KAPITEL VIER

Tyler war in der Küche. Ein säuberlicher Stapel Sandwiches wartete zusammen mit Kaffee zum Mitnehmen auf dem Küchentisch. Ich hatte den Kaffee, den mir der Doktor vor der Besprechung angeboten hatte, gar nicht mehr bekommen. Nick und ich schnappten uns die Getränke und ein paar Sandwiches und folgten Tyler zur Tür hinaus. Mein Vater und James waren bereits losgezogen, um sich um die anderen Wölfe zu kümmern. Wir drei hatten nun vor, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

Ich leckte mir die Lippen. »Ich bekomme alle fünf Sekunden Hunger. Ist das normal?« Ich nahm einen großen Bissen. Herrje, nie zuvor hatten Schinken und Käse so gut geschmeckt! Es war, als wäre das Sandwich mit einer Art übernatürlichem Geschmacksverstärker gewürzt worden.

»Gewöhn dich daran, Appetit zu haben!« Tyler kicherte. »Wölfe essen viel.«

»Damit komme ich schon klar«, murmelte ich mit vollem Mund. »Aber darum geht es nicht – das ist wie eine Art Superessen. Es schmeckt so viel besser. Der Käse ist wirklich … käsiger

Nick lachte, aber es klang mehr wie ein Schnauben. »Da arbeiten schon deine neuen und verbesserten Geschmacksknospen. Sie funktionieren nicht nur besser, du hast jetzt auch mehr davon. Aber sei vorsichtig! Denn wenn du in etwas Unangenehmes beißt, ist das, als würdest du einen Mülleimer auslecken.«

Wir gingen zur Hauptzufahrt. Da mein Besuch im Habitat ein bisschen ungeplant verlaufen war, hatte ich nichts zu packen. Wir umrundeten die letzte Kurve vor der Grünfläche und sahen zu meiner Verwunderung, dass ein paar Wölfe in menschlicher Gestalt am Rand des Rasens auf uns warteten, gleich dort, wo der Parkplatz anfing.

Tylers Stimme hallte durch meinen Verstand. Bleib ganz ruhig. Das sind Hank und Stuart. Er ging langsamer, und Nick und ich folgten seinem Beispiel. Was zum Teufel machen die hier draußen? Sie sollten doch im Gemeindehaus bleiben, bis du fort bist. Die zwei waren misstrauischer als alle anderen, als sie erfahren haben, dass du zurück bist.

Kaum überraschend, oder? Meine Intimfeinde in der heimischen Gemeinde sind misstrauisch – na, wie kommt das bloß? Hank Lauder und sein Sohn Stuart waren vom ersten Tag an gegen mich gewesen. Hank war beinahe so alt wie mein Vater. Aber er gehörte erst seit zwanzig Jahren zum Rudel. Davor war er ein Rudelwolf der Southern Territories gewesen. Dort jedoch war er aus mir unbekannten Gründen ausgestoßen worden. Hank besaß Einfluss und produzierte sich gern. Er war der Anführer der Initiative gegen mich gewesen, die die meisten Anhänger gefunden hatte, damals, als ich noch im Habitat gelebt hatte. Er hatte jüngere Wölfe aufgestachelt und auf Linie gebracht. Sie hatten ihm die Schmutzarbeit abnehmen sollen, von miesen Sticheleien bis zu fliegenden Fäusten. Wenn jemand mit dem Finger auf mich zeigen wollte, war Hank sicher der Erste in der Warteschlange.

Die Stimme meines Bruders drang erneut in meinen Verstand. Keiner der Wölfe weiß, was los ist, auch die beiden nicht. Leider sind sie nicht so dumm, wie sie aussehen.

Es gibt auf dieser Welt niemanden, den ich mehr verachte als Hank Lauder. Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht, als ich noch hier war. Als wir uns näherten, konnte ich an den mürrischen Gesichtern der Lauders ablesen, dass sie keine Ausrede schlucken würden. Wir müssen vorsichtig sein, damit wir uns nicht verraten.

Hanks Nasenflügel bebten, als wir vor ihnen stehen blieben. »Du riechst anders!«, bemerkte er anklagend, an mich gewandt. Der Kerl vergeudete keine Zeit. Sein charmanter Südstaatenakzent klang nach einem netten Burschen mit einem Bauch voller herrlichem gedeckten Apfelkuchen. Tatsächlich kam er mir eher vor, als wäre er selbst der Kuchen – unter dem Teigdeckel ein Haufen wütender Wespen. »Irgendwie wie ein Werwolf, aber irgendwie auch nicht.« Er atmete noch einmal tief ein, kostete. »Mehr wie eine läufige Mischlingshündin.«

Na, wenn das kein nettes Bild war!

