Kapitel 3

Der Neuanfang fängt an

Barbara, die beste Freundin meiner Mum, fuhr uns zu unserer neuen Bleibe nach Meath. Den ganzen Weg sagte Mum kein Wort. Kein einziges Wort. Auch nicht, wenn man sie direkt ansprach oder etwas fragte. Das war ziemlich schwer zu ertragen, und irgendwann war ich so genervt, dass ich sie anschrie – zu diesem Zeitpunkt habe ich noch versucht, eine Reaktion aus ihr herauszulocken.

Es passierte, weil Barbara sich verfahren hatte. Das Navi in ihrem BMW X5 erkannte die Adresse nicht und schickte uns einfach in den nächsten Ort, den es ermitteln konnte. Als wir diesen Ort, ein Städtchen namens Ratoath, erreichten, musste sich Barbara dann wohl oder übel auf ihr eigenes Gehirn verlassen und konnte nicht mehr auf die Hilfe der Gerätschaften in ihrem SUV zurückgreifen. Leider ist Barbara, wie sich herausstellte, keine große Denkerin. Nachdem wir zehn Minuten auf irgendwelchen Landstraßen mit wenig Besiedlung und keinerlei Beschilderung herumgekurvt waren, wurde sie allmählich nervös. Diese Straßen existierten ihrem Navi zufolge überhaupt nicht. Vielleicht hätte das ein Zeichen für mich sein sollen. Da Barbara es gewohnt war, sich auf ein Ziel zuzubewegen, und nicht, auf unsichtbaren Sträßchen herumzuirren, begann sie Fehler zu machen, fuhr blind über Kreuzungen, geriet gefährlich oft auf die andere Fahrbahn. Leider war ich im Lauf der Jahre auch nicht sehr oft in der Gegend gewesen und konnte ihr nicht viel helfen, aber wir hatten vereinbart, dass ich auf der linken Seite nach dem Torhäuschen Ausschau halten sollte und sie auf der rechten. Plötzlich fauchte sie mich an, ich sollte mich gefälligst konzentrieren und nicht vor mich hin träumen, dabei hatte ich mich nur ein bisschen ausgeruht, weil ich genau sehen konnte, dass es mindestens eine Meile überhaupt kein Tor gab und es deshalb auch sinnlos war, nach einem Torhaus Ausschau zu halten. Das teilte ich Barbara auch mit. Doch sie hatte inzwischen die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht und schimpfte munter weiter, das würde ja wohl nichts anderes als »scheiß drauf« bedeuten, und wenn wir doch schon auf »beschissenen Straßen, die es nicht gibt« herumgondelten, könnte das »beschissene Torhaus«, das wir suchten, doch genauso gut auch »ein beschissenes Haus ohne ein beschissenes Tor« sein. Das Wort »beschissen« so oft aus Barbaras Mund zu hören, war ziemlich krass, denn normalerweise benutzt sie bestenfalls Ausdrücke wie »Pustekuchen« oder »Papperlapapp«, wenn sie sich ärgert.

Natürlich hätte Mum uns helfen können, aber sie saß auf dem Beifahrersitz und betrachtete stumm lächelnd die Landschaft. In meiner Verzweiflung legte ich den Mund ganz dicht an ihr Ohr – okay, ich sehe ein, dass das nicht richtig und auch nicht sehr schlau war, aber es fiel mir echt nichts Besseres mehr ein – und brüllte sie an, so laut ich konnte. Mum zuckte erschrocken zusammen, hielt sich die Ohren zu, und als sie den Schock überwunden hatte, begann sie mit beiden Händen auf mich einzudreschen, als wäre mein Kopf ein Bienenschwarm, den sie verscheuchen wollte. Es tat auch richtig weh. Sie zog mich an den Haaren, kratzte und ohrfeigte mich rechts und links, und ich schaffte es nicht, mich loszureißen. Jetzt hatte Barbara endgültig die Nase voll, fuhr an den Straßenrand und trennte Mum mit Gewalt von mir. Dann stieg sie aus und fing an, schluchzend am Straßenrand auf und ab zu wandern. Ich heulte ebenfalls, und mein Kopf dröhnte, weil Mum ihn so in die Mangel genommen hatte. Dort, wo ich herkomme, ist es Mode, die Haare wie einen Heuhaufen zu stylen, aber Mum hatte meinen sorgfältigen Aufbau total ruiniert, und ich sah aus wie aus der Klapsmühle ausgebrochen. Schließlich kletterte ich auch aus dem Auto, und nun saß Mum allein da, kerzengerade, und starrte wütend geradeaus.

»Komm her, Herzchen«, rief Barbara unter Tränen, als sie mich sah, und streckte mir die Arme entgegen.

