Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit uns noch bis zur Rückkehr von Mum, Rosaleen und Arthur blieb – falls Mum überhaupt mit den beiden wiederkam –, aber inzwischen hatte ich alle Sorgen vor dem Entdecktwerden in den Wind geschlagen. Ich hatte genug von der ganzen Geheimnistuerei, ich war es müde, auf Zehenspitzen herumzuschleichen und in irgendwelchen dunklen Ecken nach Hinweisen zu suchen, wenn ich mich unbeobachtet glaubte. Weseley stärkte mir tatkräftig den Rücken und begleitete mich über die Straße zum Bungalow. Noch nie in meinem ganzen Leben war ich jemandem wie Weseley begegnet, der so viel riskierte, um mir zu helfen, und mich so vorbehaltlos unterstützte. Plötzlich fiel mir Schwester Ignatius ein, und gleich tat mir wieder das Herz weh, weil ich sie im Stich gelassen hatte. Ich musste sie bald besuchen. Sie hatte mir geschworen, dass sie mir immer die Wahrheit sagen würde. Und sie wusste etwas, ganz eindeutig. Leider begriff ich erst jetzt, dass sie mich damals praktisch aufgefordert hatte, ihr Fragen zu stellen. Schade, dass mir das nicht schon früher klargeworden war.
Weseley führte mich den Seitenweg entlang, ich folgte ihm mit zittrigen Knien und hoffte, dass ich vor lauter Aufregung nicht doch noch schlappmachen würde. Das Wetter war umgeschlagen, der Wind hatte deutlich aufgefrischt. Es war gerade erst Mittag, aber der Himmel war dunkel geworden, bedeckt mit dicken grauen Wolken – wie buschige Augenbrauen, unter denen er mich besorgt beobachtete.
»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Weseley, als wir das Ende des Wegs erreichten.
»Das sind die Mobiles«, flüsterte ich. »Die klimpern im Wind.«
Tatsächlich war das Geräusch beunruhigend, denn es klang nicht mehr wie das freundliche Gebimmel eines Glockenspiels, sondern eher, als drohte das Glas zu zerspringen, wenn die kleinen Einzelteile der Mobiles vom Wind gegeneinandergeschleudert wurden. Und da es so viele waren, hörte sich das Ganze richtig bedrohlich an.
»Ich möchte mir das mal aus der Nähe anschauen«, sagte Weseley, als wir den Garten betraten. »Du wirst das schaffen, Tamara, ganz sicher. Sag der Frau einfach, dass du dich bedanken möchtest, und je nachdem, wie sie reagiert, kannst du dann weitersehen. Vielleicht erzählt sie dir sogar von sich aus mehr.«
Trotzdem war ich nervös, als ich ihm nachblickte, wie er sich über die Wiese von mir entfernte, am Schuppen vorbei, und schließlich zwischen den Mobiles verschwand.
Ich wandte mich zum Haus um und spähte durchs Küchenfenster. Die Küche war leer. Also klopfte ich leise an die Hintertür und wartete. Keine Antwort. Obwohl ich mich ermahnte, nicht hysterisch zu werden, zitterten meine Hände, als ich versuchte, die Klinke herunterzudrücken. Die Tür war unverschlossen. Vorsichtig zog ich sie einen Spalt weit auf und lugte hinein. Ein schmaler Flur, der ein Stück weiter nach rechts abbog. Drei Türen konnte ich erkennen, alle verschlossen, eine rechts, zwei links. Die erste auf der linken Seite führte in die Küche, und ich wusste ja schon, dass dort niemand war. Auf Zehenspitzen betrat ich das Haus, ließ die Tür aber offen, um mich nicht so gefangen zu fühlen – oder wie eine Einbrecherin –, doch der Wind war so stark, dass sie krachend hinter mir ins Schloss fiel. Ich zuckte zusammen, redete mir aber gut zu, dass es albern war, Angst zu haben – weder Rosaleens Mutter noch die Gestalt, die ich im Schuppen beobachtet hatte, waren darauf aus, mir etwas anzutun. Als sich auf mein Klopfen an der Tür rechts von mir nichts rührte, machte ich sie vorsichtig auf. Sie führte in ein Schlafzimmer, offensichtlich das einer alten Frau. Es roch feucht, nach Talkumpuder und Desinfektionsmittel. An der Wand war ein altes dunkles Holzbett mit einer geblümten Tagesdecke. Darunter, auf dem taubenblauen Teppichboden, der allem Anschein nach schon unzählige Male gereinigt und aufgefrischt worden war, standen ordentlich aufgereiht die Hausschuhe. Außerdem gab es einen Kleiderschrank, der wahrscheinlich die gesamte Garderobe der hier wohnenden Frau enthielt. Gleich neben der Tür entdeckte ich noch eine kleine Frisierkommode mit einem angelaufenen Spiegel, einer Haarbürste, einigen Medikamenten, einem Rosenkranz und einer Bibel, auch hier alles säuberlich in Reih und Glied. Gegenüber vom Bett war das Fenster, aus dem man in den Garten sah. Sonst war der Raum leer.