Ich hatte es nicht gewollt. Aber meine Kampf-oder-Flucht-Reaktion schoss an die Oberfläche, als Adrenalin mich durchströmte, angeheizt von Hanks unverkennbar aggressivem Geruch. Meine Muskeln zuckten unter der plötzlich zu engen Hülle, die meine Haut für sie war, und meine Nervenimpulse zündeten wie eine Million winziger Feuerwerke. Scheiße, ich hatte keine Ahnung, ob ich in der Lage wäre, die Kontrolle zu behalten, oder ob meine Wölfin die Sache an meiner Stelle auskämpfen würde. Einen Kampf um die Herrschaft über mich konnte ich in diesem Moment unmöglich durchstehen, ganz davon abgesehen, dass ich mich vor diesen beiden Versagern bestimmt nicht verraten wollte.

Ich zwang mich, einen Schritt zurückzutreten.

Kämpfen! Meine Wölfin regte sich in meinem Verstand, drang darauf, die Kontrolle an sich zu reißen.

Ich krümmte die Finger, ballte die Fäuste, zerdrückte den leeren Styroporbecher, bis er zerbröselte. Mit einiger Mühe beherrschte ich den Drang, Hank seinen eigenen Arsch auf dem Silbertablett zu servieren. Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen. Das war alles, was ich tun konnte, um mich unter Kontrolle zu halten. Ruhig, Mädchen, zischte ich tonlos. Das ist nicht die richtige Zeit und nicht der richtige Ort! Wenn wir gegen Hank kämpfen, verlieren wir alles, was wir uns aufgebaut haben. Ich hielt stand. Aber die Kraft in mir war schwindelerregend. Sie stemmte sich mit der Gewalt eines Tornados gegen mich.

Hanks Augen weiteten sich vage überrascht, aber er hatte sich schnell wieder im Griff. »Ja, genau wie eine läufige Hündin!« Er presste ein Glucksen zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber nicht wie ein echter Werwolf. Denn kein anständiger Wolf würde derartig stinken.«

Er wollte mich aus der Reserve locken.

Das war sein natürlicher Wolfsinstinkt. Ich wusste es. Er wusste es. Wir alle wussten es. Ob er mich für einen Wolf hielt oder nicht, war an diesem Punkt ohne Bedeutung. Dies war eine Stresssituation, und ein Wolf wie Hank verströmte ununterbrochen Dominanz und fürchtete stets um seinen Platz in der Rangordnung. Da war er ganz anders als James und Tyler, die ihre Dominanz durch rohe Gewalt gefestigt, sich Respekt verdient hatten. Die beiden hatten dafür gesorgt, dass die anderen Wölfe vor Auseinandersetzungen, die sie nicht gewinnen konnten, auf der Hut waren. Ein Wolf konnte Macht wittern, und die Übergangsriten in unserer Art waren hart. Regelmäßig kam es zu Rangkämpfen. Die Rudeldynamik war in stetem Fluss. Es gab nur eine Konstante: Die Schwachen fielen in der Rangordnung ab, die Starken stiegen auf.

Ich atmete flach, und plötzlich durchbohrte mich die Erkenntnis wie ein Pfeil: Würden Hank und ich jetzt kämpfen, gewänne ich. Haushoch. Es war nicht wichtig, dass Hank älter und stärker war. Es war nicht wichtig, dass oder ob er zu Recht auf einer höheren Rangstufe stand als ich.

Ich wusste es einfach.

Im Rausch dieser Erkenntnis kippte die emotionale Waagschale zugunsten meiner Wölfin, und ein Lächeln huschte über mein Gesicht, ehe ich in der Lage war, es aufzuhalten. Ohne recht zu wissen, was ich tat, hob ich den Kopf, die Augen auf Halbmast, und ließ mich von der Ekstase meiner neuen Wölfin überfluten.

Ihre Kraft war wie eine Droge. Und sie gefiel mir.

Meine Augen nagelten Hanks Scheißefresser-Grinsen mit bösem Blick fest. Als ihm das höhnische Grienen aus dem Gesicht fiel, jagte das einen neuen Adrenalinstoß durch meine Adern. Die Wirkung traf mich mit solcher Wucht, dass meine Finger förmlich unter dem Gefühl explodierten. In gerade genug Zeit für einen einzigen Atemzug wuchsen meine Nägel, bildeten spitze Klauen aus. Für einen Wolf bedeutete das Halten von Augenkontakt eine ultimative Herausforderung.

Und ich wandte den Blick nicht ab.

Etwas tief in meinem Hinterkopf nagte an mir, und in der Stimme meines Bruders lag etwas wie Panik. He, gaaaaanz ruhig! Es gibt keinen Grund, jetzt auf Konfrontation zu gehen. Lass den Scheiß, dräng’s zurück, sofort! Hörst du, was ich dir sage? Du bist bereits zu weit gegangen. Du dürftest gar kein reinrassiger Wolf sein, weißt du noch? Du musst aufhören!

Sagt wer?, lallte ich mehr, als dass ich sprach.

Hank hielt meinem Blick trotzig stand, und seine Augen blitzten bernsteinfarben. Einen halben Herzschlag später leuchteten sie strahlend gelb.

Mein Bruder rempelte mich an. Hör auf damit! Senk den Blick, lass den Arsch in Ruhe! Du dürftest gar kein Wolf sein! Das ist typisches Dominanzverhalten, und wenn Hank dich da reinzieht, kannst du deiner Freiheit Adieu sagen. Senk deinen Blick, verdammt! Tu so, als wäre das nur ein Versehen! Als hättest du keine Ahnung, was du tust.

