KAPITEL SIEBZEHN

In der Gasse hinter der Bar stellte mich Rourke unsanft auf meine Füße. Meinen Unterarm aber hielt er eisern gepackt. Mit schnellen Schritten hastete er die Gasse entlang und zerrte mich hinter sich her. Ganz Wachsamkeit, hielt er dabei beständig die Nase in die Luft.

»Du willst mich wohl verarschen!« Ich versuchte, meinen Arm aus seinem Griff zu befreien, erfolglos. Seine Hände waren so unnachgiebig wie Stein. »Du kannst mich nicht einfach über die Schulter werfen wie ein verdammter Höhlenmensch und Entscheidungen für mich treffen. Was bildest du dir ein?!«

Abrupt blieb Rourke stehen und funkelte mich an. »Sprich leiser«, schnauzte er heiser, »und hör zu!« Seine Augen blitzten in diesem ätherischen Grünton. »Falls du es nicht bemerkt hast, nichts von all dem war meine Idee! Aber ich gebe dir jetzt ein paar Fakten: Du bist ein einzigartiger Werwolf. Die Einzige deiner Art. Das bedeutet: Du bist von jetzt an für alle Beteiligten von größtem Interesse. Und ich meine für absolut alle! Es gibt auf der ganzen Welt keine Gemeinde, die nicht daran interessiert ist, ein Stück von dir zu bekommen, verstanden? Alle – Wölfe, Gestaltwandler, Vampire, Hexen, einfach alle. Wenn du jetzt stirbst, stirbt was immer du bist mit dir. Hast du das kapiert?« Er schüttelte mich, um seine Worte zu unterstreichen. »Und jetzt hör auf zu jammern wie eine verzogene Göre! Wir müssen jetzt sofort von hier verschwinden.«

Mein Zorn kochte über, und ich musste ihn niederkämpfen, um überhaupt sprechen zu können. Ich hatte nicht die Absicht, nachzugeben. Mein Rudel kämpfte, und ich würde es nicht einfach im Stich lassen, nur weil dieser Typ es von mir verlangte! »Was soll das heißen, was immer ich bin? Nur, weil ich Brüste habe, ist das Rudel da drin nicht weniger mein Rudel! Meinetwegen zieht es in den Krieg. Und jetzt lass mich los! Ich gehe zurück zu meinem Rudel.« Meine eigenen Worte blieben nicht ohne Wirkung auf mich: ich – der Auslöser dieses Krieges!

»Falsche Antwort.« Rourke hastete wieder die Gasse entlang, mich im Schlepptau.

Es war dunkel in der Gasse. Ich wollte nicht mitgeschleift werden wie eine Dreijährige und stemmte mich dagegen, erfolglos. Ich konnte Rourke nur entwischen, wenn ich mich wandelte. Aber hier und jetzt war sogar eine unvollständige Wandlung äußerst riskant. Ganz zu schweigen davon, dass ich im Grunde keine Ahnung hatte, wie ich das beim letzten Mal gemacht hatte. So ein bisschen echte Wut könnte ich jetzt gut gebrauchen, sagte ich zu meiner Wölfin. Rourke zerrte uns immer noch mit sich. Ich spürte ihren Ärger. Aber sie war nicht annähernd so wütend wie ich. Ich dachte, wir dürften die Bar nicht mit dem Kerl verlassen, diesem furchterregenden Raubtier, diesem … Tabu auf zwei Beinen! Und jetzt schleift er uns hinter sich her wie ein bockiges Kleinkind. Er entführt uns! Werd endlich wütend! Meine Wölfin richtete die Ohren auf, und für eine kurze Sekunde spannten sich meine Muskeln. Ich geriet in Wallung.

Aber sie konzentrierte sich gar nicht auf mich. Ihre Augen blickten voraus, suchten nach neuen Gefahrenquellen.

Tolle Hilfe bist du!