Behutsam schloss ich die Tür und ging weiter den Flur entlang. Der Boden war mit einer Plastikmatte bedeckt, als müsste er geschont werden, was beim Drübergehen ein seltsames Kratzgeräusch hervorrief, und ich wunderte mich, dass niemand auf mich aufmerksam wurde. Es sei denn, die Frau war wieder im Schuppen. Aber dann würde sie bestimmt Weseley sehen. Einen Moment erstarrte ich und wäre um ein Haar zurück nach draußen gelaufen, aber jetzt war ich schon so weit gekommen, ich konnte nicht mehr zurück. Schließlich erreichte ich die Stelle, wo der Flur nach rechts abknickte. Ganz hinten gab es noch eine Tür zum Fernsehzimmer, das ich ja schon durchs Fenster gesehen hatte. Da der Fernseher so laut lief, dass ich das Ticken der Uhr von Countdown hören konnte, saß dort vermutlich Rosaleens Mutter, und so neugierig ich auch auf sie war, hatte ich heute nicht das Bedürfnis, mich ihr vorzustellen. Ich hatte Dringenderes zu erledigen. Richtung Haustür war eine kleine Diele und links von mir ein weiteres Zimmer, vermutlich das zweite Schlafzimmer.
Ich klopfte so leise, dass ich es beim ersten Mal nicht mal selbst hörte – meine Fingerknöchel streiften das dunkle Holz nur leicht wie eine Feder. Doch beim zweiten Mal setzte ich etwas mehr Kraft ein und wartete dann ziemlich lange auf eine Reaktion. Aber nichts rührte sich.
Ich drehte den Türknauf. Auch diese Tür war unverschlossen und ging sofort auf.
In meiner hyperaktiven Phantasie hatte ich mir alles Mögliche ausgemalt, was hinter Rosaleens Geheimnissen stecken könnte, aber in der Realität hatten meine Entdeckungen mich jedes Mal enttäuscht. Was wir in der Garage gefunden hatten, war zwar interessant gewesen, und die Geheimniskrämerei um Arthurs und Mums langjährige Freundschaft mit Rosaleen tat mir zwar weh, aber es entsprach bei weitem nicht den dramatischen Szenarien, die ich mir ausgemalt hatte. Rosaleens Besuche im Bungalow hatten sich durch ihre kranke Mutter erklärt, die vermeintlichen Leichen in der Garage waren einfach nur die aus dem Schloss geräumten alten Sachen. Klar, das war aufregend, aber wenn ich es mit der Anspannung verglich, die Rosaleen oft verbreitete, auch etwas ernüchternd. Es wollte alles nicht so recht damit zusammenpassen, wie wichtig es ihr zu sein schien, ihre Geheimnisse zu bewahren.
Doch diesmal wurde ich nicht enttäuscht.
Diesmal wäre mir ein Siebziger-Jahre-Teppichboden, dunkle Holzverkleidung, ein feuchter Geruch und ein schlechteingerichtetes Schlafzimmer viel lieber gewesen. Denn was ich sah, schockierte mich so, dass ich wie versteinert stehen blieb und mit offenem Mund nach Luft schnappte.
