umgehen. Einige der Wölfe haben ihre Haltung dir gegenüber während der letzten paar Jahre geändert und stehen dir nun weniger ablehnend gegenüber. Aber wenn sie von deinem neuen Status als reinrassiger Wolf erfahren, wird das ihre Überzeugungen erneut erschüttern.« An der Treppe drehte Dad sich noch einmal um. »Ich gehe zurück, um mit ihnen zu reden. Wenn du gefrühstückt hast und Doc mit deiner Untersuchung fertig ist, treffen wir uns im Haupthaus, um unsere nächsten Schritte zu besprechen.«
Tyler tätschelte mir das Knie, als er sich erhob. »Mach dir keine Sorgen, Jess! Wir kriegen das schon hin. Und nur für die Akten: ich halte dich bestimmt nicht für eine Missgeburt.«
Ähm, danke …?