Ich riss meinen Blick von Hank los.

Meine Wölfin heulte in meinem Verstand auf, und ich zitterte, so stark war das Bedürfnis, diesen Kampf zu Ende zu bringen. Aber ich hatte keine Wahl, ich musste es lassen. Tyler hatte recht. Würde ich jetzt kämpfen, so wäre das, als legte ich meinen Royal Flush schon auf den Tisch, ehe meine Mitspieler ihren Einsatz gebracht hätten.

Ich trat noch einen Schritt zurück und gab mir alle Mühe, harmlos und sanft dreinzublicken. Ich hielt den Blick abgewandt, ließ ihn nur kurz über Hanks blasiertes Lächeln und weiter zu Stuart, Hanks Sohn, wandern. Stuart wirkte dank meines plötzlichen Rückziehers eindeutig schadenfroh. Den Augenkontakt abzubrechen, bedeutete, Schwäche zu zeigen. Das aber ging mir unglaublich gegen den Strich.

Meine Wölfin knurrte in mir.

Nicht hier, tadelte ich sie. Wir können nicht kämpfen. Es war total irre, aber ich konnte sie deutlich in mir wahrnehmen, getrennt von mir und doch ich.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Hank die Arme vor der Brust verschränkte und in rasch aufeinanderfolgenden Wellen Gefahr verströmte.

Was jetzt?, fragte ich meinen Bruder. Meine Finger zuckten. Denn noch immer hing der Odem der Herausforderung in der Luft. Es war wie ein Geruch mit einem scharfen Beigeschmack, wie etwas Bitteres, vermengt mit Rauch. Meine Nägel schrumpften wieder auf ihre normale Größe. Meine Wölfin hielt sich zurück, aber um Haaresbreite wär’s passiert. Sie war angespannt, sprungbereit und noch immer begierig, es auszufechten.

»Wir sehen uns noch, Miststück!«, sagte Hank, machte abrupt auf dem Absatz kehrt und ging den Hang hinauf. Stuart folgte ihm wie ein Welpe.

Gut gemacht, Jess! Tyler seufzte es. Erstklassige Arbeit! Die Einheimischen aufgewiegelt, wie wir es gerade eben nicht tun wollten! Gott allein weiß, was die jetzt glauben. Hank wird sicher denken, dass du ein Wolf bist. Aber wenigstens hält er dich für schwach.

Frustriert stieß ich die Luft aus, immer noch damit beschäftigt, meine Wölfin zu besänftigen. Ich weiß. Ich habe es total vermasselt. Verdammt. Ich hab’s einfach nicht in den Griff bekommen. Dieses verrückte Gefühl ist aus dem Nichts über mich hereingebrochen. Und dann waren da all diese Gerüche, und das war so verwirrend. Ich wollte kämpfen. Ich habe all meine Kraft aufbringen müssen, um meine Wölfin zu zügeln. Ich bin nicht sicher, ob ich das beim nächsten Mal wieder schaffe. Der Gedanke, dass ich etwas in mir hatte, das ich nicht zu beherrschen wusste, eine Art von entsicherter Waffe, die jeden Moment losgehen konnte, machte mich nervös. Ich hoffte inständig, das mein Vater keinen Fehler begangen hatte, als er mich nicht am Bett festgekettet hatte.

Tja, vielleicht fühlst du dich ja besser, wenn ich es dir erzähle: Ich habe verdammt viel länger gebraucht, um meinen eigenen Wolf unter Kontrolle zu bringen. Das war ein bestialischer Kampf, und das ist es manchmal immer noch. In Anbetracht der Umstände schätze ich, dass du dich besser geschlagen hast, als ich es in deiner Lage gekonnt hätte. Verdammt, ich wollte Hank ja selbst den Kopf abreißen!

Ich gluckste und fühlte mich etwas erleichtert. Danke, kleiner Bruder!

Grmpf.

Es wurde echt Zeit, von hier zu verschwinden.

»Himmel, Jess«, meinte Nick, als wir in seinem Honda wegfuhren. »Der Geruch, den du da drüben verströmt hast, war ja geradezu toxisch! Pures Adrenalin, vermischt mit Zorn. So etwas Seltsames habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gerochen.« Er schüttelte den Kopf und warf mir kurz einen forschenden Blick zu. »Ich habe ehrlich nicht daran geglaubt, dass wir heil da rauskommen. Hast du Hanks Gesichtsausdruck gesehen?«

»Ja, klar. Weiß ich auch alles selber.« Ich lehnte den Kopf an die Kopfstütze und schloss die Augen. »Ganz ehrlich, wenn es zum Schlagabtausch gekommen wäre, hätte Hank mir erst den Kopf abgerissen und anschließend Fragen gestellt. Ich habe keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Für einen Moment war meine Wölfin fest davon überzeugt, sie könnte ihn besiegen. Aber er ist mir Hunderte von Jahren überlegen. Ich hatte nicht die geringste Chance, ihn zu besiegen, egal, was meine Wölfin geglaubt hat.« Ich rieb mir das Gesicht mit beiden Händen. »Uah, wie soll der jetzt noch denken, ich wäre kein Wolf? Offensichtlich rieche ich wie einer – oder zumindest wie was Vergleichbares, etwas Grässliches. Wir wissen beide, dass kein Mensch einen Wolf einfach so aufstacheln könnte. Ich bin so was von am Arsch!«