Alle Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bildern gepflastert, mit Fotos von mir. Ich als Baby, ich bei der Erstkommunion, ich etwa dreijährig bei einem Besuch im Torhaus, ich mit vier, mit fünf, mit sechs Jahren. Ich bei meinen Schulaufführungen, bei meinen Geburtstagspartys und anderen Festen, als Blumenkind bei der Hochzeit einer Freundin von Mum, als Hexe verkleidet an Halloween. Eine Zeichnung, die ich in der ersten Klasse angefertigt hatte. Es gab sogar ein Foto von letzter Woche, auf dem ich auf der Mauer vor dem Torhaus saß, mit den Beinen baumelte und in die Sonne blinzelte. Außerdem ein Foto von mir und Marcus, als er das erste Mal zum Haus gekommen war, und an einem anderen Tag, wie wir in den Bus stiegen. Ein Foto von dem Morgen, als Mum, Barbara und ich im Torhaus eingetroffen waren. Ich mit schätzungsweise acht Jahren, auf der Straße zum Schloss, offenbar gelangweilt. Bestimmt unterhielt sich meine Mutter gerade bei Eiersandwiches und starkem Tee endlos mit Arthur und Rosaleen. Ein Foto von mir vor zwei Wochen, wie ich die Blumen auf Laurence Kilsaneys Grab legte. Wie ich zum Schloss spazierte. Fotos von mir mit Schwester Ignatius, wie ich mit ihr umherwanderte, beim Reden, beim Faulenzen im Gras, eins von mir im Schloss, an dem Morgen, als ich den Tagebucheintrag entdeckt hatte, mit geschlossenen Augen auf der Treppe, das Gesicht der Sonne zugewandt. Also war mein Gefühl, dass ich beobachtet wurde, doch richtig gewesen. Ich hatte es ja sogar aufgeschrieben. Die Fotos waren wie eine lückenlose Geschichte meines Lebens, Szenen, die ich längst vergessen hatte und von denen ich teilweise nicht gewusst hatte, dass sie auf Zelluloid gebannt worden waren.
In der Ecke des Zimmers stand ein schmales Bett, zerwühlt, unordentlich. Daneben ein kleines Schränkchen, vollgestellt mit lauter Pillenfläschchen. Doch ehe ich mich wieder zum Gehen wandte, fiel mir noch ein bekanntes Bild ins Auge. Rasch ging ich zur gegenüberliegenden Wand, holte unterwegs das inzwischen ziemlich zerknitterte Tauffoto aus meiner Tasche und hielt es neben das andere. Sie waren fast identisch, obwohl das an der Wand schärfer war. Hier verdeckte kein Finger die halbe Linse, und das Gesicht des Pfarrers war deutlich zu erkennen, daneben Mum mit mir auf dem Arm. Auf meinem rosa Kopf die Hand mit dem Ring. Außerdem war auch der Bildausschnitt viel größer als auf dem Foto, das ich in dem Album gefunden hatte. Es war auf den Ring gezoomt, so dass dieser ganz klar im Mittelpunkt zu sehen war, ebenso wie die Person, der er gehörte.
Schwester Ignatius.
Darunter war ein weiteres Bild von meiner Taufe: Meine Mutter, wie sie mich über das Becken hielt und der Pfarrer mir Wasser auf den Kopf träufelte. Jetzt erkannte ich auch das Becken – es war das in der Kapelle, in dem jetzt Staub und Spinnen die Herrschaft übernommen hatten. Neben diesem Foto hing noch eines von meiner Mutter, diesmal mit erhitztem Gesicht, im Bett, nasse Haarsträhnen in der Stirn, und in den Armen ein neugeborenes Baby – mich. Dann ein Foto, auf dem Schwester Ignatius mich hielt, ebenfalls als Neugeborenes.
Außerdem bin ich mehr als ›nur eine Nonne‹, wie du dich ausdrückst. Ich habe auch noch eine Ausbildung als Hebamme. Das hatte sie mir erst vor ein paar Tagen erzählt.
