Kapitel 21

K steht für … Känguru

Sobald sie weg waren, rannte ich ins Haus zurück. An der Garderobe hing, unordentlich und zerknautscht, Rosaleens Schürze, die sie in aller Eile dort hingeworfen hatte. Ich riss sie herunter und wühlte in der Tasche.

»Tamara, was machst du denn da?«, fragte Weseley, der mir gefolgt war. »Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee oder so? Irgendwas zur Beruhigung – was zum Teufel ist das denn?«

Er meinte die Pillendose, die ich aus der Schürzentasche gefischt hatte und ihm unter die Nase hielt.

»Ich hatte gehofft, das könntest du mir sagen«, antwortete ich und gab ihm die Pillen. »Ich hab Rosaleen dabei erwischt, wie sie das Zeug hier in Mums Frühstück gestreut hat.«

»Was? Mensch, Tamara«, meinte Weseley ungläubig. »Rosaleen hat deiner Mum Tabletten ins Essen getan?«

»Ja, ich hab gesehen, wie sie die Kapseln aufgebrochen, das Pulver in den Porridge gestreut und alles umgerührt hat. Aber sie weiß nicht, dass ich sie beobachtet habe.«

»Na ja, vielleicht hat ein Arzt deiner Mum die Pillen verschrieben.«

»Meinst du? Sehen wir mal nach, ja? Obwohl Rosaleen gern behauptet, dass ich keine Ahnung vom Gesundheitszustand meiner eigenen Mutter habe, weiß ich doch, wie sie heißt. Und sie heißt …« – ich las den Namen auf der Dose vor – »… jedenfalls nicht Helen Reilly.«

»Helen Reilly – das ist Rosaleens Mutter! Lass mich die Dose mal anschauen.« Er nahm sie mir aus der Hand. »Das sind Schlaftabletten.«

»Woher weißt du das?«

»Es steht auf dem Etikett. Oxazepam. Ein bekanntes Schlafmittel. Und das hat Rosaleen deiner Mutter ins Essen gemischt?«

Ich schluckte, und mir traten Tränen in die Augen.

»Bist du ganz sicher, dass du dich nicht geirrt hast?«

»Ja, hundertprozentig. Und seit wir hier sind, hat Mum dauernd geschlafen. Praktisch nonstop.«

»Nimmt deine Mutter sonst vielleicht auch Schlafmittel? Kann es sein, dass Rosaleen ihr nur helfen wollte?«

»Weseley, meine Mum steht so unter Drogen, dass sie kaum noch ihren eigenen Namen kennt. Und das hilft ihr ganz sicher nicht. Es kommt mir beinahe so vor, als würde Rosaleen versuchen, Mums Zustand zu verschlimmern. Und inzwischen geht es ihr auch tatsächlich schlechter.«

»Wir müssen jemandem Bescheid sagen.«

Beim Wort »wir« überflutete mich eine riesige Welle der Erleichterung und Freude.

»Ich muss es meinem Dad sagen. Dann wird er etwas unternehmen, okay?«

»Okay.«

Ich war so froh, dass ich nicht mehr allein war. Während Weseley seinen Dad anrief, setzte ich mich auf die Treppe.

»Und?« Als er fertig war, sprang ich gleich wieder auf.

»Sie waren gerade alle drei bei ihm im Zimmer, deshalb konnte er nichts dazu sagen. Aber er hat versprochen, sich darum zu kümmern. In der Zwischenzeit müssen wir dafür sorgen, dass niemand mehr irgendeinen Quatsch mit diesen Tabletten anrichten kann.«

»Gut.« Ich holte tief Luft. Es kommt, wie es kommen soll. »Hilfst du mir bitte, Arthurs Werkzeugkasten zu holen?«

»Wozu brauchst du den denn?«, fragte er verwundert.