Sie brauchte mich nicht zweimal zu bitten, ich sehnte mich nach einer Umarmung. Selbst wenn Mum gut drauf war, hatte sie kein großes Bedürfnis nach Körperkontakt. Sie war extrem schlank, immer auf Diät und hatte zum Essen die gleiche Beziehung wie zu Dad. Sie liebte es, wollte aber meistens nichts davon wissen, weil sie dachte, es wäre nicht gut für sie. Das weiß ich, weil ich mal ein Gespräch zwischen ihr und einer Freundin belauscht habe, als sie um zwei Uhr morgens von einem Ladies-Lunch zurückkam. Was das Umarmen anging, so war es ihr einfach unbehaglich, jemandem körperlich so nahe zu sein. Sie war selbst kein Mensch, der in sich ruhte, deshalb konnte sie auch keine Geborgenheit vermitteln. Genauso, wie man anderen auch keine Ratschläge geben kann, wenn man selbst ratlos ist. Ich glaube nicht, dass andere Menschen unwichtig für sie waren. Ich hatte nie das Gefühl, dass Gleichgültigkeit ihr Problem war. Na ja, manchmal vielleicht schon, aber bestimmt nicht immer und nicht grundsätzlich.

So standen Barbara und ich am Straßenrand, hielten einander im Arm und weinten, und Barbara entschuldigte sich immer wieder, weil das für mich alles so unfair sei. Als sie ausgestiegen war, hatte sie den Wagen ziemlich schräg stehen lassen, und er ragte ein ganzes Stück in die Straße, so dass sich jedes vorbeifahrende Auto verpflichtet fühlte, uns anzuhupen. Aber wir achteten einfach nicht darauf.

Danach hatte die Spannung etwas nachgelassen. Ihr wisst schon – wie sich die Wolken vor dem Regen zusammenballen, so ähnlich war es uns auf dem Weg von Killiney auch ergangen. Das Unwetter hatte sich zusammengebraut und schließlich entladen. Aber weil wir nun die Chance gehabt hatten, wenigstens einem Teil unseres Kummers Luft zu machen, konnten wir uns besser auf das einstellen, was vor uns lag. Wie sich herausstellte, hatten wir dazu allerdings nicht mehr wirklich Gelegenheit, denn als wir um die nächste Kurve bogen, waren wir am Ziel. Trautes Heim, Glück allein. Rechts war ein Tor und kurz dahinter, auf der linken Seite, ein Haus – das Hexenhäuschen. Und hinter dem kleinen grünen Gartentor standen Rosaleen und Arthur, die sicher schon Gott weiß wie lange auf uns warteten, denn inzwischen hatten wir fast eine Stunde Verspätung. Wahrscheinlich hatten sie sich vorgenommen, uns ganz locker und ungezwungen zu empfangen, aber als sie unsere Gesichter sahen, ließ sich die Scharade nicht mehr aufrechterhalten. Da wir nicht gewusst hatten, dass wir schon direkt vor dem Torhaus waren, befanden wir uns in einem reichlich desolaten Zustand. Barbara und ich hatten rote Augen vom Weinen, Mum saß mit grimmigem Gesicht auf dem Beifahrersitz, meine Haare waren völlig zerzaust – na ja, sagen wir mal, noch zerzauster als gewöhnlich.

Wahrscheinlich war dieser Moment für Arthur und Rosaleen ziemlich schwierig, aber ich war so mit mir selbst und meinem Widerwillen gegen diesen Umzug beschäftigt, dass ich keinen Gedanken daran verschwendete, was sie auf sich nahmen – sie stellten ihr Heim zwei Menschen zur Verfügung, zu denen sie eigentlich gar keine Beziehung hatten. Das muss unglaublich aufreibend für sie gewesen sein, aber ich kam kein einziges Mal auf die Idee, mich zu bedanken.

Barbara und ich stiegen aus. Sie ging zum Kofferraum, um das Gepäck zu holen, und vermutlich auch, um uns die Gelegenheit zu geben, uns in Ruhe zu begrüßen. Aber so lief es nicht: Ich blieb wie versteinert stehen, starrte Arthur und Rosaleen an, die sich ihrerseits keinen Schritt hinter ihrem grünen Gartentörchen hervorwagten, und wünschte mir, ich hätte Brotkrümel auf dem Weg von Killiney bis hierher ausgestreut, damit ich den Weg zurück nach Hause finden konnte.

Hektisch wie ein Erdmännchen blickte Rosaleen von einem zum andern und versuchte offenbar, gleichzeitig das Auto, Mum, mich und Barbara ins Visier zu bekommen. Dabei verschränkte sie abwechselnd die Hände vor der Brust und löste sie wieder, um sich das Kleid glattzustreichen – absurde, fahrige Gesten, die mich an ein Mädchen erinnerten, das sich zur Kirmeskönigin wählen lassen will. Schließlich raffte Mum sich auf, öffnete die Autotür und stieg aus. Zögernd setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf den Kies, aber als sie zum Torhaus hochblickte, verschwand auf einmal der Zorn aus ihrem Gesicht, und sie lächelte, dass ihre mit Lippenstift verschmierten Zähne blitzten.

»Arthur!«, rief sie und breitete die Arme aus, als wäre sie selbst die Gastgeberin und würde ihren Bruder an ihrer Haustür zu einer Dinnerparty empfangen.