»O mein Gott«, stieß ich zitternd hervor, und auf einmal spürte ich, wie meine Knie tatsächlich unter mir nachgaben. Ich streckte die Hand aus, aber es gab nichts, woran ich mich festhalten konnte, nur die ganzen Fotos von mir selbst an der Wand, nach denen meine Finger unwillkürlich griffen und das nächstbeste mit zu Boden rissen. Aber ich wurde nicht ohnmächtig, ich hatte einfach nicht mehr die Kraft zu stehen. Und ich wollte nur noch weg von hier. So saß ich auf dem Boden, legte den Kopf zwischen die Knie, atmete langsam aus und ein und versuchte mich zu erholen.
»Du hattest Glück«, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. »Normalerweise ist die Tür verschlossen. Nicht mal ich hab das hier jemals gesehen. Er ist fleißig gewesen.«
Als ich aufblickte, sah ich Rosaleen in der Tür stehen, lässig an den Rahmen gelehnt, die Arme hinter dem Rücken. Und scheinbar vollkommen ruhig.
»Rosaleen«, stieß ich hervor. »Was soll das alles hier?«
Sie lachte leise. »Ach Kind, das weißt du doch längst. Tu nicht so, als hättest du nicht genügend herumgeschnüffelt.« Mit kalten Augen musterte sie mich.
Ich zuckte nervös mit den Achseln, und mir war klar, dass man mir mein schlechtes Gewissen nur allzu deutlich ansah.
Im nächsten Moment warf Rosaleen mir mit einer schnellen Bewegung etwas zu.
Es waren die Umschläge, die ich heute Morgen eingesteckt und dann in der Küche liegen gelassen hatte, als ich die Tabletten in Rosaleens Schürzentasche fand. Doch dann landete noch etwas mit einem dumpfen Schlag neben mir auf dem Teppichboden, und diesmal wusste ich sofort, was es war. Ich streckte die Hand nach dem Tagebuch aus und fummelte an dem Schloss herum, denn ich wollte sehen, ob die verbrannten Seiten noch da waren. Vielleicht hatte ich es ja geschafft, den Gang der Ereignisse zu verändern. Aber meine Frage wurde beantwortet, ehe ich selbst Zeit hatte, es herauszufinden.
»Damit, dass du die Seiten verbrannt hast, hast du mir den ganzen Spaß verdorben«, sagte Rosaleen mit einem sonderbar schiefen Grinsen. »Arthur und deine Mutter sind drüben im Haus. Wahrscheinlich hätte ich sie nicht allein lassen sollen …« Sie schaute aus dem Fenster und kaute nachdenklich auf der Unterlippe. Auf einmal erschien sie mir so verletzlich – meine liebe Tante, die sich bemühte, die Last der Welt allein auf ihren schmalen Schultern zu tragen. Fast hätte ich ihr die Hand hingestreckt, aber als sie sich mir wieder zuwandte, waren ihre Augen kalt. »Aber ich musste leider, denn ich wusste ja, dass du hier sein würdest. Nachher habe ich noch einen Termin bei Garda Murphy. Du weißt wahrscheinlich nicht, warum – oder?«
Ich schluckte schwer und schüttelte langsam den Kopf.
»Du bist eine schlechte Lügnerin«, stellte sie leise fest. »Genau wie deine Mutter.«
»Wag es nicht, so über meine Mutter zu sprechen!« Meine Stimme bebte.
»Ich wollte ihr nur helfen, Tamara«, sagte sie. »Sie konnte nicht schlafen, sie hat sich gequält. Die ganze Zeit hat sie die Vergangenheit in ihrem Kopf herumgewälzt und jedes Mal tausend Fragen gestellt, wenn ich ihr das Essen gebracht habe …« Jetzt redete sie nicht mehr mit mir, sondern mit sich selbst, beinahe dringlich, so, als versuche sie, sich von etwas zu überzeugen. »Ich hab es nur für sie getan. Nicht für mich. Und sie hat auch kaum was gegessen, also hat sie auch nicht viel davon abgekriegt. Ja, ich hab’s für sie getan.«
Mit gerunzelter Stirn hörte ich ihr zu, unsicher, ob es nicht besser war, sie zu unterbrechen. Während sie noch ganz in Gedanken versunken schien, griff ich nach den Briefen. Auf dem ersten stand die Adresse:
Arthur Kilsaney
Torhaus
Schloss Kilsaney
Kilsaney,
Meath
Der nächste Umschlag war gleich adressiert, aber sowohl an Arthur als auch an Rosaleen.
