Gerade als ich das Ende des Seitenwegs am Haus erreichte und um die Ecke biegen wollte, fing Rosaleen mich ab. Offensichtlich hatte sie das Haus durch die Vordertür verlassen. Sie erwischte meinen Arm, und ihre Nägel gruben sich tief in meine Haut. Ich schrie laut auf vor Schmerz, konnte mich aber wieder losmachen.
»Komm, schnell!«, rief Weseley, drehte sich um, und ich rannte ihm nach.
Doch ich war noch nicht weit gekommen, da wurde ich nach hinten gerissen, und ein heftiger Schmerz fuhr mir in den Hals – Rosaleen hatte mich an den Haaren gepackt und versuchte mich zurückzuzerren. Verzweifelt holte ich aus und versetzte ihr mit dem Ellbogen einen solchen Schlag in den Magen, dass sie mich sofort wieder freigab, und obwohl sie mir so übel mitgespielt hatte, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich blieb stehen, um mich zu vergewissern, dass ich sie nicht allzu schlimm verletzt hatte. Sie krümmte sich und schnappte nach Luft.
»Komm endlich, Tamara!«, rief Weseley.
Aber ich konnte nicht. Dieser Kampf war doch lächerlich. Ich verstand nicht, weshalb wir stritten und was Rosaleen so wütend auf mich machte. Ich musste nachschauen, ob mit ihr alles in Ordnung war. Doch als ich mich ihr näherte, blickte sie auf, hob den rechten Arm und versetzte mir eine schallende Ohrfeige, von der mir noch lange danach das Gesicht brannte. Jetzt hatte Weseley genug, packte mich wieder am Arm, und ich hatte keine andere Wahl als mitzukommen.
Wir liefen durch den Garten, an der Werkstatt vorbei, und erst als wir auf der Wiese waren, merkte ich, wie stark der Wind inzwischen geworden war. Meine Haare wehten mir ins Gesicht, in Mund und Augen. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, denn Weseley hielt meine Hand fest, und die andere brauchte ich, um einigermaßen in Balance zu bleiben. Dicht nebeneinander rannten wir über die Wiese, über der die Mobiles im Wind hin und her schwangen, vor und zurück, in unberechenbarem Rhythmus, so dass es auch mit unbehinderter Sicht schwer abzuschätzen war, in welchem Moment wir unbeschadet an Spitzen und scharfen Kanten vorbeilaufen konnten.
Aber ich hielt Weseleys Hand eng umklammert, und ich weiß noch, dass ich im Kopf dauernd wiederholte: »Lass nicht los, lass nicht los.« Immer wieder wandte er sich um, als wollte er sich vergewissern, dass ich noch da war – obwohl er meine Hand so fest im Griff hatte, dass er mir fast die Finger zerquetschte. Ich sah die Angst in seinem Gesicht, die Panik in seinen Augen, doch er ließ mich nicht im Stich, und ich war plötzlich unendlich dankbar, so einen Freund gefunden zu haben. Dann mussten wir stehen bleiben, denn wir hatten die Mauer am Ende des Gartens erreicht. Weseley sah sich nach einer Möglichkeit um, wie wir drüberklettern konnten, ich hielt Ausschau nach Rosaleen. Die Kratzer auf meinen Armen und meinem Gesicht brannten höllisch im kalten Wind. Es dauerte nicht lange, da tauchte Rosaleen neben dem Schuppen auf, und ich sah, wie sie den Garten mit den Augen nach uns absuchte. Unsere Blicke trafen sich. Dann rannte sie los, direkt auf uns zu.
Inzwischen hatte Weseley ein paar herumstehende Kisten und Backsteine aufeinandergestapelt, so dass er mit den Händen die Mauerkante erreichen konnte.
»Schnell, Tamara, ich heb dich rauf.«
Ich legte das Tagebuch ab, er fasste mich um die Taille und stemmte mich hoch. Dann hievte ich mich mit aller Kraft nach oben, und obwohl meine nackten Ellbogen und meine Knie gnadenlos über den Stein schrappten, hatte ich es endlich geschafft. Weseley reichte mir das Tagebuch, und ich sprang auf der anderen Seite der Mauer ins Gras hinunter. Ein heftiger Schmerz schoss mir in beide Knöchel und die Beine hinauf, aber Weseley war dicht hinter mir, packte wieder meine Hand und zog mich weiter.