»Stimmt, du riechst, aber du riechst nicht gerade wie ein Wolf. Das ist dein Vorteil. Allein anhand deines Geruchs kann Hank keine sicheren Schlüsse ziehen. Und, um auch mal etwas Positives zu sagen, du wirst zumindest kein Versagerwerwolf sein«, meinte Nick. »Hank Lauder dermaßen die Stirn zu bieten, dazu braucht es schon einiges an Eiern in der Hose – oder wie immer ich das frauenfreundlicher ausdrücken sollte. Hätte der mich so angegangen, hätte ich mich vermutlich einfach eingenässt und einen Abgang gemacht.«

»Wir können ja auf dem Heimweg Windeln kaufen gehen.« Kichernd drehte ich mich zur Rückbank um. Dort lagen ein kleines Zelt, ein Schlafsack und ein Rucksack nebst einem Campingausweis. Ich sah Nick an. »Meinst du, wer auch immer die Ermittlungen bei meinem sogenannten Wohnungseinbruch führt, wird mir diese Geschichte mit dem spontanen Campingausflug abkaufen?«

»Kommt darauf an, wer den Fall bearbeitet.«

Ich war so oder so nicht gerade beliebt in Polizeikreisen. »Gott, ich hoffe nur, es ist nicht Ray.« Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar. Während der Adrenalinrausch allmählich verebbte, bebte ich vor nervöser Energie. Es nervte, aber ich konnte nichts dagegen tun. »Das wäre das Schlimmste, was passieren kann. Wir haben Stress genug. Zusätzlichen können wir da nicht gebrauchen.« Neben dem Gefühl, ich könnte eine ganze Woche schlafen, quälte mich schon wieder Hunger. Peinlicherweise grummelte mein Magen.

Zeit, mich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Ich fischte mein Smartphone aus dem Bund meiner Pyjamahose, wo ich es während der Besprechung verstaut hatte. Dann hielt ich inne, starrte in meinen Schoß, das Handy in der Hand.

Und fing an zu lachen.

Bis zu diesem Moment war es mir nicht bewusst gewesen. Aber ich hatte gerade eine Machtprobe gegen einen enorm dominanten Wolf in einer ausgeblichenen, rosa karierten Schlafanzugshose hinter mir. »Aarrrgghh«, geiferte ich außer Atem, und mein Lachen klang wie ein wahnwitziger Schluckauf. Ich hielt mir den Bauch und krümmte mich zusammen. Geiles Outfit für eine Machtprobe! »Oh … mein … Gott … Oh … mein …«, stieß ich abgehackt zwischen keuchenden Atemzügen hervor.

»Darf ich mitlachen?« Nick sah vom Fahrersitz zu mir herüber. »Das scheint ja schrecklich lustig zu sein!«

»Es ist … nicht … lustig«, würgte ich hervor. »Ich schwöre es. Mich hat nur plötzlich der Irrsinn dieser ganzen Geschichte … überwältigt.« Ich lachte wieder. »Puh, jetzt geht es mir besser! Irgendwie musste das raus, sonst wär ich sicherlich noch geplatzt!« Ich schnaufte. »Und da wir gerade von Essen reden, können wir bitte irgendwo ranfahren und uns was zum Mitnehmen holen? Ich verhungere!« Wieder fing ich an zu kichern.

»Was immer du brauchst, Jess!« Nick grinste. »Wir wollen ja nicht, dass du allzu früh zusammenbrichst. Denn ob dir das gefällt oder nicht, das ist nur der Anfang.«

Wie ungemein tröstlich!

Ich brauchte über eine Stunde und mehrere dicke Burger um wieder zur Ruhe zu kommen. Ich grub eine Jeansshorts aus dem Rucksack aus und zwängte mich im Waschraum hinein. Nur gut, dass die extrem knappen Dinger wieder in waren. Die Shorts waren alt und eng, aber wenigstens waren sie nicht kariert. Zufrieden versenkte ich auf dem Weg nach draußen meine Pyjamahose im Mülleimer und betete, dass meine behaarten Beine das Zartgefühl der Gäste im Restaurant nicht übermäßig beleidigen würden. Die Meute schien nicht allzu angeekelt. Ich gab mir ja auch ganz besondere Mühe, den Eindruck zu vermitteln, haarige Beine seien normal für mich, und bestellte mein Essen mit einem affektierten europäischen Akzent. Talentiert genug war ich, und Europäer sind bekannt dafür, dass sie Körperbehaarung mögen.