Während Rourke mich weiter die Gasse hinunterschleifte, versuchte ich, mit ihm zu verhandeln. »Fangen wir noch mal von vorn an, Rourke! Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht. Ich muss zurück zu meinem Rudel …«

Wie der Blitz fuhr er zu mir herum und knurrte mich an. Sein Gesicht war nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Ich zuckte zurück, drückte mich mit dem Rücken an die Ziegelmauer irgendeines Gebäudes. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich hier nicht herumspiele. Wenn dein Rudel im Krieg ist, gegen wen mag es dann deiner Meinung nach wohl jetzt kämpfen?«

Mit einer Frage hatte ich nicht gerechnet.

»Ähm … ich bin nicht ganz sicher, wahrscheinlich gegen die Southern Territories …«, meinte ich lahm.

»Volltreffer, Herzchen! Folglich wird diese Stadt gerade mit mehr Werwölfen überflutet, als du allein bekämpfen kannst, mehr, als ich bekämpfen kann, solange ich für dich den Babysitter spielen muss. Also ist unsere einzige Chance, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Aber wir vergeuden wertvolle Zeit damit, darüber zu diskutieren!« Zimtduft lag in seinem Atem.

Ich nahm eine drohenden Haltung ein. »Den Babysitter für mich zu spielen, war deine Idee, und das ist absolut keine Verpflichtung! Du kannst jederzeit abhauen und dahin zurückgehen, wo du hergekommen bist, und wir vergessen, dass das Ganze je passiert ist!«

Seine Augen blitzten, so aufgewühlt war er. »Nein.«

»Rourke«, hauchte ich, »lass mich einfach los!«

Er musterte mich einen endlosen Moment lang. Sein Gesicht war meinem so nahe, dass ich instinktiv gern zurückgewichen wäre. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann, ganz plötzlich, entschied er sich dafür, wieder die Gasse entlangzuhasten, und schleifte mich hinter sich her – wie gehabt.

Wir überquerten mehrere Straßen, huschten geduckt im Zickzack an geparkten Wagen vorbei und verschwanden schließlich in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Gebäuden. Das Licht der Straßenbeleuchtung fiel hier nicht mehr hinein. Was, wie ich vermutete, als Ladezone begann, verjüngte sich zwischen den Gebäudekomplexen rechts und links davon zu einer Gasse, in der keine zwei Personen nebeneinander hergehen konnten – jedenfalls nicht, wenn eine davon Rourkes breite Schultern hatte. Aber Rourke hatte ja kein Problem damit, mich hinter sich herzuschleifen.

»Rourke, wohin gehen wir?«, flüsterte ich.

»Zu meiner Karre.«

Irgendwie war mir sofort klar, dass er nicht von einem Auto sprach.

Aufmerksam musterte er unterwegs alle Gebäude in unserer Umgebung und nahm dabei ständig Witterung auf. Ich tat es ihm nach. Dann und wann witterte ich einen Werwolf, aber keiner davon befand sich in unserer Nähe. Dabei sollten sie eigentlich in Massen hinter uns her sein. »Rourke, warum sind die nicht hier draußen?«, fragte ich. »Wir sollten in wütenden Wölfen geradezu ersaufen. Sie hätten überall sein müssen, gleich als wir aus der Bar raus sind.«

Rourke sah sich über die Schulter zu mir um. Seine Augen waren nun vollständig grün und glühten im Dunkel wie zwei Smaragdringe. »Entweder dein Rudel beschäftigt sie zu sehr, oder hier geht noch was anderes vor.« Er schnüffelte wieder und runzelte die Stirn. »Mir gefällt das auch nicht. Es ist zu einfach. Irgendwas stimmt nicht. Es fühlt sich nicht nach einem richtigen Krieg an. Es fühlt sich an, als würden sie etwas suchen.«

Noch einmal versuchte ich, mich seinem Griff zu entwinden, und erntete ein leises Knurren. »Mach so weiter, und ich schmeiß mir dich wieder über die Schulter!«

Wir ließen die letzten beiden Gebäude hinter uns und kamen auf einer Straße heraus, der wir dicht an den Fassaden der Geschäfte entlang folgten. Die Gegend war mir vertraut. Dies war der letzte Block, ehe das Viertel an den Eisenbahnschienen endete. Die Gleise verliefen direkt vor einem trockengefallenen Hochwasserschutzkanal über die Straße. Die Gegend sah genauso aus, wie man es erwarten durfte: eine lange Reihe alter, heruntergekommener Häuser, von denen die meisten schon seit Jahren leer standen. Jenseits der Schienen führte ein Highway über eine Hochstraße in die Ferne. Häuser gab es dort nicht mehr.