Arthur schleimschnaubte, atmete den Rotz tief ein – das erste Mal, dass ich diese Art der Kommunikation miterlebte –, und ich rümpfte unwillkürlich die Nase. Dann trat er auf Mum zu. Sie ergriff seine Hände und sah ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an, während das seltsame Lächeln noch immer an ihren Lippen zog wie ein schlechtes Lifting. Mit einer linkischen Bewegung beugte sie sich vor und legte ihre Stirn an seine. Arthur ertrug die Berührung eine Millisekunde länger, als ich es von ihm erwartet hätte, dann tätschelte er Mums Nacken und wandte sich ab, um mir einen Klaps auf den Kopf zu geben wie einem treuen Collie, was meine Haare noch mehr durcheinanderbrachte. Schließlich ging er zum Kofferraum, um Barbara mit dem Gepäck zu helfen. So blieben Mum und ich mit Rosaleen allein und konnten uns ungestört anstarren, nur starrte Mum nicht mit, sondern atmete mit geschlossenen Augen die frische Luft ein und lächelte weiter. Trotz der deprimierenden Situation hatte ich in diesem Moment das Gefühl, dass der Umzug Mum guttun könnte.

Damals habe ich mir nicht so viele Sorgen um sie gemacht wie heute. Seit Dads Begräbnis war erst ein Monat vergangen, und wir fühlten uns beide noch wie betäubt und unfähig, viel miteinander – oder auch mit anderen – zu sprechen. Die meisten unserer Bekannten waren so damit beschäftigt, uns nette Dinge, taktlose Dinge oder was ihnen sonst so in den Kopf kam, zu sagen – manchmal kam es mir fast so vor, als müssten wir sie trösten, statt umgekehrt –, dass Mums Verhalten gar nicht weiter auffiel. Genau wie alle anderen seufzte sie gelegentlich und ließ hier und da ein paar passende Worte fallen. Eigentlich ist eine Beerdigung wie ein Spiel. Man muss einfach mitmachen, das Richtige sagen, das Richtige tun und ansonsten abwarten, bis es vorbei ist. Freundlich sein, aber auch nicht zu viel lächeln, traurig aussehen, aber nicht zu traurig – man möchte ja nicht, dass die Familie sich noch schlechter fühlt –, Hoffnung verbreiten, aber nicht so, dass der Optimismus als Mangel an Mitgefühl oder als Unfähigkeit zur Realitäts- bewältigung ausgelegt werden kann. Denn wenn alle absolut ehrlich wären, würde es jede Menge Krach und Streit geben – Schuldzuweisungen, Tränen und Geschrei.

Ich finde, es müsste einen Realitäts-Oscar geben. Und der Oscar für die beste Hauptdarstellerin geht an Alison Flanagan! Dafür, dass sie letzten Montag ordentlich geschminkt und geföhnt durch den Hauptgang im Supermarkt marschiert ist, obwohl sie eigentlich sterben wollte, und dabei sogar noch Sarah und Deirdre von der Elternvertretung freundlich angelächelt und sich überhaupt nicht so benommen hat, als wäre sie gerade von ihrem Ehemann mit drei Kindern sitzengelassen worden. Bitte, Alison, kommen Sie auf die Bühne und nehmen Sie Ihre wohlverdiente Auszeichnung entgegen! Der Preis für die beste Darstellerin in einer Nebenrolle geht an die Frau, wegen der Alisons Mann sie verlassen hat. Sie hat nur zwei Gänge weiter am Regal gestanden und so hastig den Supermarkt verlassen, dass sie zwei Zutaten für die Lieblings-Lasagne ihres neuen Freunds vergessen hat. Als bester Hauptdarsteller wird Gregory Thomas ausgezeichnet, und zwar für seine Leistung beim Begräbnis seines Vaters, mit dem er die letzten zwei Jahre kein Wort gewechselt hat. Bester Nebendarsteller ist Leo Mulcahy für seine Rolle als Trauzeuge bei der Hochzeit seines besten Freunds Simon mit der einzigen Frau, die Leo jemals wirklich geliebt hat und lieben wird. Kommen Sie und holen Sie Ihre Trophäe ab, Leo!

Damals dachte ich, Mum würde einfach die Rolle der guten Witwe spielen, aber als sich ihr Verhalten nicht änderte und ich immer mehr den Eindruck gewann, dass sie wirklich nicht wusste, was um sie herum abging, als sie die gleichen kleinen Worte und Seufzer einfach weiter bei jedem Gespräch benutzte, fragte ich mich, ob sie vielleicht bluffte. Ich frage mich immer noch, wie viel sie tatsächlich begreift und wann sie uns nur was vorspielt, um sich nicht mit der Wirklichkeit auseinandersetzen zu müssen. Dass sie sich unmittelbar nach Dads Tod sonderbar verhalten hat, ist ja verständlich. Aber als die anderen sich dann wieder ihrem eigenen Leben zuwandten, wurde sie nicht etwa langsam wieder normal, sondern driftete immer weiter ab, und offenbar war ich der einzige Mensch, der das bemerkte.