Nick beäugte meine Beine, als ich wieder in den Wagen stieg. Eine seiner Brauen beschrieb einen perfekten Bogen über einem dunkelgoldenen Auge. »Hast du deinen Rasierer vergessen?«

»Halt die Klappe!« Ich fischte mein Handy aus der Mittelkonsole, in der ich es hatte liegen lassen. »He, hast du hier ein Ladegerät? Das Ding ist tot.«

Nick zeigte auf das Handschuhfach, und ich holte das Ladegerät heraus. Bei Hannon & Michaels kauften wir immer die günstigsten Smartphones, da wir die Neigung hatten, sie ungefähr im Monatsabstand kaputt zu kriegen. Den bösen Jungs ist es nämlich egal, ob man was in der Tasche hat, während sie einen verprügeln.

Ich stöpselte das Handy ein, gab ihm einen Augenblick Zeit, ein bisschen Ladung aufzubauen, und schaltete es ein.

»Hast du vor, jetzt bei der Polizei anzurufen?«, fragte Nick, während er uns zurück auf den Highway steuerte. »Oder willst du dir den Schaden erst einmal selbst ansehen?«

»Eigentlich hoffe ich darauf, dass Pete angerufen hat. Ich bin sicher, dass sich die Geschichte sofort im ganzen Revier verbreitet hat, nachdem meine Adresse genannt wurde. Also dürfte Pete auch ziemlich schnell davon erfahren haben. Ich wüsste wirklich gern, bevor wir zurückkommen, wer für den Fall zuständig ist. Hoffentlich, hoffentlich ist es nicht Ray Hart!«

Pete Spencer war der einzige Übernatürliche bei der Menschenpolizei, der mir bekannt war. Jedenfalls war er der Einzige, den ich je hatte aufspüren können. Ich war nie besonders gut darin gewesen, andere Übernatürliche zu erkennen, solange ich selbst keiner gewesen war. Sie waren gut darin, sich ihrer Umgebung anzupassen. Pete war ein Vogelwandler und ein verdammt guter Cop. Er kannte mich als Molly Hannon, einen Reinmenschen, der früher Cop gewesen war und nun für einen Übernatürlichen arbeitete. Polizeiintern hielt er Distanz zu mir. Aber als Nick und ich unsere Detektei eröffnet hatten, hatten wir einen Informationsaustausch zum beiderseitigen Vorteil eingeführt. Ich hatte Pete gerade erst bei einem Fall geholfen und ihm Informationen über eine Gruppe nerviger jugendlicher Zauberer geliefert, die überall in der Stadt Ärger gemacht hatten. Er war mir was schuldig. Hätte er also Informationen für mich gehabt, dann hätte er mich angerufen, das wusste ich.

Als ich ein Signal hatte, rief ich die Mailbox an und gab meinen Code ein. Ich hatte sieben neue Nachrichten. Die erste war vom Hausmeister meiner Wohnanlage, Jeff Arnold, einem bescheidenen Burschen, der sich irgendwie durchmogelte, ohne selbst groß was zu tun. »Äh, hi, Molly, hier ist Jeff. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihre Wohnung ein bisschen verwüstet aussieht. Da ist irgendwie jemand eingebrochen. Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendwas brauchen …« Klick.

Der nächste Anruf war von Nick, der es hervorragend hinbekommen hatte, aufgeschreckt und besorgt zu klingen. Das Telefon ans Ohr gepresst, sah ich ihn an und zeigte ihm den hochgereckten Daumen, wohl wissend, dass er jedes Wort hören konnte.

»Ich weiß, ich bin der Beste.« Nick grinste. »Auf wie viele Möglichkeiten, dir den Arsch zu retten, komme ich? Lass mich mal durchzählen. Erstens …«

Ich verdrehte die Augen.

Der nächste Anruf kam von meinem Vermieter, Nathan Dunn, was mich überraschte. Ich war ihm nach meinem Einzug nur einmal, etwa ein Jahr später, begegnet. Ich schätze, wenn dein Eigentum verwüstet wird, dann hast du ein ganz eigennütziges Interesse daran. Trotzdem verblüffte mich der persönliche Anruf. »Hallo, Ms. Hannon, hier spricht Nathan Dunn, der Eigentümer Ihres Hauses. Ich rufe wegen des Einbruchs in der vergangenen Nacht an und hoffe, diese Nachricht erreicht Sie bei guter Gesundheit. Die Polizei hat mich informiert, dass Sie zum Zeitpunkt des Einbruchs nicht in Ihrer Wohnung waren.« Sie sprachen also von einem Einbruch, die erste gute Nachricht. »Da haben Sie wirklich Glück gehabt. Der Schaden scheint … extrem zu sein. Bitte informieren Sie mich, wann die Wohnung für Reparaturarbeiten zur Verfügung steht! Ich schicke meine Handwerker rüber, sobald es Ihnen passt. Ich möchte das so schnell wie möglich in Ordnung bringen und nehme an, Ihnen geht es genauso.«

Ich zog die Brauen hoch. Nick zuckte mit den Schultern.