So überquerten wir die Straße und erreichten das Torhaus. Keuchend rief ich nach Arthur und meiner Mum, doch es kam keine Antwort. Schweigend starrte das Haus uns an. Nur das Ticken der Großvateruhr in der Eingangshalle war zu hören, sonst herrschte Totenstille. Wir liefen treppauf, treppab, rissen Türen auf, schauten in jeden Winkel. Vorher hatte ich Angst gehabt, aber nun ergriff mich die nackte Panik. Das Tagebuch im Arm, setzte ich mich auf mein Bett, um nachzudenken. Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Und dann, während ich das Tagebuch eng an mich drückte und mir wieder die Tränen kamen, wurde mir auf einmal etwas klar.
Ich schlug das Tagebuch auf. Langsam, aber sicher begannen sich die verbrannten Seiten vor meinen Augen zu glätten, entfalteten sich, breiteten sich aus, und Worte erschienen, jedoch nicht mehr sauber geschwungen und in geraden Linien, sondern eckiges, chaotisches Gekritzel, in blinder Angst aufs Papier gebracht.
»Weseley!«, rief ich.
»Ja!«, antwortete er von unten.
»Wir müssen los!«
»Wohin denn?«, fragte er. »Wir sollten die Polizei rufen, findest du nicht auch? Wer war dieser Mann? Mein Gott, hast du sein Gesicht gesehen?« Ich hörte das Adrenalin in jedem seiner Worte.
Rasch stand ich auf. Zu rasch. Das Blut sackte mir in die Beine, und mir wurde schwindlig. Vor meinen Augen erschienen schwarze Flecken. Aber ich versuchte trotzdem weiterzugehen, in der Hoffnung, dass alles gleich wieder in Ordnung war. So kam ich noch bis in den Korridor, stützte mich an der Wand ab und atmete möglichst ruhig und regelmäßig. In meiner Stirn pochte der Puls in einem irren Tempo, meine Haut fühlte sich heiß und trotzdem klamm an.
»Tamara, was ist los?« Weiter hörte ich nichts mehr.
Ich fühlte nur noch, wie mir das Buch aus der Hand glitt und mit einem dumpfen Krachen auf dem Boden landete. Danach wurde es dunkel um mich.
Als ich aufwachte, sah ich vor mir ein Gemälde: Maria mit einem himmelblauen Schleier, die auf mich herablächelte, mir die geöffneten Hände entgegenstreckte, als wolle sie mir ein unsichtbares Geschenk überreichen und mir versprechen, dass alles gut werden würde. Nach und nach kam die Erinnerung zurück, und mir fiel wieder ein, was im Bungalow passiert war. Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Mein Kopf fühlte sich an wie in einer Schraubzwinge.
»Autsch!«, ächzte ich.
»Psst, Tamara, du musst dich hinlegen. Schön langsam«, sagte Schwester Ignatius leise, nahm meine Hand und drückte mich an der Schulter sanft wieder auf mein Kissen.
»Mein Kopf«, krächzte ich, während ich mich zurücksinken ließ und den Anblick ihres Gesichts in mich aufnahm.
»Du hast eine ziemlich schlimme Beule abgekriegt«, sagte sie, nahm einen Lappen, tunkte ihn in eine Schale und tupfte damit die Haut über meinem Auge ab.
Es brannte wie Feuer, und ich verkrampfte mich sofort wieder.
»Weseley?«, fragte ich, plötzlich voller Angst, und schob Schwester Ignatius’ Hand weg. »Wo ist er?«
»Bei Schwester Conceptua. Es geht ihm gut. Er hat dich den ganzen Weg hierhergeschleppt«, erklärte sie lächelnd.
»Tamara«, hörte ich in diesem Moment eine andere Stimme, und dann kam Mum hereingestürzt und kniete sich neben mein Bett. Sie sah ganz anders aus. Unter anderem war sie richtig angezogen. Außerdem hatte sie die Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihr Gesicht war schmaler geworden, und ihre Augen … sie waren zwar ein bisschen rot und geschwollen, als hätte sie geweint, aber sie hatten wieder Leben in sich. »Wie geht es dir?«, wollte sie wissen.
Ich konnte nicht fassen, dass sie einfach so herumlief und nicht mehr schlapp im Bett lag, deshalb starrte ich sie zunächst nur stumm an, beobachtete sie und wartete darauf, dass sie wieder in Trance verfiel. Aber stattdessen beugte sie sich über mich und küsste mich auf die Stirn, so fest, dass es fast weh tat. Dann fuhr sie mir vorsichtig mit der Hand durch die Haare und küsste mich noch einmal. »Es tut mir so leid«, sagte sie leise.