»Aber …« Verwundert schaute ich von einem Umschlag zum anderen. »Aber … ich …«
»Aber, aber, aber«, äffte Rosaleen mich nach, und ich bekam wieder eine Gänsehaut.
»Arthurs Nachname ist doch Byrne. Genau wie der von Mum«, sagte ich, und meine Stimme klang sogar in meinen eigenen Ohren furchtbar schrill.
Rosaleens Augen wurden groß, und sie lächelte. »So, so. Dann war das Kätzchen ja doch nicht ganz so neugierig, wie ich dachte.«
Ich nahm alle meine Energie zusammen und schaffte es aufzustehen. Rosaleen straffte die Schultern, hielt aber weiterhin einen Arm hinter dem Rücken versteckt.
Ratlos schaute ich auf die Briefe. Ich begriff einfach nicht, was das alles sollte.
»Mum ist keine Kilsaney. Sie heißt Byrne.«
»Stimmt. Sie ist keine Kilsaney und war auch nie eine Kilsaney. Aber sie wäre immer gern eine Kilsaney gewesen.« Sie musterte mich durchdringend. »Ihr ging es nur um den Namen. Sie wollte immer das, was ihr nicht gehörte, diese kleine Hexe«, stieß sie hervor. »Sie war ein bisschen wie du, ist immer genau dort aufgetaucht, wo man sie nicht haben wollte.«
Mir blieb der Mund offen stehen. »Rosaleen«, sagte ich leise. »Was … was ist denn los mit dir?«
»Was mit mir los ist? Gar nichts ist mit mir los. Ich hab nur die ganzen letzten Wochen gekocht und geputzt, hab mich um alle gekümmert, alles zusammengehalten, wie üblich, und das für zwei undankbare kleine …« – ihre Augen wurden weit, und dann riss sie den Mund auf und brüllte so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste – »… LÜGNERINNEN!«
»Rosaleen«, rief ich entsetzt. »Hör auf! Was ist denn in dich gefahren?« Inzwischen hatte ich angefangen zu weinen. »Ich weiß wirklich nicht, was du meinst!«
»O doch, mein Kind«, zischte sie.
»Ich bin kein Kind, ich bin kein Kind, ich bin kein Kind!«, schrie ich, und die Worte, die ich im Kopf dauernd wiederholt hatte, kamen mit jedem Atemzug ein Stückchen lauter heraus.
»Natürlich bist du ein Kind! Und du hättest MEIN KIND sein sollen!«, kreischte sie. »Sie hat dich mir weggenommen! Du hättest mir gehören sollen. Genau wie er. Er hat mir gehört! Sie hat ihn mir weggenommen!« Dann sackte sie plötzlich in sich zusammen, als wäre ihre ganze Energie verpufft.
Ich schwieg und dachte angestrengt nach. Laurence Kilsaney konnte sie nicht meinen, denn er war ja gestorben, bevor ich auf die Welt gekommen war, nein, es musste jemand anderes sein …
»Mein Dad«, flüsterte ich. »Du warst in meinen Dad verliebt.«
Sie blickte zu mir auf, und in ihrem Gesicht war ein solcher Schmerz, dass ich beinahe wieder Mitgefühl mit ihr bekam.
»Deshalb ist Dad nie mitgefahren, wenn Mum euch hier besucht hat. Deshalb ist er immer in Dublin geblieben. Zwischen euch ist irgendwann früher etwas passiert.«
Auf einmal entspannte sich Rosaleens Gesicht, und sie begann zu lachen, leise zuerst, doch dann warf sie den Kopf zurück, und nun lachte sie aus vollem Hals.