Vor uns, noch ein Stück die Straße hinunter, sah ich ein einsames Motorrad in einem Arkadengang vor einem aufgelassenen Geschäft parken.

»Wie hast du es geschafft, heute Abend ungesehen von hier aus bis in die Bar zu kommen?«, fragte ich neugierig.

»Ich bin schon seit gestern hier. Hab auf dem Dach der Bar geschlafen und bin die Feuerleiter runter.«

»Auch eine Möglichkeit.« Listige Katze.

Rourke zuckte mit den Schultern. »Das war nicht sonderlich schwer. Nachdem ich dir meinen Namen genannt hatte, war klar, dass dein Rudel alle strategisch in Frage kommenden Örtlichkeiten ausschnüffelt. Die Straße hier fällt nicht darunter.« Er zeigte voraus. »Das ist eine Sackgasse. Zurück geht’s also nur wieder in die Richtung, aus der wir gekommen sind.«

»Und wenn wir jetzt in der Falle sitzen? Kommen wir dann gar nicht mehr hier raus?«

Mit einem Nicken deutete er in Richtung Bahndamm und Hochwasserkanal. Diese trennte nur ein verrosteter Maschendrahtzaun vom Wohnviertel. Vom Gleisbett aus führte dann noch eine Böschung hinunter in den Kanal, die bis zur Hälfte gras- und unkrautbewachsen war, ehe sie in rissig gewordenen, alten Beton überging. Das war alles, was man dem Fluss, der nur bei Extremregen existierte, als Bett gelassen hatte.

»Da rüber? Wie soll das gehen?« Es gab in beide Richtungen auf beinahe zweieinhalb Kilometern keine ernst zu nehmenden Bahnübergänge.

»Wir fahren, Herzchen.«

»Hä?«

Gebrüll wurde hinter uns laut. Rourkes Griff um meinen Arm spannte sich, und er lief noch schneller weiter. Als wir beinahe die altehrwürdige Harley Davidson erreicht hatten, drehte ich mich um und sah ihn: jemanden, der in hohem Tempo um die Ecke raste und dabei wilde Flüche über die Schulter brüllte – jemanden, der mir nur allzu vertraut war.

Herrgott noch mal! »Tyler!«, schrie ich.

Schlitternd kam er zum Stehen. Seine Augen leuchteten golden. Sein Hemd war zerfetzt und voller dunkler Flecken.

»Ist das da Blut? Bist du verletzt?«, schrie ich und versuchte mit aller Kraft, mich loszureißen. Aber Rourke hielt mich nach wie vor fest. »Tyler, antworte mir!« Dann drehte ich mich wieder um. »Rourke, lass mich los!«

Tyler rannte auf uns zu. »Verdammt, lass sie los, Katze!«

Rourkes Muskeln unter der Lederjacke spannten sich an. Er machte sich kampfbereit. Mich loszulassen, war offenbar keine Option.

Ehe Tyler uns erreichen konnte, schleuderte hinter ihm, wie die typische U-Haul-Lackierung verriet, ein Miet-Truck um die Ecke. Offenbar hatten sich Tylers Angreifer eine Fahrgelegenheit organisiert. Der Truck bremste mit quietschenden Reifen. Die Hinterachse brach seitwärts aus, sodass der Truck erst zum Stehen kam, als er die Straße vollständig blockierte.

Da die Sackgasse, dort ein U-Haul-Truck voller Southern-Werwölfe.