»Um das Schloss an der Garage aufzubrechen.«

»Wie bitte?«

»Einfach nur …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Hilf mir einfach. Wir haben nicht viel Zeit, aber später kann ich dir alles in Ruhe erklären. Hilfst du mir? Bitte, bitte? Arthur und Rosaleen sind so selten weg. Jetzt ist meine einzige Chance.«

Einen Moment dachte er schweigend nach und drehte dabei die Pillendose in den Händen. »Okay«, sagte er schließlich.

Während Weseley zum Schuppen neben dem Haus lief, wanderte ich im Garten auf und ab. Hoffentlich würden Arthur und Rosaleen lange genug wegbleiben, dass ich mich gründlich umsehen konnte. Schließlich blieb ich stehen, um zum Bungalow hinüberzuspähen. Ich wollte wissen, ob das Glasobjekt, das letzte Nacht in mein Zimmer geleuchtet hatte, noch da war. Es war weg. Aber dann erregte etwas auf der Gartenmauer meine Aufmerksamkeit. Ein Paket. Ich ging näher heran.

»Weseley?«

Er hörte sofort den dringlichen Unterton in meiner Stimme, drehte sich um und sah in die Richtung, in die ich deutete.

»Was ist das?«, fragte er.

Mit raschen Schritten überquerte ich die Straße und inspizierte den Karton. Weseley folgte mir. Das Paket war in braunes Papier gewickelt, und vorne drauf stand mein Name. Und Happy Birthday.

Ich nahm es in die Hand und sah mich um, aber es stand niemand am Fenster, nichts rührte sich hinter den Netzgardinen. Kurz entschlossen riss ich das Papier auf, und ein brauner Schuhkarton kam zum Vorschein. Ich hob den Deckel hoch. In der Schachtel lag ein wunderschönes Glasmobile aus verschieden großen Tränen und Herzen, zusammengehalten mit dünnem, durch winzige Löcher gefädeltem Draht. Ich hob es hoch und hielt es ins Licht. Es glitzerte wunderschön in der Sonne und drehte sich im Wind. Wieder blickte ich zum Haus, winkte und lächelte, um mich zu bedanken.

Aber niemand war da.

»Was zum Teufel …?«, sagte Weseley und betrachtete das Mobile interessiert.

»Es ist ein Geschenk. Für mich.«

»Ich wusste gar nicht, dass du heute Geburtstag hast«, stellte er fest.

»Aber sie schon.«

»Wer? Rosaleens Mutter?«

»Nein.« Ich starrte wieder zum Bungalow. »Die Frau.«

Er schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, mein Leben wäre seltsam. Was ist das denn für eine Frau? Ich hatte keine Ahnung, dass hier außer Mrs Reilly noch jemand wohnt, und meine Eltern wussten auch nichts davon.«

»Ich habe keine Ahnung, wer sie ist.«

»Lass uns doch reingehen und sie kennenlernen, dann kannst du dich auch gleich bedanken.«

»Meinst du?«

Er rollte mit den Augen. »Du hast ein Geschenk bekommen – das ist doch die perfekte Gelegenheit.«

Ich kaute auf der Lippe und starrte zum Haus.

»Es sei denn, du hast Angst.«

Leider hatte er damit nicht ganz unrecht.

»Nein, wir haben momentan wichtigere Dinge zu erledigen«, sagte ich entschieden, ging über die Straße zum Torhaus zurück und lief in den Garten, zur Garage.

»Weißt du, Schwester Ignatius ist ganz wild darauf, dich endlich mal wiederzusehen. Du bist einfach weggerannt und hast ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Uns beiden genau genommen.«

Ich starrte Weseley finster an, während er im Werkzeugkasten nach dem geeigneten Instrument suchte, mit dem wir das Schloss aufbrechen konnten.

»Ich hab gehört, was passiert ist. Alles soweit in Ordnung bei dir?«

»Ja, mir geht’s gut. Aber ich möchte nicht darüber reden«, wehrte ich ab. »Danke«, fügte ich dann aber schnell und etwas freundlicher hinzu.