Es war keine überzogene Maßnahme der Bank, uns hochkant aus unserem Haus zu werfen. Man hatte meinem Dad das Datum der Zwangsräumung längst mitgeteilt, er hatte nur vergessen, die Information an uns weiterzugeben – genau wie er auch vergaß, uns Lebewohl zu sagen. Irgendwann hätten wir sowieso gehen müssen, und man ließ uns schon wesentlich länger bleiben als angedroht. Als es so weit war, konnten Mum und ich für eine Woche in Barbaras Haus unterschlüpfen, im hinteren Teil, wo sonst ihre philippinische Kinderfrau wohnt. Aber schließlich mussten wir da auch weg, weil Barbara den Sommer in ihrem Haus in St. Tropez verbringen wollte und offenbar befürchtete, wir würden ihr das Tafelsilber klauen, während sie uns nicht auf die Finger schauen konnte.

Obwohl ich vorhin gesagt habe, dass ich mir damals noch nicht solche Sorgen wegen Mum machte, heißt das nicht, dass ich ihren Zustand ganz locker hinnahm. Ich wollte ihr schon vor dem Umzug vorschlagen, einen Arzt aufzusuchen, aber jetzt denke ich, sie sollte sich in eine dieser Institutionen einliefern lassen, in denen die Leute den ganzen Tag planlos in hinten offenen Kittelhemdchen hin und her laufen oder dasitzen und vor- und zurückschaukeln. Aber als ich Barbara gegenüber erwähnte, dass ich fand, Mum sollte zum Arzt gehen, forderte sie mich ziemlich von oben herab auf, am Küchentisch Platz zu nehmen, und erklärte mir, das wäre nicht nötig, denn meine Mum würde lediglich einen »Trauerprozess« durchmachen. Ihr könnt euch wahrscheinlich vorstellen, wie sehr ich mich mit meinen sechzehn Jahren freute, diesen Begriff endlich kennenzulernen. Deshalb versuchte ich sie möglichst schnell abzulenken und schnitt das Thema Rumfummeln an. Aber sie ließ sich nicht darauf ein, sondern fragte mich, ob es mir was ausmachen würde, mich kurz auf ihren Koffer zu setzen, damit sie den Reißverschluss zuziehen konnte. Ansonsten ist Lulu für solche Dinge zuständig, aber die brachte grade die Kids zum Reiten und war daher nicht verfügbar. Als ich dann auf Barbaras vollgestopftem Louis-Vuitton-Koffer saß und sie ihre Bikinis mit Zebradruck, ihre goldenen Zehensandalen und albernen Sonnenhüte hineinzuquetschen versuchte, wünschte ich mir, das Ding würde auf dem Gepäckband in St. Tropez aufplatzen, und zwar so, dass ihr Vibrator laut brummend und für alle Mitreisenden gut sichtbar herauskullerte.

Nun standen wir also am ersten Tag meines neuen Lebens vor dem Torhaus, Mum hatte die Augen geschlossen, Rosaleen fixierte mich und fuhr sich dabei mit ihrer kleinen rosa Zunge unablässig über die Lippen, Arthur schleimschnaubte, was bedeutete, dass er Barbara das Gepäck nicht tragen lassen wollte, und Barbara – in ihrem legeren Jogginganzug, ihren Flipflops und dem gerade frisch mit Bräunungsspray bearbeiteten orangebraunen Gesicht – sah ihn verwirrt an und versuchte wahrscheinlich, den Brechreiz zu unterdrücken, der sie wegen der Schleimschnauberei zu überwältigen drohte.

»Jennifer«, brach Rosaleen endlich das Schweigen.

Mum öffnete die Augen und lächelte strahlend, als würde sie Rosaleen erkennen und hätte die Situation im Griff. Wenn man nicht wie ich im letzten Monat jede Sekunde mit ihr verbracht hatte, hätte man denken können, sie wäre ganz in Ordnung. Sie konnte ziemlich gut bluffen.

»Willkommen«, lächelte Rosaleen.

»Ja. Danke.« Mum wählte die richtige Reaktion aus ihrer kleinen Wortdatei.

»Kommt rein, kommt rein, wir wollen zusammen Tee trinken«, rief Rosaleen mit dringlicher Stimme, als schwebten wir in Lebensgefahr, wenn wir nicht umgehend einen Tee bekamen.

Aber ich hatte keine Lust, ihr zu folgen. Ich wollte dieses Haus nicht betreten, weil ich mich sonst der Tatsache hätte stellen müssen, dass das Neue begann. Weil ich die Realität anerkannt hätte. Dass wir uns nicht mehr in dem Schwebezustand befanden wie bei den Begräbnisvorbereitungen oder in Barbaras Hinterhaus. Das hier war unsere neue Lebensform, und sie musste irgendwann beginnen.

Arthur, die Riesengarnele, eilte mit Taschen beladen an mir vorbei und den Gartenweg hinauf. Er war stärker, als er auf den ersten Blick wirkte.