»Wir sitzen gottverdammt in der Falle!«, donnerte Rourke. »Rauf auf den Sozius, los!« Gegen meinen Willen zerrte er mich die letzten paar Schritte zu seinem Motorrad und schubste mich darauf zu, während er von der anderen Seite aufstieg. Schon hatte er den Seitenständer einklappt und den Motor gestartet, der brüllend zum Leben erwachte. »Steig auf, sofort!«, übertönte Rourke den Motorlärm der Maschine.

Ich rührte mich nicht. Tyler hatte mich binnen zwei Schritten erreicht und packte mich am Arm. »Was zum Teufel ist hier los? Warum bist du mit ihm abgehauen?« Ich sah ihm an, dass er noch dabei war zu verarbeiten, was Rourke gerade gesagt hatte.

»James hat beschlossen, ihm zu vertrauen«, erklärte ich rasch. »Und Dad hat ihn unterstützt. Rourke hat mich aus der Bar gebracht, als der Kampf gerade losgegangen ist, und dann hierhergeführt.« Gegen meinen Willen, aber das verschwieg ich Tyler. Denn er konnte sich auch so ein Bild machen. Vermutlich war Vater in der Bar immer noch in einen Kampf verstrickt. Anderenfalls wäre das Rudel über meinen Verbleib oder zumindest über die Person, die bei mir war, längst informiert.

»Jess, du musst von hier verschwinden!«, flehte mich Tyler an. »Wir sind mitten im Krieg – und du bist die Kriegsbeute, um die es geht! Du musst weg, sofort, auch wenn dir keine andere Möglichkeit bleibt, als mit dieser … verfluchten Katze zu gehen!« Widerwille stand ihm ins Gesicht geschrieben. Aber ich wusste, er würde sich fügen, da sein Alpha die Sache bereits sanktioniert hatte.

Verdammt! »Tyler, ich will nicht weg. Ich will bleiben und kämpfen! Mein Platz ist hier bei meinem Rudel. Ich will nicht behütet werden wie ein zerbrechlicher Gegenstand.«

Die Türen des Trucks sprangen auf, und ein halbes Dutzend fremder Wölfe in menschlicher Gestalt rannte auf uns zu. Es blieb keine Zeit, um sich einen Plan zurechtzulegen. Keine zwei Sekunden, und sie hätten uns erreicht.

Tyler stieß mich hinter sich, um mich mit seinem Körper zu decken. Dabei schubste er mich auf Rourke zu und schrie: »Hau ab! Hau zum Teufel noch mal ab, solange du noch kannst!«

»Nein! Ich will kämpfen. Lass mich dir helfen!«, rief ich. »Ich kann kämpfen!«

»Nein!« Nein. Er schaltete auf mentale Kommunikation um. Jessica, bitte, du kannst es nicht! Du bist noch nicht für den Kampf geschult. Und ich kann dich nicht beschützen und gleichzeitig kämpfen. Du bringst uns nur beide in Gefahr, wenn du bleibst!

»Ich kann dich doch nicht im Stich lassen. Nein, niemals!« Ich kneife nicht, hast du mich verstanden?

Tyler ignorierte mich und starrte Rourke an. »Bring sie hier weg, Katze! Außer dir ist niemand mehr da. Aber fass sie bloß einmal falsch an, dann, das schwöre ich dir, reiße ich dich mit bloßen Händen in Stücke! Hast du verstanden? Ich schwöre es bei meinem Leben!« Tyler sah wieder mich an. »Geh, Jess, das ist ein Befehl! Los jetzt!«

Zur Antwort drehte der Motorradmotor hoch. Reifen quietschten hinter mir. Doch ehe Rourke bei mir war, riss ich mich von Tyler los, der mich Rourke entgegenstoßen wollte, und zog blitzschnell beide Wurfmesser aus meinen Ärmeln.