»Wie ich gehört habe, kriegt dein Freund wohl ziemlichen Ärger.«

»Ich hab doch gesagt, ich möchte nicht darüber reden«, fuhr ich ihn wieder an. »Und er ist nicht mein Freund.«

Er fing an zu lachen. »Na, endlich kannst du nachvollziehen, wie es mir immer geht.«

Trotz allem musste ich grinsen.

Weseley brauchte nicht lange, um das Schloss zu knacken. Im Nu waren wir in der Garage, wo sich mein früheres Leben chaotisch vor mir auftürmte – Sachen aus der Küche im gleichen Stapel wie Sachen aus dem Wohnzimmer, meine Möbel bei den Möbeln aus dem Hobbyraum, Gästezimmerkram unter Badezimmerkram und Handtüchern. Alles passte ungefähr so gut zusammen wie die Gedanken in meinem Kopf. Ledersofas, Plasmafernseher, albern geformte Möbel, die mir jetzt nur billig und seelenlos vorkamen.

Mich interessierte viel mehr, was Arthur und Rosaleen hier versteckt hielten. Als Weseley die Planen am anderen Ende der Garage herunterzog, war ich allerdings ziemlich enttäuscht: noch mehr alte Möbel, angenagt vom Zahn der Zeit, zerfressen von Staubmilben, stinkend nach Mottenkugeln. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – die eine oder andere Leiche vielleicht? Oder eine Gelddruckmaschine, Waffenkisten, ein geheimer Eingang zu Rosaleens Bathöhle? Auf alle Fälle etwas anderes als diesen mottenkugeldurchsetzten, müffelnden Möbelfriedhof.

Langsam ging ich zu meinen Sachen. Weseley folgte mir und stieß beim Wühlen in den Kisten immer wieder ein fasziniertes »Wow« oder »Oh« aus. Als kleine Verschnaufpause von unseren Ermittlungen setzten wir uns nach einer Weile auf unsere ehemalige Wohnzimmercouch und blätterten in meinem Fotoalbum. Weseley lachte herzhaft über die verschiedenen Stadien meiner Pubertät.

»Ist das hier dein Dad?«

»Ja«, antwortete ich lächelnd und schaute in das fröhliche, lebendige Gesicht meines Vaters. Das Foto war beim Tanzen auf der Hochzeit eines Freundes aufgenommen worden – mein Dad hatte immer richtig gern getanzt. Obwohl er überhaupt kein guter Tänzer war.

»Er ist so jung.«

»Ja.«

»Was ist passiert?«

Ich seufzte.

»Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht magst.«

»Nein, es macht mir nichts aus.« Ich schluckte. »Er hat nur … er hat so viele Schulden gemacht, dass er sie nicht mehr zurückzahlen konnte. Er war Bauunternehmer, sehr erfolgreich. Grundstücke überall auf der Welt. Wir wussten nicht, dass er bis zum Hals in Schwierigkeiten steckte. Er hatte gerade angefangen, seinen ganzen Besitz zu Geld zu machen, um seine Schulden zu bezahlen.«

»Und er hat euch nichts von seinen Problemen gesagt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, dafür war er zu stolz. Und er hätte das Gefühl gehabt, dass er uns enttäuscht hat.« Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Dabei hätte es mir nichts ausgemacht, ganz bestimmt nicht«, beteuerte ich, obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, dass ich es zu heftig abstritt. Ich konnte mir nämlich genau vorstellen, was passiert wäre, wenn Dad mir davon erzählt hätte, dass er dabei war, alles zu verkaufen. Es hätte mir sehr wohl etwas ausgemacht – ich hätte gejammert und geklagt. Ich hätte es nicht verstanden, ich hätte nur daran gedacht, wie peinlich mir alles war und was die anderen Leute jetzt von uns denken würden. Ich hätte den Sommer in Marbella vermisst und Silvester in Verbier. Ich hätte Dad angeblafft, ich hätte ihn beschimpft, die Tür hinter mir zugeknallt und wäre wütend in mein Zimmer gestürmt. Habgieriges kleines Biest, das ich war. Aber ich wünschte mir, dass Dad mir wenigstens die Chance gegeben hätte, Verständnis für seine Lage zu entwickeln. Ich wünschte, er hätte mich gezwungen, ihm zuzuhören, er hätte mit mir geredet und wir hätten das Problem gemeinsam gelöst. Wenn wir alle wieder zusammen sein könnten, wäre es mir inzwischen gleichgültig, wo wir wohnen – in einem einzigen Zimmer meinetwegen, in der Schlossruine, wo auch immer.