»Autsch.« Ich zuckte zusammen, als sie meine Beule berührte.
»Oh, Liebes, entschuldige.« Sofort nahm sie die Hand weg und wich ein Stück zurück, um die Beule genauer in Augenschein zu nehmen. Ihr Blick wurde besorgt. »Weseley hat gesagt, er hat dich in einem Zimmer gefunden, bei einem Mann mit entstelltem Gesicht, voller Narben …«
»Aber er kann nichts für die Beule.« Ohne genau zu wissen, warum, verteidigte ich den Mann sofort. »Rosaleen hat mich im Bungalow überrascht. Sie war total wütend und hat mir lauter Lügen über dich und Dad erzählt. Da bin ich auf sie losgegangen, weil ich wollte, dass sie damit aufhört, aber sie hat mich weggeschubst …« Ich legte vorsichtig meine Hand auf die Wunde. »Sieht es schlimm aus?«
»Ich glaube nicht, dass eine Narbe zurückbleibt. Aber erzähl mir doch mal von diesem Mann.« Mums Stimme zitterte.
»Rosaleen und er haben sich gestritten. Sie hat ihn Laurie genannt«, erinnerte ich mich plötzlich.
Schwester Ignatius hielt sich an der Couch fest, als würde der Boden unter ihr schwanken. Mum sah sie an, ihr Kiefer verkrampfte sich. »Dann stimmt es also«, sagte sie leise zu mir. »Dann hat Arthur also die Wahrheit gesagt.«
»Aber das ist unmöglich«, flüsterte Schwester Ignatius. »Wir haben ihn begraben, Jennifer. Er ist bei dem Brand im Schloss ums Leben gekommen.«
»Nein, Schwester Ignatius, er ist nicht tot. Ich hab ihn gesehen. Ich war in seinem Zimmer. Er hat überall Bilder aufgehängt, die ganzen Wände sind voller Fotos.«
»Er hat immer schrecklich gern fotografiert«, meinte Mum gedankenverloren.
»Und auf den Fotos bin ich«, fügte ich hinzu und sah von einem zum andern. »Wer ist denn dieser Mann? Sagt doch was!«
»Fotos? Davon hat Weseley gar nichts gesagt«, meinte Schwester Ignatius. Sie zitterte, ihr Gesicht war ganz blass.
»Weseley hat sie auch nicht bemerkt, aber ich hab sie gesehen. Es war wie eine Fotodokumentation über mein Leben.« Die Worte drohten mir im Hals steckenzubleiben, aber ich überwand mich und redete weiter. »Mein Geburtstag, meine Taufe.« Ich sah Schwester Ignatius an, und plötzlich wurde ich wütend. »Sie waren übrigens auch dabei.«
»Oh.« Sie hielt sich ihre runzlige, knochige Hand vor den Mund. »Ach, Tamara.«
»Warum haben Sie mir nichts davon erzählt? Warum habt ihr mich beide angelogen?«
»Ich wollte es dir ja erzählen«, verteidigte sich Schwester Ignatius. »Ich hab dir gesagt, dass ich dich nie anlügen würde, dass du mich alles fragen kannst. Aber du hast es nie getan. Ich hab gewartet und gewartet, aber ich fand, dass es für mich nicht angemessen gewesen wäre, die Initiative zu ergreifen. Vielleicht hätte ich es aber doch tun sollen.«
»Ja, wir hätten nicht riskieren dürfen, dass du es so rausfindest«, sagte Mum, und auch ihre Stimme bebte.
»Aber keiner von euch hatte den Mumm, das zu tun, was Rosaleen getan hat. Sie hat mir nämlich was erzählt.« Ich schob Mums Hand weg und wandte das Gesicht ab. »Sie hat mir irgendeine lächerliche Geschichte aufgetischt, dass Dad mit Granddad hier vorgefahren ist und gleich alles kaufen und in ein Wellness-Hotel umfunktionieren wollte. Sie meinte, so hat er Mum kennengelernt. Und mich.« Ich schaute zu Mum und wartete. Jetzt würde sie mir bestimmt erklären, dass Rosaleen sich das alles aus den Fingern gesogen hatte.
Aber sie schwieg beharrlich.
»Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist«, stieß ich mühsam hervor, die Augen voller Tränen, und obwohl ich mich so bemühte, stark zu sein, gelang es mir nicht. Es war einfach zu viel. Schwester Ignatius bekreuzigte sich. Man sah ihr an, dass sie zutiefst erschüttert war.