Dann knallte plötzlich der Kofferraum zu, und ich wirbelte erschrocken herum. Barbara fummelte mit den Autoschlüsseln herum und trat nervös von einem Louis-Vuitton-Flipflop auf den anderen. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie Watte zwischen den Zehen stecken hatte. Sie sah mich ein wenig verlegen an, als überlege sie fieberhaft, wie sie mir am besten beibringen konnte, dass sie mich gleich im Stich lassen würde.

»Ich hab gar nicht gemerkt, dass du auch noch eine Pediküre hast machen lassen«, sagte ich, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen.

»Ja«, erwiderte sie, sah auf ihre Füße hinunter und wackelte mit den Zehen, als wollte sie meine Bemerkung damit bestätigen. Auf den großen Zehen funkelten kleine Juwelen. Schließlich fügte sie hinzu: »Danielle hat uns für morgen Abend zu einer Party auf ihrer Yacht eingeladen.«

Die meisten Leute würden sich wahrscheinlich fragen, was diese beiden Sätze miteinander zu tun hatten, aber ich verstand den Zusammenhang sofort. Auf Danielles Yacht kann man keine Schuhe tragen, und dadurch würde der Wettbewerb mit Zehenschmuck und weißen Nagelrändern besonders heftig ausfallen. Diese Frauen würden auch eine Möglichkeit finden, ihre Kniescheiben zu schmücken, wenn sie das einzig sichtbare Körperteil wären.

Schweigend sahen wir einander an. Barbara brannte offensichtlich darauf wegzufahren. Und ich brannte darauf mitzukommen. Ich wollte auch barfuß am Mittelmeerstrand herumlaufen, ich wollte auch dabei sein, wenn Danielle zwischen ihren Gästen umherschwebte, ein Martiniglas anmutig zwischen den eckig gefeilten, französisch manikürten Nägeln balancierend, in einem tiefausgeschnittenen Cavalli-Kleid, das ihre Brüste entblößte – fest wie die mit Pimento gefüllte Olive in ihrem Glas –, auf dem Kopf keck und schief eine Kapitänsmütze, mit der sie aussah wie Captain Birdseye in Frauenkleidern. Das alles wollte ich nicht verpassen.

»Es wird dir bestimmt gutgehen hier, Schätzchen«, sagte Barbara, und ich spürte, dass sie es ehrlich meinte. »Es sind schließlich deine Verwandten.«

Unsicher sah ich mich zu dem Hexenhäuschen um und hätte am liebsten wieder angefangen zu heulen.

»Ach Schätzchen«, sagte Barbara, als sie es merkte, und kam wieder mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Sie war eine richtig gute Umarmerin, eine Expertin für Körperkontakt. So war es denn auch ausgesprochen angenehm, meinen Kopf an ihre Brust zu betten – vielleicht waren auch die Implantate nicht ganz unschuldig. Jedenfalls drückte ich sie noch einmal ganz fest und schloss die Augen, aber sie ließ mich ein bisschen früher los, als ich mir gewünscht hätte, und so taumelte ich etwas unsanft zurück in die Realität.

»Okay«, sagte sie, während sie Zentimeter um Zentimeter zurück zu ihrem Auto schlich, bis sie die Hand auf den Türgriff legen konnte. »Ich möchte da drin nicht stören, sag ihnen bitte …«

»Kommt rein, kommt rein«, unterbrach uns Rosaleens Stimme aus dem Dunkel der Hexenhausdiele und vereitelte Barbaras Vorhaben. »Hallo, ihr beiden«, fuhr sie fort, und Rosaleen erschien an der Tür. »Wie wär’s mit einem Tässchen Tee? Tut mir leid, aber ich weiß gar nicht, wie Sie heißen. Jennifer hat uns nicht miteinander bekanntgemacht.«

Daran würde sie sich gewöhnen müssen. Es gab eine ganze Menge Dinge, um die Jennifer sich zurzeit nicht kümmerte.

»Ich bin Barbara«, antwortete Barbara, und ich sah, wie sie den Türgriff noch ein bisschen fester umklammerte.

»Barbara«, wiederholte Rosaleen, und ihre grünen Augen schimmerten wie bei einer Katze. »Ein Tässchen Tee, ehe Sie heimfahren, Barbara? Es gibt auch frische Scones und hausgemachte Erdbeermarmelade.«

Barbaras Gesicht war zu einem Lächeln erstarrt, während sie sich den Kopf nach einer Ausrede zermarterte.

»Sie kann keinen Tee mit uns trinken«, antwortete ich für sie. Erst dankbar und dann schuldbewusst sah Barbara mich an.

»Oh …« Rosaleen machte ein langes Gesicht, als hätte ich ihr gerade ihre Teeparty verdorben.

»Sie muss möglichst schnell heim und ihren Gesichtsbräuner abwaschen«, erklärte ich. Wie gesagt, ich bin ein schrecklicher, schrecklicher Mensch, und obwohl Barbara ja eigentlich nicht für mein Unglück verantwortlich war, rächte ich mich an ihr, weil ich mich im Stich gelassen fühlte. »Und ihre Zehen sind auch noch feucht«, setzte ich mit einem Achselzucken hinzu.