»George Goodwin? Du machst Witze! George Goodwin war schon immer ein Loser, seit dem Augenblick, als er in seiner kleinen Angeberkutsche hier aufgetaucht ist, zusammen mit seinem ebenso aufgeblasenen Vater. Die wollten das Haus kaufen. ›Würde ein tolles Hotel abgeben, ein super Wellness-Center‹«, äffte sie ihn nach, und auf einmal sah ich meinen Dad vor mir, ich konnte mir genau den Tonfall vorstellen, in dem er das gesagt hatte, als er in seinem Nadelstreifenanzug mit Granddad Timothy hier vorgefahren war. Für die Leute, die ihr Schloss und ihr Land erhalten wollten, musste er so etwas wie der Wolf im Schafspelz gewesen sein, der zwar freundlich tat, aber im Grunde nur auf den roten Knopf drücken und die Bulldozer anrücken lassen wollte, um die alte Ruine dem Erdboden gleichzumachen. »Er musste alles haben, natürlich auch deine Mutter, und es war ihm egal, dass sie schon ein Kind hatte. Aber dass er deine Mutter und dich hier weggeholt hat, war das Beste, was er je getan hat. Nein, eigentlich war das Beste, dass er sein Leben freiwillig beendet hat, damit diese elenden Schlipsträger sich nicht auch noch dieses Grundstück unter den Nagel reißen konnten. Das war das Beste und das einzig Sinnvolle, was George Goodwin jemals fertiggebracht hat. Und das wusste er auch. Ich wette, er wusste es in dem Moment, als er den ersten Schluck Whisk–«
»HALT DEN MUND!«, unterbrach ich sie. »HÖR AUF!« Ich stürzte mich auf sie, wollte sie schlagen, ohrfeigen, ihr den Mund zuhalten, irgendwas, damit sie diese widerlichen Lügen nicht mehr erzählen konnte, diese gemeinen dreckigen Lügen. Aber sie war schneller als ich. Und ihre Arme, die jeden Tag Teig kneteten und ausrollten, die das Bio-Gemüsebeet umgruben und dreimal pro Tag schwerbeladene Tabletts die Treppe hinauf- und wieder hinunterschleppten, waren außerordentlich gut trainiert. Sie schubste mich nur einmal, aber mir verschlug es den Atem, als hätte sie mir den Brustkorb zerschmettert. Hilflos taumelte ich zurück, schlug mit dem Kopf gegen die Ecke des Schränkchens, stürzte zu Boden und blieb nach Luft schnappend liegen. Tränen liefen mir übers Gesicht, ich konnte nicht richtig sehen und schmeckte Blut im Mund. Woher kam das? Ich hatte mir doch den Kopf gestoßen. Verzweifelt versuchte ich aufzustehen, war aber so desorientiert, dass ich nicht mal mehr wusste, wo die Tür war.
Nach einiger Zeit – ich weiß nicht, wie lang – konnte ich Rosaleen wieder einigermaßen sehen, zwar immer noch ein verschwommenes Nebelbild, aber hinter ihr war eindeutig der Ausgang. Mein Kopf schwirrte, ich setzte mich trotzdem auf. Als ich meine Beule betastete, hatte ich Blut an den Fingern.