Der nächste Anruf war von Marcy. Sie hörte sich panisch an, was vermutlich echt war. Marcy Talbot liebte ihre Alltagsroutine mehr als die Queen von England ihren Tee, und selbst die kleinste Störung brachte ihre Fassung ins Wanken. Sie war die einzige Freundin, die ich je gehabt hatte – oder zumindest die einzige Frau, bei der ich je auf den Gedanken gekommen war, sie könnte meine Freundin sein. Wir veranstalteten keine Pyjamapartys und gingen auch nicht zusammen zur Fußpflege. Aber es gab eine Beziehung zwischen uns. Marcy beendete ihren Anruf mit den Worten: »… und wenn du mir noch einmal so einen Schrecken einjagst, dann mache ich dir das Leben zur Hölle! Darauf kannst du dich verlassen, Prinzessin.« Klick.

Nun folgte ein Anruf meiner Nachbarin Juanita Perez, einer geschiedenen Latina über fünfzig, die, im Gegensatz zu allen anderen Hausbewohnern, nie so recht begriffen hatte, dass ich kein Freund von oberflächlichem Geplauder war. Sie tat aber so, als wäre ich es. »Hola, Chica«, hallte ihr schwer akzentbehaftetes Spanisch durch die Leitung, ehe sie ihre Stimme zu einem heiseren Flüstern senkte. »Hierris Juanita Perez, Ihr Nachbarin in Haus. Etwas Schlimmes passiert hier, Chica. Die Polizei haben mir gesagt, Sie waren nicht su Hause, wenn krachbummbäng, aber ich wissen, Sie waren noch da drin. Ich gehört, Sie kommen in diese Nacht, aber ich werde nicht verraten. Ich werde ihnen nicht sagen. Weil sie Sie nicht gefunden da drin, ich denken, Sie entkommen. Gut für Sie. Ich Ihre Geheimnis wahren, aber, oh, Chica, der Schaden, es ist sooooo schlimm. Ich für Sie beten.« Klick.

Ich drückte die Glückszahl sieben, um ihre Botschaft für alle Zeiten aus meiner Mailbox zu löschen. Dann nahm ich mir vor, ihr zu danken, indem ich ihr eine Flasche Patrón-Tequila kaufte, von dem sie dauernd redete. Vielleicht würde sie dann vergessen, dass sie je angerufen hatte. Andererseits war es definitiv ein echter Bonus für mich, eine Nachbarin zu haben, die bereitwillig meinetwegen die Polizei belog. Juanita konnte ein echter Stachel in meinem interaktiven Fleisch sein. Aber nun wusste ich definitiv, dass sie mir den Rücken freigehalten hatte. Wenn mich dieser Anruf etwas lehren sollte, dann, dass ich eine bessere und gesprächsbereitere Nachbarin werden sollte. So etwas nämlich konnte sich auszahlen.

Der nächste Anruf war der, auf den ich gehofft hatte, und Petes Stimme klang so ruhig und gewissenhaft wie eh und je. »Molly, Pete hier. Sieht aus, als hätte es am Wochenende Ärger in deiner Wohnung gegeben.« Ich hörte, wie er im Hintergrund mit Papieren raschelte. »Hier heißt es, du seist zur Tatzeit des … Übergriffs nicht zu Hause gewesen.« Er las etwas von einem Schriftstück ab. »Das Bett war gemacht, keine Anzeichen für einen Kampf, Blut in deinem Wohnzimmer, Seilstücke auf dem Balkon. Haufenweise Spekulationen. Sieht aus, als wäre deine Wohnung ziemlich übel zerlegt worden. Möglicherweise durch irgendein … Haustier?« Die Verwunderung in seiner Stimme war deutlich zu hören.

Die Polizei dürfte kaum eine passende Erklärung für Fellhaare und Klauenspuren überall auf dem Boden finden. Dass jemand sein Haustier zu einem Einbruch mitnahm, war höchst unwahrscheinlich. Jeder, der ein bisschen Verstand besaß, wüsste, dass Haarproben aus meiner Wohnung zweifelsfrei mit seinem Haustier in Verbindung gebracht werden könnten, womit die Schuld des Halters bewiesen wäre.

Pete fuhr mit monotoner Stimme fort: »Deine Handtasche wurde vor Ort gefunden, aber du warst nicht da. Sieht aus, als hätte ein Anruf in deinem Büro ergeben, dass du, was? Ah, ja: campen warst?« Sein Ton verriet mir, dass dieser Punkt immer noch als spekulativ angesehen wurde. »Ray hat deinen Fall übernommen. Ruf mich an!« Klick.