»Ich würde alles dafür hergeben, um ihn zurückzukriegen«, schniefte ich. »Wir haben alles verloren, und obendrein auch noch ihn. Und wozu? Wahrscheinlich war das Schlimmste für ihn, dass man uns das Haus weggenommen hat. Das hat ihm den Rest gegeben.« Ich betrachtete die Fotos von Dad beim Golfen mit Mum, wie er mit ernstem Gesicht dem Ball nachblickte. »Alles hätten sie ihm nehmen können, aber nicht das Haus.«

Ich blätterte um, und jetzt mussten wir beide lachen. Ich in Disney World, wie ich Mickymaus umarmte, grinsend, mit einer riesigen Zahnlücke.

»Bist du nicht … keine Ahnung … bist du nicht sauer auf deinen Vater? Wenn mein Dad so was tun würde, ich weiß nicht …« Weseley schüttelte den Kopf. Anscheinend konnte er es sich nicht vorstellen.

»Ich war ja auch wütend«, antwortete ich. »Sogar schrecklich wütend, und das ziemlich lange. Aber in den letzten Wochen habe ich angefangen, darüber nachzudenken, was er durchgemacht haben muss. Selbst wenn es mir ganz dreckig geht, würde ich nie auf die Idee kommen, mich umzubringen. Er muss unglaublich unter Druck gestanden und sich absolut elend gefühlt haben. Er hat keinen Ausweg mehr gesehen, er hat sich so hilflos gefühlt, dass er einfach nicht mehr hier sein wollte. Und … na ja, als er tot war, konnte man uns nicht noch mehr wegnehmen. So hat er Mum und mich beschützt.«

»Glaubst du, er hat es für euch getan?«

»Ich glaube, er hatte viele Gründe. Lauter falsche Gründe, aber für ihn haben sie sich wohl richtig angefühlt.«

»Ich finde, du bist sehr tapfer«, sagte Weseley, und ich schaute zu ihm auf und versuchte, nicht zu weinen.

»Ich fühle mich überhaupt nicht tapfer.«

»Bist du aber«, sagte er und sah mir tief in die Augen.

»Ich habe schrecklich viele und schrecklich peinliche Fehler gemacht«, flüsterte ich.

»Das ist in Ordnung. Wir machen alle Fehler«, meinte er und lächelte ein wenig traurig.

»Na ja, ich glaube nicht, dass ich so viele mache wie du«, meinte ich flapsig, in dem Versuch, witzig zu sein und die Stimmung aufzulockern. »Du machst ja anscheinend fast jeden Abend unterschiedliche Fehler mit unterschiedlichen Menschen.«

Er lachte. »Okay, dann schauen wir doch mal, was Rosaleen hier drunter versteckt.«

Aber ich konnte mich nicht von den Fotoalben losreißen, begann ein neues, fand darin meine Babybilder und verlor mich in einer anderen Welt, einer verlorenen Zeit. Im Hintergrund hörte ich, wie Weseley die Dinge kommentierte, die er aufspürte, aber ich achtete nicht auf ihn, sondern betrachtete fasziniert die Bilder von meinem Vater, von meiner Mutter, und staunte, wie glücklich und wunderschön beide aussahen. Dann kam ein Foto von meiner Taufe. Nur Mum und ich, so winzig in ihren Armen, dass man über der weißen Decke nur einen kleinen rosaroten Kopf erkennen konnte.