»Na, na«, sagte Rosaleen sanft. »Warum hast du das denn gemacht, Kind? Warum hast du mich so weit gebracht? Jetzt müssen wir uns überlegen, was wir den anderen sagen«, fuhr sie fort. »So können wir dich nicht zurückgehen lassen, auf gar keinen Fall. Nicht, nachdem du all das hier gesehen hast. Nein, nein. Ich muss nachdenken. Ich muss erst mal nachdenken.«
Ich wollte etwas sagen, brachte aber nur ein unzusammenhängendes Gemurmel zustande. Meine Gedanken rasten. Wie konnte Rosaleen behaupten, mein Dad hätte mich und meine Mum von hier weggeholt und dass ich zu diesem Zeitpunkt schon auf der Welt gewesen war? Das war doch unmöglich. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Meine Eltern hatten sich bei einem Bankett kennengelernt, bei einem schicken Dinner mit einer Menge Leuten, und als Dad meine Mum entdeckte, wusste er sofort, dass er sie haben musste. Das hatte er mir selbst erzählt, immer wieder. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Und eine Weile später hatten sie dann mich bekommen. Vielleicht hatte ich irgendwas nicht richtig verstanden, aber vielleicht hatte Rosaleen diese Geschichte auch nur erfunden. Ich hatte solche Kopfschmerzen, ich war so müde, und meine Augenlider waren so schwer, dass ich sie schließen musste. Auf einmal wurde mir bewusst, dass Rosaleen mit jemandem redete. Aber nicht mit mir. Sie sah auf den Flur hinaus und machte einen etwas ängstlichen Eindruck.
»Oh«, sagte sie gerade und hatte auf einmal wieder ihr übliches dünnes schüchternes Stimmchen. »Ich hab dich gar nicht kommen hören. Ich dachte, du bist in der Werkstatt.«
Die Frau, die die Glassachen machte! Wenn ich um Hilfe rief, würde sie mich vielleicht retten. Aber dann hörte ich eine Männerstimme. Es war nicht Arthur. Und auch nicht Weseley – oh, wo war Weseley überhaupt geblieben? War er verletzt? Er war auf die Glaswiese gegangen. Das ganze Glas dort war gefährlich. Fast jede Nacht hatte ich Albträume, in denen das Glas vorkam. In denen die Mobiles im Wind zerschellten und die Scherben mir in die Haut schnitten, mich kratzten und stachen, während ich die Wiese auf und ab rannte und zu fliehen versuchte. Immer hatte die Frau mich dabei beobachtet. Doch wo war diese Frau jetzt?
»Warum gehst du nicht schon mal in die Küche, und ich mache dir eine Tasse Tee?«, schlug Rosaleen in einschmeichelndem Ton vor. »Wäre das nicht schön? Was meinst du? Wie lange stehst du denn da schon? Sie hat sich auf mich gestürzt, ich musste mich verteidigen. Aber ich bringe sie gleich ins Haus zurück.«
Die Männerstimme antwortete etwas, und ich hörte das Geräusch von Schritten auf der sonderbaren Plastikmatte. Ein Schritt, dann ein Schleifen, ein Schritt, ein Schleifen.
Mühsam richtete ich mich wieder zum Sitzen auf, hielt mich am Bett fest und versuchte mich daran hochzuziehen. Rosaleen war so mit dem Mann beschäftigt, dass sie nicht auf mich achtete. Ich verstand nicht, was sie sagten, aber Rosaleens Stimme wurde immer härter und verlor ihre nervöse Süßlichkeit. Es war wieder die Rosaleen von vorhin. Eine Besessene.
»Besitzergreifend.« Bei unserem Gespräch damals hatte Schwester Ignatius sich meine Charakterisierung Rosaleens lange durch den Kopf gehen lassen. »Das ist eine interessante Wortwahl.«
»Lässt du mich deswegen nie in das Zimmer? Sollte ich es auf diese Weise herausfinden? Das ist nicht in Ordnung, finde ich.«
Wieder die Männerstimme, gefolgt erneut von einem Stampfen und einem Nachschleppen.
»Und was ist das?« Endlich zog sie den Arm hinter ihrem Rücken hervor und zückte das Glasmobile, das ich geschenkt bekommen hatte. Ich wollte ihr zurufen, dass es mir gehörte, aber gegen das Chaos auf dem Korridor kam ich nicht an.
»Das gehörte nicht zu unserer Abmachung, Laurie. Ich hab dich immer gern mit dem Glas herumspielen lassen, weil es dir so viel Freude macht, ich dachte, das Feuer und das Glas würden dich vielleicht heilen nach … na ja, nach alldem, was du durchgemacht hast, aber diesmal bist du eindeutig zu weit gegangen. Du hast alles kaputtgemacht, alles. Jetzt müssen wir umdenken, daran führt kein Weg vorbei.«
Laurie. Laurence Kilsaney RIP.