»Oh«, sagte Rosaleen noch einmal und sah uns so verständnislos an, als hätte ich Chinesisch gesprochen. »Dann vielleicht einen Kaffee?«

Ich fing an zu lachen, Rosaleen machte ein beleidigtes Gesicht, und Barbara flipfloppte hinter meinem Rücken vorbei, ohne mich anzusehen. Dabei hatte ich ihr doch nur den Abgang leichter gemacht. Neben Rosaleen sah Barbara sogar in ihrem Velours-Jogginganzug, ihren Flipflops und dem fleckigen selbstgebräunten Hals wie eine exotische Göttin aus. Und dann wurde sie vom Hexenhaus verschlungen wie ein Schmetterling von der Venusfalle.

Obwohl Rosaleen mich hoffnungsvoll anstarrte, schaffte ich es immer noch nicht, mich der Gesellschaft anzuschließen.

»Ich seh mich mal ein bisschen um«, verkündete ich stattdessen.

Rosaleen wirkte enttäuscht, als hätte ich ihr etwas abgeschlagen, was ihr sehr am Herzen lag. Ich wartete darauf, dass sie wieder ins Haus zurückging und in die Finsternis der Diele verschwand, die mir wie eine andere Dimension vorkam. Aber sie rührte sich nicht vom Fleck, sondern blieb auf der Veranda stehen und beobachtete mich, bis mir endlich klar wurde, dass ich mich als Erste in Bewegung setzen musste. Unter ihren durchdringenden Blicken sah ich mich um. Wo sollte ich hingehen? Links von mir war das Haus, hinter mir das offene Tor zur Straße, vor mir eine Baumreihe und rechts ein schmaler Weg, der in die Dunkelheit zwischen den Bäumen führte. Schließlich entschied ich mich dafür, zurück auf die Straße zu gehen, und ich zog los, ohne mich ein einziges Mal umzudrehen, denn ich wollte gar nicht wissen, ob Rosaleen noch da war. Aber je weiter ich ging, desto stärker wurde das Gefühl, dass nicht nur Rosaleen mich im Auge behielt, sondern dass mich von jenseits der majestätischen Bäume noch jemand beobachtete. Es war das gleiche Gefühl, wie wenn man ungefragt in die unberührte Natur eindringt, ein Gefühl, dass man eigentlich gar nicht da sein sollte – oder jedenfalls nicht ohne ausdrückliche Einladung. Die Bäume an der Straße wandten die Köpfe nach mir und starrten mir nach.

Wenn mir Männer in mittelalterlicher Rüstung schwertschwingend auf ihren Pferden entgegengekommen wären, hätte ich mich nicht gewundert, denn sie hätten keineswegs fehl am Platz gewirkt. Das Gelände schien von Geschichte durchdrungen, erfüllt von den Geistern der Vergangenheit, und ich war nur eine von vielen, für die ihre eigene Geschichte begann. Die Bäume hatten schon so viel gesehen, interessierten sich aber dennoch für mich, und in der leichten Sommerbrise raschelten die Blätter wie Lippen, die den neuesten Tratsch austauschten und nie müde wurden, die Reise einer neuen Generation zu verfolgen.

Ich ging die Straße entlang, und schließlich hörten die Bäume auf, die klug so gepflanzt worden waren, dass sie das Schloss vor neugierigen Blicken schützten. Obwohl ich ja diejenige war, die sich auf das Schloss zubewegte, hatte ich plötzlich den Eindruck, von ihm überrumpelt zu werden, als hätte sich ein Haufen zu Streichen aufgelegter Steine und Mörtel auf Zehenspitzen an mich herangeschlichen, weil er schon seit ein paar Jahrhunderten keinen richtigen Spaß mehr gehabt hatte. Ich blieb stehen, ein kleiner Mensch vor einem großen Schloss. Die Ruine kam mir dominanter und gebieterischer vor als ein intaktes Schloss, denn es erhob sich vor mir, ohne seine Narben zu verstecken, verwundet und blutig vom Kampf. Ich stand ihm gegenüber wie ein Schatten meines früheren Selbst, und auch meine Narben waren deutlich sichtbar. So entstand auf Anhieb eine Verbindung zwischen uns.

Wir betrachteten einander, dann ging ich weiter auf das Gemäuer zu, und es zuckte nicht mit der Wimper.

Obwohl ich es durch das große Loch in der Seitenmauer hätte betreten können, hatte ich das Gefühl, dass es respektvoller war, dort hineinzugehen, wo die Zeit zwar ebenfalls eine Lücke geschlagen hatte, aber früher einmal der Vordereingang gewesen war. Wem ich diesen Respekt erweisen wollte, weiß ich nicht genau, aber ich glaube, ich versuchte, an die sanfte, menschenfreundliche Seite des Schlosses zu appellieren. Vor der Tür hielt ich inne, dann ging ich langsam hinein. Es gab viel Grün und eine Menge Schutt. Zwischen den Mauern herrschte eine gespenstische Stille, und ich fühlte mich, als würde ich in ein Wohnhaus eindringen. Das Unkraut, der Löwenzahn, die Nesseln, alles hielt den Atem an und blickte auf. Keine Ahnung, warum, aber ich begann zu weinen.