»Sag mir, dass er mein Vater war.«
Jetzt brach Mum in Tränen aus. Nach einer Weile jedoch holte sie tief Luft, fasste sich und nahm sichtlich ihre ganze Kraft zusammen. Als sie weitersprach, war ihre Stimme fest und tiefer als vorher. »Okay, hör mir zu, Tamara. Du musst mir glauben, dass wir es dir nur deshalb nicht gesagt haben, weil wir damals glaubten, es wäre besser so, und George …« Sie stockte. »George hat dich von ganzem Herzen geliebt. Er hat dich geliebt wie sein eigenes Kind …«
Jetzt war es heraus. Ich traute meinen Ohren nicht. Was ich da hörte, war einfach unglaublich.
»Er wollte nicht, dass ich es dir sage. Ständig haben wir uns deswegen gestritten. Aber das ist meine Schuld. Es ist alles meine Schuld. Es tut mir so leid, Tamara, es tut mir ehrlich leid.« Die Tränen liefen ihr in Strömen über die Wangen, aber ich wollte kein Mitleid mit ihr haben. Ich wollte ihr nur zeigen, wie sehr sie mich verletzt hatte. Aber ich konnte nicht. Ich schaffte es nicht, nichts zu empfinden. Meine Welt war vollkommen aus den Fugen, ich wusste nicht mehr, wo ich hingehörte.
Schwester Ignatius stand auf und legte sanft die Hand auf Mums Kopf, während Mum sich bemühte, ihre Tränen zu trocknen. Aber ich konnte sie nicht anschauen, und so folgten meine Augen ganz automatisch Schwester Ignatius, die nun langsam zur anderen Seite des Zimmers hinüberging. Dort öffnete sie einen Schrank, holte etwas heraus und kam wieder zu mir.
»Hier. Das wollte ich dir schon seit langem geben«, sagte sie, und auch ihre Augen waren voller Tränen. Sie überreichte mir ein hübsch eingepacktes Päckchen.
»Schwester Ignatius, ich bin wirklich nicht in der Stimmung für Geburtstagsgeschenke. Immerhin hat meine Mum mir gerade gesagt, dass sie mich mein ganzes Leben lang angelogen hat«, entgegnete ich giftig. Mum verzog das Gesicht, nickte langsam und nahm den Vorwurf wortlos zur Kenntnis. Am liebsten hätte ich noch nachgelegt, denn jetzt war doch eine gute Gelegenheit, ihr all das an den Kopf zu werfen, was mich jemals an ihr genervt hatte – wie ich es auch immer getan hatte, wenn ich mit Dad Streit hatte. Aber ich riss mich zusammen. Ich dachte an die Konsequenzen. Das Tagebuch hatte mir also doch etwas beigebracht.
»Mach es auf«, sagte Schwester Ignatius ernst.
Ich riss das Papier auf, und eine Schachtel kam zum Vorschein. In der Schachtel war ein zusammengerolltes Dokument. Ich sah Schwester Ignatius fragend an, aber sie gab keine Erklärungen ab, sondern kniete schweigend neben mir, die Hände gefaltet, den Kopf geneigt wie zum Gebet.
Ich rollte das Dokument auf. Es war eine Taufurkunde.
Diese Taufurkunde bezeugt, dass
Tamara Kilsaney,
geboren am 24. Juli 1991 in Kilsaney Castle, County Meath,
am heutigen Tag,
dem 1. Januar 1992,
voller Liebe
von ihrer Mutter Jennifer Byrne
und ihrem Vater Laurence Kilsaney
der Gemeinde vorgestellt und
durch die Taufe
in den Kreis ihrer Mitmenschen aufgenommen wurde.
Sprachlos starrte ich auf das Papier. In der vagen Hoffnung, dass meine Augen mich getäuscht hatten, las ich es immer wieder von vorn. Denn ich wusste nicht, wo ich mit meinen Fragen beginnen sollte.
»Tja, dann fange ich mal an«, sagte ich schließlich. »Erstens ist das Datum falsch.« Ich versuchte, selbstbewusst zu klingen, aber es hörte sich nur erbärmlich an, und ich wusste es. Mit Sarkasmus kam ich hier nicht weiter.
»Es tut mir leid, Tamara«, sagte Schwester Ignatius.