»O Mann, Tamara, schau dir das mal an!«

Aber ich ignorierte ihn weiter, das Bild war viel interessanter: Mum stand am Taufstein, hielt mich fest im Arm, und auf ihren Lippen lag ein strahlendes Lächeln. Der Fotograf – vermutlich Dad – hatte den Finger ein Stück vor die Linse gehalten, so dass man das Gesicht des Pfarrers nicht sehen konnte. Wie ich Dad kannte, hatte er das absichtlich gemacht. Ich berührte seinen großen, vom Blitzlicht ganz weißen Finger und lachte.

»Tamara, schau dir doch mal das ganze Zeug hier an!«

Auf dem Foto war außer dem halben Pfarrer, meiner Mum und mir noch eine weitere Person, ganz außen am rechten Bildrand. Dank des mangelhaften Talents des Fotografen war sie größtenteils abgeschnitten, aber ihre Hand ruhte auf meinem Kopf. Eine Frauenhand, das sah ich an dem Ring, den sie am Finger trug. Wahrscheinlich Rosaleen. Meine Patentante, die sich anscheinend nie so benehmen konnte wie die Patinnen meiner Freunde – ich bekam von ihr nie wie alle anderen am Geburtstag und anderen Festtagen einen Umschlag mit einer Karte und Geld. Nein, meine Patin wollte Zeit mit mir verbringen. Kotz.

»Tamara.« Jetzt packte Weseley mich am Arm, und ich sprang vor Schreck in die Höhe. »Schau dir das mal an«, sagte er. Als er meine Hand ergriff, durchfuhr ein Prickeln meinen Arm.

Schnell stopfte ich das Taufbild in die Tasche und folgte ihm.

Doch die seltsamen Gefühle für ihn verflogen rasch, während ich mich in dem Teil der Garage umschaute, den Weseley gerade von den schützenden Laken befreit hatte.

»Was soll denn damit sein?«, fragte ich. Warum fand er das Zeug denn so aufregend? Alte Möbel, so unmodern wie es nur ging. Bücher, Schürhaken, Geschirr, verhängte Gemälde, Stoffe, Teppiche, Kaminumrandungen, Kleinkram.

»Was damit sein soll?« Mit großen Augen hüpfte er zwischen den Sachen herum, hob etwas vom Boden auf, enthüllte noch ein paar Ölgemälde von fies aussehenden Kindern mit Kragen bis zu den Ohrläppchen und fetten, unattraktiven Frauen mit großen Brüsten, breiten Handgelenken und dünnen Lippen. »Schau doch, Tamara. Fällt dir denn nichts auf?«

Er schubste eine Teppichrolle um und trat mit dem Fuß dagegen, so dass sie sich auf dem staubigen Fußboden aufrollte.

»Weseley, bring doch nicht alles durcheinander«, blaffte ich ihn an. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, sie sind bestimmt bald zurück.«

»Tamara, jetzt mach doch mal die Augen auf. Schau dir die Initialen an.«

Ich studierte den Teppich, ein fadenscheiniges Teil, das früher vielleicht eher ein Wandbehang als ein Teppich gewesen und überall mit dem Buchstaben K verziert war.

»Und dann noch das hier.« Weseley öffnete eine Kiste mit Geschirr. Auf den Tellern ein K, auf den Tassen ein K, ein K auf Messern und Gabeln. Ein um ein Schwert geschlungener Drache, der aus einem Flammenmeer stieg. Dann fiel mir ein, dass das gleiche Emblem auch auf dem Kamingitter im Wohnzimmer des Torhauses prangte.

»K«, sagte ich vor mich hin. »Ich versteh nicht. Ich …« Kopfschüttelnd sah ich mich in der Garage um, die mir zunächst wie eine Rumpelkammer vorgekommen war und jetzt eine Schatzkammer geworden zu sein schien.