»Ach, verdammte Scheiße!«, fluchte ich laut und warf das Handy wütend aufs Armaturenbrett. »Fahr einfach direkt zum Gefängnis, und setz mich da ab! Wenn Ray den Fall hat, werden die Ermittlungen so oder so unfair. Also können wir dem Steuerzahler ein bisschen Geld sparen.« Jeder andere, nur nicht Raymond Hart, und ich hätte eine Chance gehabt, mich aus diesem Mist rauszureden! Ich blickte zu Nick hinüber. Er schüttelte mitfühlend den Kopf. »Ist es wirklich zu viel verlangt, wenn ich lieber einen Ermittler hätte, der keine niederträchtige Vendetta gegen mich führt?«

»Offenkundig«, antwortete Nick. »Der lässt sich sicher nicht die Gelegenheit entgehen, dich festzunageln! Wahrscheinlich musste er all seine interessanten Fälle abgeben, nur um auch ja an diese Scheißermittlung zu kommen!«

Ich seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich so dumm sein konnte, mir einzubilden, er würde seine Chance nicht riechen. Klar wollte er diesen Fall haben! Da kann er sich doch so richtig auf meine Kosten in Szene setzen und mich ein für alle Mal abservieren!«

Ray Hart hasste mich. Wenn er endlich beweisen könnte, dass ich der Drogenjunkie wäre, für den er mich hielt, oder dass ich zumindest in höchst illegale Geschäfte verwickelt wäre, wäre das die Krönung seines ganzen Lebens. Gänzlich unbeabsichtigt war ich während meiner kurzen achtzehn Monate bei der Polizei zu seiner Hassgegnerin Nummer eins geworden. Rückblickend hatte ich mit der Entscheidung, zur Polizei zu gehen, die wohl dümmste Berufswahl getroffen, die ich hatte treffen können. Aber ich war jung gewesen und begierig, der Welt zu zeigen, was ich zu bieten hatte. Unglücklicherweise war ich zwar kein echter Wolf, aber dennoch ein weibliches Wesen aus einem erweiterten Genpool. Das bedeutete, dass ich schneller rennen konnte als jeder meiner menschlichen Kollegen, höher springen, schwerer heben, als ich es hätte können sollen, und zu allem Überfluss hatte ich auch noch die besseren Instinkte.

Raymond Hart zufolge war die einzig vernünftige Erklärung für »derartige Kunststücke«, dass ich Crack oder Speed einwarf. Ich musste mit irgendeiner Art von Superdroge gedopt sein, um solche Kraftakte zu vollbringen. Obwohl ich mich bereitwillig diversen Drogentests unterzogen und aktiv an meiner Verteidigung gearbeitet hatte, blieb mir am Ende nur, den Dienst zu quittieren.

Aber da war es schon zu spät, um Ray abzuschütteln.

Als ich die Polizei – zusammen mit Nick, der meinem Beispiel gefolgt war – verlassen hatte, hatte Ray mich stets im Auge behalten. Aus mir unbekannten Gründen war er nicht bereit aufzugeben. Gerüchten zufolge filmte er mich bis heute bei allerlei mysteriösen Gegebenheiten, ob ich gerade vergleichsweise mühelos einen eins achtzig hohen Zaun überwand oder erklärte, wie ich einen Täter nur mit der Hilfe meiner Augen und Ohren in seinem Geheimversteck aufgespürt hatte.

Der Mann war geradezu besessen von mir. Das war für ihn selbst nicht ungefährlich, besonders jetzt, nach den jüngsten Veränderungen in meinem Leben.

Feindselig beäugte ich mein Handy, das noch immer da lag, wo ich es hingeworfen hatte, auf dem Armaturenbrett nämlich. »Da ist noch eine weitere Nachricht auf der Mailbox«, sagte ich. »Es waren sieben, aber ich habe mir nur sechs angehört.« Ich musste mich nicht erst vergewissern, um zu wissen, dass die letzte Nachricht von Ray stammte. Ich sah Nick an. »Ich muss sie mir anhören, nicht wahr?«

»Wenn du wirklich wissen willst, wie die Dinge stehen, dann schon, ja. Wenn nicht, lass es einfach!«

Zögernd nahm ich das Handy vom Armaturenbrett. »Dafür brauche ich einen ordentlichen Schluck Alk!«

Nick lachte. »Tut mir leid, aber der ganze gute Jack Daniels ist zu Hause geblieben!«

Rays Tenor drang wie Öl in meinen Gehörgang. »Hannon, Hart hier. Inzwischen dürften Sie wissen, dass jemand Ihre Wohnung verwüstet hat, zusammen mit seinem gottverdammten Haustier. Sie scheinen beim Campen zu sein.« Er ließ seine Worte eine Sekunde lang wirken, und seine Schadenfreude bohrte sich durch den Lautsprecher direkt in mein Hirn. »Wenn Sie Ihren Arsch von wo immer Sie gerade sind zurückbewegt haben, rufen Sie mich an! Ich brauche eine offizielle Aussage. Keine Scheißspielchen mehr, klar?!« Klick.

Das war alles.

Ein guter Cop wusste, dass ein Verbrechen wie dieses persönlicher Natur war, und Ray war bedauerlicherweise ein guter Cop. Niemand zertrümmert deine Möbel und deine persönliche Habe außer einem betrogenen Liebhaber oder einem Drogendealer, dem du einen Haufen Geld schuldest. Nun, vielleicht noch ein krankes Arschloch auf irgendeiner nur ihm bekannten Vendetta. Darüber hinaus hatten der oder die Vandalen auch noch ihr Haustier mitgebracht. Wer bringt ein Haustier mit zu einem vorsätzlichen Verbrechen? Der einzige Vorteil, den ich noch hatte, das Einzige, was einen Schatten des Zweifels auf die Ermittlungen und meine mögliche Verbindung zur Tat werfen konnte, verdankte ich der talentierten Marcy. Mein persönlichster Raum, mein Schlafzimmer, war intakt geblieben. Der Ort, an dem man sich zur Ruhe bettet, ist normalerweise der erste, den ein rachedurstiger Täter sich vornimmt.