»Deshalb haben Sie immer gesagt, ich wäre siebzehn.« Ich dachte zurück an unsere Gespräche, und mir wurde einiges klar. »Aber wenn das hier richtig ist, dann werde ich heute achtzehn … Marcus!« Ich sah zu Schwester Ignatius. »Und Sie hätten ihn tatsächlich ins Gefängnis gehen lassen?«
»Wovon sprecht ihr da eigentlich?«, wollte Mum wissen und sah irritiert von einem zum anderen. »Wer ist denn dieser Marcus?«
»Das geht dich nichts an«, fauchte ich. »Vielleicht erzähle ich es dir in zwanzig Jahren.«
»Bitte, Tamara«, sagte sie flehend.
»Er wäre um ein Haar ins Gefängnis gekommen«, wandte ich mich erneut an Schwester Ignatius.
Doch sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das hätte ich niemals zugelassen. Ich habe Rosaleen mehrmals gebeten, sie soll es dir sagen. Wenn nicht dir, dann wenigstens der Polizei. Aber sie meinte, es würde schon gutgehen. Da habe ich mich schließlich doch eingemischt, bin nach Dublin zu Garda Fitzgibbon gefahren und habe ihm dieses Dokument persönlich übergeben. Es gab auch noch eine Anzeige wegen Einbruch, aber in Anbetracht der Umstände hat man dann alles fallenlassen.«
»Was hat man fallenlassen? Was ist denn passiert?«, fragte meine Mum wieder und sah Schwester Ignatius besorgt an.
Gott, Tamara, wenn du das nicht inzwischen weißt, dann hast du noch mehr Probleme, als ich bisher dachte.
So hatte es im Tagebuch gestanden, und jetzt wunderte es mich nicht mehr. Marcus hätte ja denken müssen, ich wüsste nicht, wie alt ich war! Für einen Moment war ich so erleichtert, dass meine Wut verpuffte. Aber dann fing ich wieder an zu kochen. Mein Kopf dröhnte, und ich tastete mit der Hand nach meiner Wunde. Sie hatten mich mit Lügen abgespeist und lediglich eine Spur von Brotkrümeln für mich ausgelegt, der ich ganz allein hatte folgen müssen, um die Wahrheit herauszufinden.
»Also, verstehe ich das richtig? Rosaleen hat nicht gelogen, und Laurie ist tatsächlich mein Vater. Dieser Freak … mit den ganzen Fotos?«, rief ich entrüstet. »Warum hat mir das keiner gesagt? Warum habt ihr mich angelogen? Warum habt ihr mich alle in dem Glauben gelassen, dass ich meinen Vater verloren habe?«
»Aber Tamara, George war doch dein Vater! Er hat dich über alles geliebt. Er hat dich großgezogen. Er –«
»ER IST TOT!«, unterbrach ich sie. »Und alle haben mich glauben lassen, ich hätte meinen Dad verloren. Er hat mich angelogen. Ihr habt mich allesamt angelogen. Das ist wirklich unglaublich!« Ich war aufgesprungen, mein Kopf schwirrte.
»Deine Mutter dachte, Laurie wäre tot, Tamara. Du warst damals erst ein Jahr alt. Sie hatte die Chance, ein neues Leben zu beginnen. George hat deine Mutter geliebt, und er hat dich geliebt. Sie wollte noch einmal von vorn anfangen. Sie wollte dir diesen Schmerz ersparen.«
»Und dadurch wird der ganze Rest okay?«, fragte ich, jetzt direkt an Mum gewandt.
»Nein, nein, ich war nie damit einverstanden«, antwortete Schwester Ignatius weiter an ihrer Stelle. »Aber sie hat es verdient, glücklich zu sein. Sie war am Boden zerstört, als Laurie gestorben ist.«
»Aber er ist nicht tot!«, rief ich. »Er lebt im Bungalow und kriegt jeden Tag einen Berg Sandwiches und Apfelkuchen gebracht. Rosaleen hat die ganze Zeit gewusst, dass er lebt.«
Das war zu viel für Mum, und sie brach zusammen. Schwester Ignatius hielt sie fest im Arm, und ihrem Gesicht sah man deutlich an, wie bekümmert sie war. Ich geriet ins Stocken. Auf einmal wurde mir klar, dass nicht nur ich angelogen worden war. Auch Mum hatte gerade erst erfahren, dass der Mann, den sie einmal geliebt hatte, noch lebte. Was für ein krankes Spiel hatten sie da alle miteinander gespielt?
»Mum, es tut mir leid«, sagte ich leise.