»K steht für …«, sagte Weseley ganz langsam, als wäre ich ein Kind, und sah mich mit angehaltenem Atem an.

»Känguru«, stotterte ich, immer noch begriffsstutzig. »Ich weiß es nicht, Weseley. Ich bin total verwirrt, ich …«

»K steht für Kilsaney«, beantwortete er seine eigene Frage, und ich bekam auf einmal eine Gänsehaut.

»Was? Aber das kann doch nicht sein«, entgegnete ich. »Woher sollten Arthur und Rosaleen dieses ganze Zeug haben?«

»Tja, entweder haben sie es gestohlen …«

»Genau!« Auf einmal ergab alles einen Sinn. Sie waren Diebe – na ja, Arthur vielleicht nicht, aber bei Rosaleen konnte ich es mir sogar sehr gut vorstellen.

»Oder sie lagern die Sachen für die Kilsaneys«, unterbrach Weseley meine Grübelei. »Oder …« Er grinste mich an und wackelte mit den Augenbrauen.

»Oder was?«

»Oder sie sind Kilsaneys.«

Ich schnaubte wegwerfend. Unmöglich. Aber dann lenkte mich etwas Rotes unter einer anderen Teppichrolle ab, die Weseley ebenfalls umgeworfen hatte. »Das Fotoalbum!«, rief ich, denn ich hatte das rote Buch erkannt, das ich in der Woche nach unserer Ankunft im Regal gefunden hatte. »Ich wusste doch, dass ich es mir nicht eingebildet hatte.«

Wir holten es heraus, setzten uns hin und sahen uns die Bilder an, obwohl der Augenblick, in dem Arthur und Rosaleen zurückkommen würden, immer näher rückte. Es waren Kinderbilder, schwarzweiß, teilweise schon ziemlich vergilbt.

»Erkennst du jemanden?«, fragte Weseley gespannt.

Als ich den Kopf schüttelte, blätterte er schneller.

»Warte mal«, unterbrach ich ihn. Jetzt hatte doch ein Bild meine Aufmerksamkeit geweckt. »Geh noch mal zurück.«

Es war ein Foto von zwei Kindern, ein kleines Mädchen und ein etwas älterer Junge, umgeben von Bäumen. Sie standen sich gegenüber, hielten sich an den Händen, und ihre Stirnen berührten sich. Ich musste sofort an Arthurs und Mums groteske Begrüßungszeremonie denken.

»Das sind Arthur und meine Mum«, erklärte ich. »Da ist Mum höchstens fünf Jahre oder so.«

»Und schau dir Arthur an! Der war schon als Kind nicht gerade hübsch«, witzelte Weseley, während er das Bild mit zusammengekniffenen Augen etwas eingehender betrachtete.

»Ach, sei nicht so fies«, lachte ich. »Aber ich hab noch nie ein Kinderbild von Mum gesehen.«

Auf der nächsten Seite war ein Bild, auf dem Mum, Arthur, Rosaleen und noch ein anderer Junge zu sehen waren.

Unwillkürlich schnappte ich nach Luft.

»Deine Mum und Rosaleen haben sich also schon als Kinder gekannt«, stellte Weseley fest. »Wusstest du das?«

»Nein.« Vor Aufregung konnte ich kaum atmen, in meinem Kopf drehte sich alles. »Ich hatte keine Ahnung. Das hat mir nie jemand gesagt.«

»Wer ist der andere Junge?«

»Keine Ahnung.«

»Hat deine Mum noch einen Bruder? Er sieht älter aus.«

»Nein, sie hat keinen Bruder außer Arthur. Jedenfalls hat sie nie einen erwähnt …«

Vorsichtig steckte Weseley die Hand unter die Plastikfolie und zog das Foto heraus.

»Weseley!«

»Wir sind schon so weit gekommen – willst du die Wahrheit nun wissen oder nicht?«

Ich schluckte und nickte.