Verdammt, ich würde Marcy künftig wirklich mehr bezahlen müssen!

»Ray kauft dir nie ab, dass irgendein Fremder deine Wohnung verwüstet hat«, meinte Nick.

»Ich weiß.« Nachdenklich fuhr ich mir durchs Haar. »Die einzige Möglichkeit besteht darin, die persönliche Schiene weiterzufahren. Wir müssen irgendeinen alten Fall ausgraben, eine stinkwütende Zielperson, die ein Motiv hätte, in meine Wohnung einzubrechen. Das dürfte nicht allzu schwer sein. Es wurde nichts gestohlen. Also ist es auch nicht nötig, auf einer formellen Anklage zu bestehen.«

»Na, und wird diese geheimnisvolle Person, die wir ausbuddeln, dann auch ein Hundchen haben, dessen Fell exakt zu den Spuren in deiner Wohnung passt?« Nick gluckste. »So leicht wirst du Ray nicht los. Ich wette, der lauert dir noch das ganze nächste Jahr in deinem Hausflur auf, solange der Fall nach seinem Geschmack noch nicht gelöst ist. Er ist ein Bluthund, und du hast ihm ganze fünf Jahre lang nicht den Hauch einer Spur geliefert. Aber jetzt hast du ihm einen Haufen Mist in den Schoß fallen lassen, wie er besser gar nicht sein könnte.«

»Uff. Ich weiß.« Ich feixte Nick von der Seite an. »Aber wenn Ray nicht irgendwann aufgibt, dann kann ich ihn einfach mit meinen neuen Waffen schlagen.« Ich hob die Arme und spannte meinen Bizeps. Die Muskeln sahen nicht besser entwickelt aus als früher. Aber ich wusste, sie konnten verdammt viel mehr Schaden anrichten, wenn ich sie nur richtig einsetzte – und ich hatte die Absicht, sie goldrichtig einzusetzen. »Oder ich lasse mir ein Fell wachsen, oder ich ziehe ihm ein paar tiefe Kratzer mit meinen hübschen neuen Klauen in die Haut.« Ich wackelte mit den Fingerspitzen. Die Klauen waren verborgen, aber es war cool zu wissen, dass sie da irgendwo waren.

»Das wäre sicher eine … wirkungsvolle Taktik«, prustete Nick. »Sofern du den Verstand verloren hättest. Ganz sicher, davon bin ich fest überzeugt, hätte das Ganze keinerlei Konsequenzen für dich. Wie auch.«

Ich seufzte. Natürlich hätte das haufenweise Konsequenzen. Aber eigentlich war das Problem, dass das auf lange Sicht nicht mein Problem war. Nun, da ich zum Rudel gehörte, hatte ich ein Geheimnis zu wahren. Die Wahrung dieses Geheimnisses würde das Rudel im Zweifelsfall ganz selbstverständlich erzwingen. Sollte Ray also weiter seine Nase in Dinge stecken, die ihn nichts angingen, dann hätte das Rudel kein Problem damit, sich um ihn zu kümmern – endgültig.

Ich konnte den Kerl nicht ausstehen. Aber ich war nicht bereit, sein Todesurteil zu unterschreiben.

»Ich werde mich wohl auf meine neuen Muskeln beschränken müssen«, sagte ich und einigte mich mit mir selbst auf ein öderes Leben. »Ich habe die Campingausrüstung und den Ausweis. Das ist nicht viel, dürfte aber ausreichen, um Zweifel daran zu wecken, ich sei beteiligt gewesen. Mehr brauche ich am Ende nicht. Ich muss einfach nur einen betrogenen Liebhaber auftreiben, der eine Vorliebe für große Hunde hat.«

Nick bedachte mich mit einem schiefen Lächeln. »Das ist bestimmt kein Problem, Jess. Wie der Zufall es will, haben wir eine ganze Menge ziemlich großer, wilder Hunde, aus denen wir einen herauspicken könnten.«

Nun prustete ich los. »Wir können keinen Werwolf reinlegen, und keiner von denen würde freiwillig mitspielen. Viel eher bringen die mich hinter Gitter, damit sie sich nicht weiter mit mir befassen müssen. Nicht dass eine Gefängniszelle mich noch festhalten könnte.« Ich grinste. Der Gedanke war nett. Richtig nett.

Ich griff zu meinem Telefon und rief Ray an. Es war besser, das Unausweichliche nicht aufzuschieben. Ich erreichte nur seine Mailbox, was immerhin ein kleiner Sieg war. »Ray, ich bin auf dem Weg zurück in die Stadt. Dürfte in zwei Stunden da sein«, sagte ich. »Wir sprechen uns dann.«

Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass er in eineinhalb Stunden bereits in meinem Hausflur auf mich warten würde.