Genau wie damals die Fliege machte mich jetzt das Schloss traurig, aber bei realistischer Betrachtung denke ich, dass ich beide Male hauptsächlich um meiner selbst willen traurig war. Ich hatte das Gefühl, das Schloss klagen und stöhnen zu hören, wie es da stand, vernachlässigt, dem Verfall ausgesetzt, während die Bäume um es herum unbeirrt weiterwuchsen. Langsam ging ich zu einer der Mauern, deren Steine grob behauen und so groß waren, dass ich mir die starken Hände vorstellen konnte, die sie – freiwillig oder gezwungenermaßen – hierhergetragen hatten. In der Ecke kauerte ich mich nieder, drückte mein Ohr an den Stein und schloss die Augen. Ich weiß nicht, worauf ich lauschte, ich habe nicht den leisesten Schimmer, was ich da machte und warum ich versuchte, eine Steinmauer zu trösten, aber genau das tat ich.

Wenn ich Zoey oder Laura davon erzählt hätte, wäre ich umgehend in dem Etablissement mit den hinten offenen Kitteln gelandet. Das Gefühl, dass irgendetwas in mir eine Verbindung zu diesem Gebäude hergestellt hatte, war überwältigend. Keine Ahnung, vielleicht wollte ich mir dieses Gemäuer, um das sich so offensichtlich niemand kümmerte, zu eigen machen, weil ich mein Zuhause verloren hatte und mir nichts mehr wirklich gehörte. Vielleicht war es aber auch nur der Effekt, dass einsame Menschen sich an alles und jeden klammern, damit sie sich nicht mehr ganz so alleine fühlen. Und diesen Zweck erfüllte für mich eben dieses alte Schloss.

Ich weiß nicht, wie lange ich so sitzen blieb, aber irgendwann versank die Sonne hinter den Bäumen und bestäubte die Ruine jedes Mal, wenn die Zweige sich raschelnd von einer Seite zur anderen neigten, mit funkelndem Licht. Eine Weile sah ich zu, dann merkte ich, dass sich die Abenddämmerung herabsenkte. Bestimmt war es schon bald zehn Uhr.

Meine Beine waren ganz steif, weil ich so lange in der gleichen Position verharrt hatte, und als ich mich langsam aufrichtete, glaubte ich, aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen. Einen Schatten. Eine Gestalt. Kein Tier, aber es bewegte sich blitzschnell. Was konnte das sein? Weil ich nicht wollte, dass mir das Wesen, wer oder was es sein mochte, von hinten in den Nacken sprang, zog ich mich rückwärts zum Schlosseingang zurück. Doch dann hörte ich ein anderes Geräusch – ein Krächzen, vielleicht von einer Eule oder etwas Ähnlichem. Ich erschrak halb zu Tode und wollte wegrennen, aber da ich vor lauter Gestrüpp den Boden nicht sehen konnte, stolperte ich über einen Stein und stürzte nach hinten in das eklige Gestrüpp, in dem wahrscheinlich jede Menge unappetitliche Kreaturen hausten. Unsanft schlug ich mit dem Kopf auf etwas Hartes und stieß einen Schrei aus, der selbst für meine eigenen Ohren reichlich panisch klang. Einen Moment lang sah ich nur verschwommen, und in dem kaputten Dach und dem dunkelblauen Himmel über mir erschienen schwarze Flecken. Dann rappelte ich mich mühsam auf, zerkratzte mir beim Hochstemmen die Hände an den Steinen, schaute aber nicht zurück, sondern lief weg, so schnell mich meine Ugg-Boots trugen. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis endlich das Haus in Sicht kam – als hätten sich die Straße und die Bäume verschworen und mich auf ein Laufband gepackt, auf dem ich rannte, ohne wirklich vorwärtszukommen.

Barbaras BMW stand nicht mehr vor dem Hexenhäuschen, und mir wurde schlagartig klar, dass ich jetzt endgültig von meinem bisherigen Leben abgeschnitten war. Die letzte Brücke war abgebrochen. Ich war noch nicht am Gartentor, da öffnete sich auch schon die Haustür, Rosaleen erschien und starrte mich an – vermutlich hatte sie seit dem Augenblick, als ich weggegangen war, dort gestanden.

»Komm rein, komm rein«, rief sie mit eindringlicher Stimme.

So trat ich schließlich über die Schwelle, hinein in das neue Leben, das nun unwiderruflich begann. Mit meinen ehemals sauberen rosa Uggs, die von meinem Ausflug total verdreckt waren, durchquerte ich die mit großen Steinplatten ausgelegte Diele. Es herrschte Totenstille im Haus.