Vornübergebeugt brachte ich mich in Wurfposition. Ohne das geringste Zögern warf ich die Messer auf die beiden angreifenden Wölfe, die uns am nächsten waren. Die eine Klinge durchbohrte mit einem befriedigend satten Laut die Luftröhre des einen Wolfes, ein Volltreffer. Der Getroffene ging zu meiner großen Genugtuung auch gleich zu Boden. Die andere Klinge jedoch verfehlte ihr Ziel. Sie bohrte sich in die Schulter des zweiten Angreifers, ohne dabei großen Schaden anzurichten. Es hielt ihn nicht auf, sondern brachte ihn nur noch mehr in Rage. Kurz blieb er stehen, um sich das Messer herauszureißen, und knurrte bösartig.

Jetzt geht’s los. Meine Wölfin heulte.

Tyler sprang vor. Er hatte keine Wahl, er musste die beiden nächsten Wölfe angreifen. Geduckt nahm ich Kampfhaltung ein. Endlich – endlich!  kamen die Muskeln unter meiner Haut in Bewegung, wuchsen und dehnten sich, veränderten sich, bereiteten mich auf den Kampf vor. Der wütende Wolf, dessen Schulter ich getroffen hatte, hatte mich beinahe erreicht. Sobald der Scheißkerl seine schmutzigen Hände nach meiner Kehle ausstreckte, würde ich ihn zu Boden schicken! Meine Augen fixierten ihn wie Laserstrahlen. Er dachte, ich wäre schwach.

Falsch gedacht.

Aber ehe er mich erreicht hatte, riss mich etwas zurück.

Mein Angreifer bellte seine Wut hinaus.

Was zum Teufel …! Die Straße bewegte sich unter mir. Rourkes Arm umklammerte meine Taille; mein Hintern berührte kaum die Kante des Soziussitzes.

»Steig auf die gottverdammte Karre!«, brüllte Rourke.

Mir blieb keine Zeit zu protestieren. Im nächsten Moment trafen wir auf dem Bordstein auf und flogen himmelwärts – ein paar Herzschläge lang, bis die Schwerkraft uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Ehe das geschah, gelang es mir, mein Bein über den Sitz zu werfen und mich mit aller Kraft an Rourkes Jacke festzuklammern. Wir schossen den Bahndamm hinauf und krachten durch den rostigen Zaun, als wäre er gar nicht da. In irrwitziger Geschwindigkeit hüpfte das Motorrad übers Gleisbett und dann, Nase voran, den grasbewachsenen Hang zum Kanal hinunter. Jede Unebenheit fühlte sich an wie ein ganzer Berg, der uns entgegen zur Begrüßung aus der Böschung sprang.

Rourke ließ die Maschine die Böschung hinunterwedeln, als sei sie ein Snowboard. Erst im letzten Moment brachte er das Gefährt auf Parallelkurs zum Kanalbett, kurz bevor wir auf dem Betonboden auftrafen. Da Rourke den Aufschlagwinkel gut gewählt hatte, wurde der Aufprall abgemildert. Dennoch geriet die Maschine ins Torkeln. Die Stoßdämpfer gaben das hohe, protestierende Ächzen und Schrillen überbeanspruchten Metalls von sich. Aber sie hielten stand und damit das Bike einigermaßen aufrecht.

Als wir auf den Betonboden hüpften, öffnete ich mühsam die Augen und schrie: »Rourke, du Scheißkerl! Wenn ich hätte sterben wollen, hätte ich auch bleiben und kämpfen können!«

Er riss das Motorrad hart nach rechts, und alle Muskeln unter seiner Jacke spannten sich gleichzeitig. Seine Kraft war spürbar, als er den Stiefel vom Pedal nahm, um uns zu stabilisieren. Funken stoben vom Beton auf. Als Rourke die schwere Maschine schließlich vollständig aufgerichtet hatte, rief er mir über die Schulter zu: »Sind ja wohl noch ziemlich lebendig, wir zwei, Herzchen!«

»Klugscheißer!«, brüllte ich zurück. Über meine Schulter sah ich zwei Wölfe, immer noch in menschlicher Gestalt, auf den Gleisen herumstolpern. Ein Dritter kam hinter ihnen gerade über den Kamm der Böschung. Ich war erleichtert. Denn wenn sie hinter mir her waren, ließen sie wenigstens Tyler unbehelligt. »Rourke, sie folgen uns! Ich hoffe, du hast einen Plan.«

Ich suchte meinen Bruder. Ty, alles in Ordnung? Kannst du mich hören?