Mich fröstelte. Bestimmt bildete Rosaleen sich diesen Mann nur ein. Vielleicht sah sie Gespenster. Aber nein, das konnte nicht sein, ich hörte die Stimme ja auch.
Der wütende Wortwechsel ging weiter, und auf einmal schleuderte Rosaleen das Glasmobile mit einer blitzschnellen Bewegung auf den Korridor hinaus. Ich hörte einen Schrei, sah, wie Rosaleen sich auf den Mann stürzen wollte, aber in diesem Moment traf sie ein Schlag von einem Krückstock, und sie taumelte rückwärts gegen die Wand. Voller Angst sah sie den Mann an, und auch ich machte mich in meiner Ecke möglichst klein, zog die Knie eng an mich und rollte mich schützend zusammen. Ich wollte weg, nur weg, aber ich konnte mich einfach nicht von der Stelle rühren.
»Rose?«, hörte ich in diesem Moment eine Frau rufen.
»Ja, Mammy«, antwortete Rosaleen mit zitternder Stimme und rappelte sich mühsam auf. »Ich komme, Mammy.« Mit einem letzten Blick auf den Mann rannte sie den Korridor hinunter zum Fernsehzimmer.
Und dann erschien der Mann vor mir in der Tür. Ich hatte mich auf einiges gefasst gemacht, konnte aber nicht verhindern, dass mir ein leiser Schrei entfuhr, als ich ihn erblickte. Unter langen strähnigen Haaren starrte mir ein völlig entstelltes Gesicht entgegen. Eine Seite sah aus, als wäre sie geschmolzen, als hätte jemand daran herumgezerrt und anschließend die Haut nicht richtig wieder drübergelegt. Hastig hob der Mann die Hand zum Haaransatz und versuchte, sein Gesicht zu verstecken, doch es war keine Hand, die bei der Bewegung unter dem langen Ärmel zum Vorschein kam, sondern nur ein Stumpf. Offensichtlich war die ganze linke Körperseite Opfer der Flammen geworden, denn auch die linke Schulter war nach unten verrutscht, wie Wachs, das an einer Kerze herunterläuft. Eines seiner großen blauen Augen war eingebettet in weiche, glatte Haut, das andere schien aus seiner Höhle zu quellen, so dass man den weißen Augapfel und das Gewebe darunter erkennen konnte. Langsam kam er auf mich zu, und ich begann zu weinen.
In diesem Augenblick hörte ich die Hintertür aufgehen, und ein Windstoß fegte herein. Wieder näherten sich Schritte über die Plastikplane, und der Mann, den Rosaleen Laurie genannt hatte, wandte sich ängstlich um.
»Lassen Sie sie in Ruhe!«, rief eine Stimme, und Laurie hob die Hände, erschrocken, traurig, bestürzt. Weseley stürmte herein, und als er mich entdeckte, wurde sein Gesicht noch wütender. Wahrscheinlich sah ich ziemlich mitgenommen aus, denn er stürzte sich ohne Zögern auf Laurie, schubste ihn gegen die Wand und legte ihm die Hände um den Hals.
»Was haben Sie mit ihr gemacht?«, knurrte er.
»Lass ihn«, hörte ich mich heiser flüstern. Meine Stimme wollte mir nicht gehorchen.
»Tamara, mach, dass du hier rauskommst«, befahl Weseley. Sein Gesicht war puterrot, im Nacken traten vor Anstrengung die Sehnen hervor.
Ich weiß nicht, wie, aber auf einmal kam ich wieder auf die Beine, packte das Tagebuch, zwang mich, das Zimmer zu durchqueren, und schaffte es sogar, eine Hand beschwichtigend auf die von Weseley zu legen. Tatsächlich ließ er Laurie los, ergriff stattdessen meinen Arm und zog mich aus dem Zimmer. Dann drehte er sich noch einmal um und schubste Laurie in den Raum zurück, schloss die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Tasche, ohne auf die Rufe des Eingeschlossenen zu achten.