Weseley drehte das Foto um.

Auf der Rückseite stand: »Artie, Jen, Rose, Laurie. 1979.«

»Dann heißt der ältere Junge anscheinend Laurie«, stellte Weseley fest. »Kommt dir der Name bekannt vor? Tamara, du machst ein Gesicht, als hättest du einen Geist gesehen.«

Und so ähnlich war es auch. Auf dem Grabstein, an dem ich die Blumen niedergelegt hatte, stand »Laurence Kilsaney RIP«.

Auf der Rückfahrt von Dublin hatte Arthur »Rose« zu Rosaleen gesagt.

Im Stamm des Apfelbaums gab es die Inschrift »Laurie und Rose«.

»Das ist der Mann, der bei dem Feuer im Schloss ums Leben gekommen ist. Laurence Kilsaney. Sein Name steht auf einem Grab, das ich auf dem Kilsaney-Friedhof entdeckt habe.«

»Oh.«

Ich starrte auf das Foto der vier Kinder, auf ihre lächelnden, unschuldigen Gesichter. Das Leben lag noch vor ihnen, mit all seinen Möglichkeiten. Mum und Arthur hielten sich an den Händen, Laurence hatte den Arm locker um Rosaleens Schulter gelegt, seine Hand baumelte vor ihrer Brust – überhaupt wirkte seine Haltung sehr selbstbewusst, vielleicht sogar ein wenig eingebildet, wie er da stand, ein Bein lässig vors andere gekreuzt, und mit vorgerecktem Kinn in die Kamera grinste, als hätte er dem Fotografen gerade etwas Freches zugerufen.

»Mum, Arthur und Rosaleen hatten also etwas mit der Kilsaney-Familie zu tun, zumindest mit einem von ihnen«, sprach ich meinen Gedanken laut aus. »Ich wusste nicht mal, dass Mum hier gewohnt hat.«

»Vielleicht hat sie nicht hier gewohnt, sondern nur ihre Ferien verbracht«, warf Weseley ein, während er weiterblätterte. Auf allen Fotos waren diese vier jungen Menschen zu sehen, in verschiedenen Altersstufen, immer dicht beisammen. Manchmal allein, manchmal als Pärchen, aber meistens alle zusammen. Mum war eindeutig die Jüngste, Rosaleen und Arthur im Alter näher zusammen und Laurence der Älteste, immer mit einem breiten Grinsen und einem schelmischen Funkeln in den Augen. Dagegen wirkte Rosaleen schon als junges Mädchen irgendwie »älter« – in ihren Augen schien immer eine gewisse Härte zu schlummern, ihr Lächeln war nie so breit und ungezwungen wie bei den anderen.

»Schau, hier sind sie alle vor dem Torhaus«, rief Weseley und deutete auf ein Bild von den vieren auf der Gartenmauer. An der Umgebung hatte sich nicht viel verändert, nur die Bäume im Garten waren inzwischen deutlich größer und voller geworden. Aber das Tor, die Mauer, das Haus – alles genau wie heute.

»Da ist Mum im Wohnzimmer. So sieht der Kamin heute noch aus.« Ich studierte das Bild intensiv. »Und das Bücherregal ist auch schon da. Schau dir das Schlafzimmer an«, sagte ich atemlos. »In dem wohne ich jetzt. Aber ich verstehe das immer noch nicht ganz. Mum muss tatsächlich hier gewohnt haben, sie ist hier aufgewachsen.«

»Und davon wusstest du nichts?«

»Nein«, antwortete ich kopfschüttelnd und spürte plötzlich, dass ich Kopfschmerzen bekam. Mein Gehirn konnte keine neuen Informationen mehr aufnehmen, es brauchte endlich Antworten. »Ich meine, ich wusste, dass sie auf dem Land gelebt hat, aber … ich kann mich erinnern, dass mein Granddad immer hier war, wenn wir ganz früher, als ich noch klein war, Arthur und Rosaleen besucht haben. Meine Grandma ist gestorben, als Mum noch ein Kind war. Ich dachte, er wäre auch zu Besuch bei Arthur und Rosaleen, aber … meine Güte, was hat das zu bedeuten? Warum haben sie mich alle angelogen?«