»Ach, Schätzchen«, seufzte sie, »vielleicht hab ich es ja verdient. Dafür, dass ich dir das alles angetan habe.«
»Nein. Nein, das hast du nicht verdient. Aber er verdient dich auch nicht. Wie schräg muss man denn drauf sein, um so zu tun, als wäre man tot?«
»Ich denke, er hat versucht, deine Mum zu schützen«, meinte Schwester Ignatius. »Er wollte euch beiden ein besseres Leben ermöglichen, ein Leben, das er euch nicht geben konnte.«
»Arthur hat gesagt, er wäre schwer entstellt«, sagte Mum und sah mich an. »Wie … wie sieht er denn aus? War er freundlich zu dir?«
»Arthur?« Ich horchte auf. »Arthur Kilsaney? Ist er Lauries Bruder?«
Mum nickte, und wieder rollte eine Träne über ihre Wange.
»Ihr setzt immer noch eins drauf«, sagte ich, aber auf einmal war ich nicht mehr wütend – meine Energie war verbraucht.
»Arthur wollte nicht mitmachen«, sagte Mum. Sie klang ebenfalls erschöpft. »Jetzt verstehe ich auch, warum er so vehement dagegen war. Er wollte einfach nur immer dein Onkel bleiben. Wir haben dir nie ausdrücklich gesagt, dass er mein Bruder ist. Irgendwann bist du einfach davon ausgegangen, und dann …« Sie gestikulierte hilflos, als wäre ihr plötzlich die Absurdität der Situation bewusst geworden.
In diesem Moment trat Weseley ins Zimmer. »Okay, die Polizei ist unterwegs. Alles klar bei dir?«, fragte er und sah mich an. »Hat er dich schlimm verletzt?«
»Nein, nein, er hat mir gar nichts getan.« Ich rieb mir die Augen. »Er wollte mich nur vor Rosaleen beschützen.«
»Aber ich dachte …«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.
»Aber ich hab ihn in sein Zimmer eingeschlossen«, sagte Weseley schuldbewusst und holte den Schlüssel aus der Tasche. »Weil ich dachte, dass er dir etwas tun wollte.«
»Nein, nein.« Laurie tat mir leid. Er hatte mich verteidigt, er hatte Kontakt zu mir aufgenommen und mir Geschenke gemacht. Er hatte an meinen Geburtstag gedacht. Meinen achtzehnten Geburtstag. Klar, dass er den nicht vergessen hatte. Und wie hatte ich es ihm gedankt? Ich hatte nicht verhindert, dass Weseley ihn in diesem Zimmer eingesperrt hatte.
»Wo ist Arthur?«, fragte Schwester Ignatius plötzlich.
»Er wollte zum Bungalow, zu Rosaleen.«
Und da fiel bei mir endlich der Groschen. Das Tagebuch! »Nein!« Ich sprang vom Bett.
»Schätzchen, du solltest dich wirklich ausruhen«, rief Mum und versuchte, mich zum Hinlegen zu bewegen, aber ich ließ mich nicht mehr umstimmen.
»Er darf da nicht bleiben«, erklärte ich panisch. »Wie konnte ich bloß die ganze Zeit hier rumliegen? Weseley, ruf bitte die Feuerwehr, schnell!«
»Warum?«
»Schätzchen, jetzt entspann dich doch erst mal«, sagte Mum besorgt. »Leg dich hin und …«
»Nein, hört mir bitte zu. Weseley, es steht im Tagebuch. Ich muss es verhindern. Ruf die Feuerwehr.«
»Tamara, das ist bloß ein Buch, es hatte nur …«
»… jeden Tag recht mit seiner Vorhersage«, ergänzte ich.
Weseley nickte.
»Was ist das denn?«, fragte Mum in diesem Moment und trat ans Fenster.
Über den Baumwipfeln stiegen Rauchschwaden zum Himmel auf.
»Rosaleen«, sagte Schwester Ignatius auf einmal so giftig, dass mir ganz kalt wurde. »Ruf die Feuerwehr, schnell«, sagte sie zu Weseley.
»Und gib mir den Schlüssel«, rief ich. Weseley gab ihn mir, und ich rannte damit aus dem Zimmer. »Ich muss ihn da rausholen. Ich will ihn nicht noch mal verlieren.«
Ich hörte, wie sie mir nachriefen, aber ich ließ mich nicht beirren und rannte einfach weiter. Ich konnte jetzt nicht stehen bleiben. Quer durch den Wald lief ich, immer dem Brandgeruch nach, der mich direkt zum Bungalow führte. Ich hatte den Vater verloren, der mich aufgezogen hatte. Und ich wollte nicht noch einen Vater verlieren.