Der vertraute sanfte Hauch wie ein Streicheln. Jess … kämpfe … kann dich nicht hören … bring … Sicherheit  Und damit brach die Verbindung zu ihm ab.

Offenbar waren wir nicht imstande, uns zu unterhalten und gleichzeitig zu kämpfen. Das ergab Sinn. Denn Kämpfen erfordert einen Haufen geistiger Kapazitäten. Mein Vater hatte sich auch nicht bei mir gemeldet, was wohl bedeutete, dass er ähnlich beschäftigt war. Vielleicht war das der Grund, warum ich ihn hatte aussperren können: Ich war in Kämpfe verwickelt gewesen. Beides gleichzeitig, kämpfen und mental kommunizieren, konnte ich eben nicht.

Unsere Verfolger ließen sich zu Boden fallen, um sich zu wandeln. In Wolfsgestalt würden sie wahnsinnig schnell sein. Und sie hatten unsere frische Fährte.

»Sie wandeln sich!«, brüllte ich Rourke zu. »In ungefähr drei Minuten wird es hier vor Wölfen nur so wimmeln!«

»Dann ist es ja gut, dass wir von hier verschwinden!«, antwortete Rourke, während er brutal am Lenker riss und einen kleinen grasbewachsenen Hang hinaufraste. Während wir den Kanal entlang Distanz zu den Wölfen aufgebaut hatten, hatten sich dessen Seitenwände stark verjüngt. Es war also wesentlich leichter, aus dem Betonbett wieder herauszukommen, als es gewesen war hineinzugelangen. Das Motorrad hüpfte über den Kamm der Böschung, krachte durch einen weiteren Zaun und küsste den Asphalt einer Straße, die unter dem Highway hindurchführte. Mit qualmenden, quietschenden Reifen wendete Rourke die Maschine. Noch schlingernd rasten wir gleich darauf auf eine Auffahrt zu und diese nach einem weiteren Drehmanöver hinauf.

Drei Wölfe in ihrer wahren Gestalt, zwei vornweg, einer hing etwas zurück, setzten uns in enormem Tempo hinterher, mussten ihre Jagd aber am Highway aufgeben. Wölfe auf der Straße, das haute nicht hin. Kein Vorteil für uns. Sie hatten unsere Witterung. Und ihre Kollegen in dem U-Haul-Truck würden sie in wenigen Minuten einsammeln.

Falls Rourke nicht einen ganz unglaublichen Plan hätte, würden sie uns bis in alle Ewigkeit auf den Fersen bleiben. Ein ätzend riechendes Weibchen und eine einzigartige Katze auf einem Motorrad – wir wären verdammt leicht aufzuspüren.

Ich löste meinen Klammergriff um Rourke, als wir auf der Schnellstraße waren. Vermutlich würde es mich nicht umbringen, sollte ich vom Motorrad fallen. Aber ich war gewohnt, mich wie ein Mensch zu verhalten, und es würde noch eine Weile dauern, bis ich damit aufhören könnte.

Derlei Probleme waren Rourke offenkundig fremd.

Meine Hand versank in meiner Jackentasche, während sich Rourke im Zickzack einen Weg durch den Verkehr suchte. Unter den Fingerspitzen spürte ich den Panikknopf. Ich strich ein paar mal darüber, um dem Glück auf die Sprünge zu helfen, und drückte ihn dann. Er würde mir jetzt auch nicht helfen, aber es fühlte sich gut an, ihn in der Hand zu halten. »Nick, ich könnte bald eine Mitfahrgelegenheit brauchen«, erklärte ich der Luft, die mir in das unbehelmte Gesicht peitschte.

»Was?«, rief Rourke über die Schulter.

»Nichts«, grollte ich. »Hab nur gebetet, dass du einen anständigen Plan hast!«