»Aber sie haben dich nicht wirklich belogen, oder?«, versuchte Weseley mich zu beschwichtigen. »Sie haben dir nur nicht gesagt, dass sie hier gewohnt haben. Das ist nicht gerade das aufregendste Geheimnis der Welt.«

»Und sie haben mir nicht erzählt, dass sie Rosaleen praktisch schon ihr Leben lang kennen, dass Mum im Torhaus gewohnt und die Kilsaneys gekannt hat. Keine große Sache, klar, aber wenn man es geheim hält, wird es doch gleich viel wichtiger. Warum haben sie denn ein Geheimnis daraus gemacht? Was haben sie mir sonst noch alles verschwiegen?«

Weseley begann wieder zu blättern, als könnte er die Antworten in dem Album finden. »Hey, wenn dein Granddad im Torhaus gewohnt hat, dann war er hier der Gärtner und Grundstücksverwalter. Also Arthurs Vorgänger.«

Auf einmal schoss mir ein überraschendes Bild durch den Kopf. Ich war noch klein, mein Granddad kniete auf dem Boden und buddelte im Schlamm. Ich erinnerte mich an den Dreck unter seinen Fingernägeln und an einen Wurm, der in der Erde herumzappelte, und ich erinnerte mich, wie Granddad ihn packte und vor meiner Nase herumschwenkte. Ich heulte, er lachte, und dann nahm er mich in den Arm. Er roch immer nach Erde und nach Gras. Seine Fingernägel waren immer schmutzig.

»Ich frage mich, ob es auch ein Foto von der Frau gibt«, sagte ich und blätterte weiter.

»Von welcher Frau?«

»Von der Frau im Bungalow, die die Glassachen macht.«

Wir studierten die folgenden Seiten, und mein Herz pochte so laut in meiner Brust, dass ich Angst hatte umzukippen. Noch ein Foto von Rosaleen und Laurence tauchte auf. »Rose und Laurie, 1987.«

»Ich glaube, Rosaleen war in Laurence verliebt«, sagte ich und strich behutsam mit dem Finger über die beiden Gesichter.

»Oh-oh«, meinte Weseley und schlug die nächste Seite auf. »Aber Laurence hat Rosaleen anscheinend nicht zurückgeliebt.«

Als ich das nächste Foto sah, riss ich die Augen auf. Auf dem Bild war Mum, als Teenager, wunderschön mit ihren langen blonden Haaren, dem strahlenden Lächeln, den makellosen Zähnen. Neben ihr war Laurence: Er hatte den Arm um sie gelegt und küsste sie auf die Wange – unter dem Baum mit den vielen geschnitzten Inschriften.

Ich drehte das Foto um, und da stand: »Jen und Laurie, 1989.«

»Vielleicht waren sie ja nur Freunde …«, sagte Weseley langsam.

»Schau sie dir doch an, Weseley.«

Mehr brauchte ich nicht zu sagen, der Rest war deutlich sichtbar, direkt vor unseren Augen. Die beiden waren ineinander verliebt.

Ich dachte daran, was Mum mir an dem Tag gesagt hatte, als ich aus dem Rosengarten zurückkam und gerade Schwester Ignatius kennengelernt hatte. Ich hatte geglaubt, sie würde verschwommen sprechen und wollte mir sagen, ich wäre hübscher als eine Rose. Aber was, wenn sie genau das gemeint hatte, was ich zuerst verstanden hatte, nämlich »Du bist hübscher als Rose«?

Und ein Stück von den beiden entfernt, ganz am Rand des Fotos, saß Rosaleen auf einer karierten Decke, neben sich einen Picknickkorb, und starrte mit kaltem Blick in die Kamera.