»Lass dich mal anschauen«, sagte Rosaleen, packte mich am Handgelenk und inspizierte mich von oben bis unten. Einmal, zweimal, dreimal … Als ich mich losmachen wollte, verstärkte sich ihr Griff, aber dann ließ sie mich abrupt los, als hätte sie an der Art, wie mein Gesicht sich veränderte, plötzlich gemerkt, was sie da machte.

Auf einmal klang auch ihre Stimme ein ganzes Stück freundlicher. »Ich kann sie für dich stopfen. Leg sie einfach in den Korb neben dem Sessel im Wohnzimmer.«

»Was willst du stopfen?«

»Deine Hose.«

»Das ist eine Jeans, und die soll so aussehen.« Ich schaute an mir herunter auf meine Fetzenjeans, an der kaum noch Stoff übrig war, so dass die Strumpfhose mit Leopardenmuster darunter zu sehen war – Sinn und Zweck der Sache. »Aber schmutzig müsste sie nicht unbedingt sein.«

»Oh. Na gut, dann kannst du sie in den Korb in der Küche legen.«

»Ihr habt ja eine Menge Körbe hier.«

»Eigentlich nur zwei.«

Ich war selbst nicht ganz sicher, ob ich einen Witz machen oder sie ärgern wollte, aber sie reagierte sowieso nicht darauf.

»Okay. Dann geh ich mal in mein Zimmer …« Ich wartete darauf, dass sie es mir zeigen würde, aber sie starrte mich nur an. »Wo ist das denn?«, fragte ich schließlich.

»Wie wär’s mit einer Tasse Tee? Ich hab Apfelkuchen gebacken.« Ihr Ton klang beinahe flehentlich.

»Äh, nein danke, ich hab keinen Hunger.« Wie um mich Lügen zu strafen, knurrte mein Magen, aber ich hoffte, dass Rosaleen es nicht hörte.

»Na klar. Natürlich hast du keinen Hunger«, sagte sie, als würde sie sich selbst dafür ausschimpfen, dass sie die Frage gestellt hatte.

»Die Treppe rauf, zweite Tür links. Deine Mum hat das Zimmer rechts ganz hinten.«

»Okay, dann schau ich mal nach ihr.« Ich machte mich auf den Weg zur Treppe.

»Nein, nein, Kind«, rief Rosaleen schnell. »Lass sie. Sie ruht sich aus.«

»Ich möchte ihr nur gerne gute Nacht sagen«, entgegnete ich mit einem verkniffenen Lächeln.

»Nein, du darfst sie jetzt nicht stören«, widersprach sie fest.

Ich schluckte. »Na gut.«

Langsam ging ich die Stufen hinauf, die bei jedem Schritt unter meinen Füßen knarrten. Vom Treppenabsatz aus konnte ich in die Diele sehen, wo Rosaleen immer noch stand und mir nachschaute. Weiterhin verkniffen lächelnd, ging ich in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und lehnte mich mit klopfendem Herzen dagegen.

Fünf Minuten blieb ich in dem Zimmer, ohne es wirklich wahrzunehmen, aber ich wusste ja, dass ich genug Zeit haben würde, meine neue Umgebung kennenzulernen. Zuerst musste ich nach meiner Mutter sehen. Langsam und vorsichtig öffnete ich die Tür wieder, streckte den Kopf hinaus und spähte vom Treppenabsatz in die Diele hinunter. Keine Spur von Rosaleen. Also machte ich meine Tür ein Stück weiter auf, trat hinaus – und fuhr heftig zusammen. Da stand sie, vor Mums Zimmertür, wie ein Wachhund.

»Ich war gerade bei ihr«, flüsterte sie, und ihre grünen Augen glänzten. »Sie schläft. Am besten ruhst du dich jetzt auch ein bisschen aus.«

Ich hasse es, wenn man mir sagt, was ich tun soll. Früher habe ich schon aus Prinzip nie das getan, was man mir gesagt hat, aber etwas in Rosaleens Stimme, in ihrem Blick, in der Atmosphäre des Hexenhäuschens und der Art, wie Rosaleen dastand, sagte mir, dass ich die Lage hier nicht unter Kontrolle hatte. Also ging ich zurück in mein Zimmer und schloss wortlos die Tür hinter mir.

Später in der Nacht, als es im Haus und draußen so dunkel war wie unter einer blickdichten Wollstrumpfhose – die Dunkelheit war so vollkommen, dass man nicht mal Schatten ausmachen konnte –, wachte ich auf, weil ich dachte, jemand wäre bei mir im Zimmer. Ich hörte jemanden atmen und roch Lavendelseife. Schnell machte ich die Augen wieder zu und stellte mich schlafend. Keine Ahnung, wie lange Rosaleen sich über mich beugte und mich beobachtete, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Selbst nachdem ich gehört hatte, wie sie das Zimmer verließ und das Schloss leise einrastete, hielt ich die Augen vorsichtshalber noch geschlossen, und mein Herz klopfte so laut, dass ich Angst hatte, sie könnte es hören. Aber irgendwann schlief ich tatsächlich wieder ein.